Ein kleiner Kreis von Holocaust- und Genozidforschern bemüht sich unermüdlich vor den UN, in der Presse und den sozialen Medien, Israel mit verzerrenden historischen Analogien und einseitigen Darstellungen einen Genozid an den Palästinensern im Gaza-Streifen anzuhängen.
Von Verena Buser
Zuerst erschienen in: Jungle World v. 02.01.2025
Die antiisraelische Propagandamaschinerie wirft unermüdlich Genozid-Behauptungen aus. So veröffentlichte Amnesty International kürzlich den Report »›You feel like you are subhuman‹ – Israel’s Genocide against Palestinians in Gaza«. Der Bericht reiht sich ein in eine Reihe von Genozid-Vorwürfen gegen Israel, an der auch die deutsche Presse teilhat. Vorzugsweise dürfen dort Holocaustforscher wie Omer Bartov, Amos Goldberg und Raz Segal zu Wort kommen. Letzterer ist bereits seit Oktober 2023 – unmittelbar nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober und zum Teil noch Wochen bevor die israelische Bodenoffensive startete – unermüdlich dabei, einen Genozid in Gaza zu attestieren.
Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass der Genozid-Vorwurf gegen Israel alles andere als neu ist. Bereits im Zuge des Sechstagekriegs 1967 und der darauf folgenden Besatzung des Gaza-Streifens, des Westjordanlandes und Ost-Jerusalems fand er vor allem durch die antizionistischen Kampagnen der Sowjetunion Verbreitung. Auch 1982, während des Libanon-Kriegs, bemühte etwa der damalige PLO-Führer Yassir Arafat den Vorwurf des Genozids. Seitdem wird dieser bei jeder militärischen Auseinandersetzung Israels mit seinen Feinden gebetsmühlenartig wiederholt, ohne dass der Nachweis der Absicht, der erforderlich ist, um von einem Genozid zu sprechen, erbracht wird.
Allerdings lässt sich seit dem 7. Oktober 2023 eine neue Dimension beobachten. Vermehrt werden Aussagen von Holocaust- und Genozidforschern bemüht, um dem Vorwurf des Genozids in Gaza wissenschaftliche Autorität zu verleihen. Die von diesen zumeist in der »Ich«- oder »Ich als … «-Perspektive geäußerten Meinungsbeiträge werden dabei angesehen, als ob sie Faktisches berichteten, und, wie der Report von Amnesty International nun zeigt, unkritisch übernommen.
Bereits Mitte Oktober 2023 attestierte Segal, Historiker an der Stockton University in New Jersey, Israel einen »Völkermord nach Lehrbuch«. Ihm gleich taten es in den kommenden Wochen und Monaten Akademiker wie der Soziologe Martin Shaw, der in seiner Forschung die These vertritt, bereits die Vertreibungen und die Flucht von Palästinensern im Zuge der Staatsgründung Israels (die von Palästinensern als Nakba bezeichnet wird) im Mai 1948 hätten den Tatbestand des Völkermords erfüllt. Zum Kreis dieser Vertreter der Holocaust- und Genozidforschung gehören auch der Genozidforscher A. Dirk Moses, die Holocaustforscher Omer Bartov und Amos Goldberg sowie der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg.
Sie alle empfanden sich als mit der nötigen Kompetenz ausgestattet, um das Agieren der israelischen Armee in Gaza als Genozid qualifizieren zu können.
Postkoloniale »Kontextualisierungen«
Hingegen bemühen sich dieselben Forscher, wenn es um die Taten der Hamas am 7. Oktober geht, um Relativierung durch »Kontextualisierung«. Der Berliner Zeitung etwa gab Bartov wenige Tage nach dem 7. Oktober unter dem Titel »Netanjahu hat den Wind gesät, den Israel als Sturm ernten musste« ein Interview, in dem er sagte: »Der verabscheuungswürdige Angriff der Hamas muss als Versuch gewertet werden, die Aufmerksamkeit auf die Notlage der Palästinenser zu lenken.«
Goldberg zog, wie auch die meisten anderen hier genannten Forscher in den Wochen und Monaten zuvor, im April 2024 eine historische Analogie zum deutschen Völkermord an den Herero und den Nama zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, die ganz im Dienste der Dämonisierung Israels stand: Die Entstehung des Staates Israels mit dem Konzept des »Siedlerkolonialismus« zu erklären, dem es inhärent sei, Völkermord zu begehen, lässt für den 7. Oktober nur eine Interpretation zu: Eine indigene Bevölkerung erhebt sich gegen die Siedler – ein Darstellung, wie sie auch die Hamas in ihrem Pamphlet »Our Narrative … Operation Al Aqsa Flood« pflegt, in der eben jenes Widerstands- und Dekolonisierungsnarrativ bemüht wird.
Auch Segal nutzte in der Debatte über den 7. Oktober und den darauf folgenden Gaza-Krieg den deutschen Genozid an den Herero und den Nama als »Erklärungsmodell«. So sagte er etwa im Dezember 2023 während eines Vortrags vor dem Committee on the Exercise of the Inalienable Rights of the Palestinian People (CEIRPP) der Vereinten Nationen in New York City zum Krieg im Gaza-Streifen, »Wüsten« seien, historisch betrachtet, Instrumentarien des Völkermords gewesen, wie während des Völkermords in Deutsch-Südwestafrika, als die Herero in die wasserlose Omaheke-Wüste geflohen waren und die deutsche Armee diese abriegelte.
Derartige Genozid-Vergleiche können auch als eine Entlastungsstrategie für die Massaker der Hamas gelesen werden, da der Völkermord an der indigenen Bevölkerung im heutigen Namibia ein »Vergeltungsgenozid« aufgrund des Aufstands der Herero gegen die damalige Kolonialmacht war. Mit einer derartigen »Kontextualisierung« werden die von der Hamas und ihren Unterstützern verübten Massaker vom 7. Oktober als »Gegenwehr« oder »Aufstand« einer indigenen palästinensischen Bevölkerung gegen die Kolonisatoren bewertet. Auch Shaw, Bartov und Goldberg folgen der These eines »Gegengenozids« und leugnen beziehungsweise spielen hiermit den Antisemitismus und Antizionismus auf der palästinensischen Seite herunter. Unterstützt werden sie dabei durch die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA), die sie entweder selbst mitinitiiert oder unterschrieben haben. In der Definition der JDA, die sich als »Alternative« zur IHRA versteht, werden NS-Vergleiche und Antizionismus vom Antisemitismus freigesprochen.
Diese Art der Geschichtsschreibung, die in simplizistischen Weltbildern im Staat Israel stets den »Täter« verordnet und Palästinenser immer als »Opfer stilisiert« und die der offiziellen der PLO und anderer palästinensischer Organisationen folgt, betrachtet das palästinensische Handeln am 7. Oktober – auch das historisch-politische insgesamt – als Folge traumatischer Erfahrungen von Flucht und Vertreibung. Dabei gibt es keine Brüche, Fehlentscheidungen palästinensischer Führungen oder auch nur die Möglichkeit verantwortungsvollen Handelns. Sie sind allein durch Traumata geprägt, was sich unschwer in Aussagen wie der von A. Dirk Moses erkennen lässt, der im November 2023 sagte: »die meisten Palästinenser im Gaza-Streifen sind keine Einwohner des Gaza-Streifens, sondern Flüchtlinge der zionistischen Säuberung ihrer Dörfer im Jahr 1948.«
Im Ergebnis führt diese auch aus dem Motiv der »Dekolonisierung« argumentierende Holocaust- und Genozidforschung zu verzerrten Deutungsmustern des Israel-Palästina-Konflikts.
Ein Publikationsorgan, das Forscher wie Bartov, Goldberg und Moses regelmäßig zu Wort kommen lässt, ist das Journal of Genocide Research; ein Sprachrohr des 2005 in Berlin gegründeten International Network of Genocide Scholars (Inogs), das eine vergleichende Genozidforschung anregt. Mitgründer von Inogs ist der Historiker und Afrika-Wissenschaftler Jürgen Zimmerer, dessen Forschung es wesentlich zu verdanken ist, dass der Völkermord an den Herero und den Nama verstärkt in der deutschen Erinnerungspolitik verankert wurde.
Gleichzeitig hat das Journal in der Vergangenheit aber auch immer wieder dezidiert antiisraelische Positionen eingenommen und verschreibt sich einer postkolonialen Geschichtsbetrachtung in der Holocaust- und Genozidforschung, die den Holocaust als quasi-koloniale Tat und den Antisemitismus als eine Unterform des Rassismus interpretiert. Der Antisemitismusforscher Steffen Klävers hat in einer umfangreichen Studie 2019 diesen postcolonial turn in der Holocaustforschung einer kritischen Untersuchung unterzogen.
In postkolonialer Perspektive wird in regelmäßigen Abständen – in einer behaupteten Opferkonkurrenz – der deutschen Erinnerungspolitik vorgeworfen, sie fokussiere zu stark auf den Holocaust, ignoriere historische und heutige (koloniale) Massenverbrechen und genozidale Gewalt im Globalen Süden und tabuisiere sämtliche Vergleiche. Die Rede vom Tabu ist nicht zuletzt aufgrund der insbesondere von diesen Forschern zahlreich bemühten Vergleiche absurd. Selten werden zudem empirische Belege präsentiert, so wie auch im Fall der Kontinuitätsthese, die von Genozidforschern wie A. Dirk Moses und Jürgen Zimmerer vertreten wird. Diese behauptet eine Kontinuität von den Kolonialverbrechen in Deutsch-Südwestafrika zum Holocaust.
Nicht ohne Holocaust-Vergleiche
In einem Meinungsbeitrag mit dem Titel »Was ich als Genozidforscher glaube« im November 2023 in der New York Times, in dem Bartov eine Beurteilung der Situation in Gaza vornimmt, kam sein Argument, »Vertreibungen« und »ethnische Säuberungen« könnten zu einem »Genozid eskalieren«, nicht ohne die Formulierung »wie im Holocaust« aus. Gab es für Bartov zu diesem Zeitpunkt noch keine Anhaltspunkte für einen Genozid, hatte sich ein Dreivierteljahr später seine Meinung geändert. Im August führte er in einem wortreichen, aus der Ich-Perspektive geschriebenen Beitrag im Guardian aus, Israel begehe »genozidale Handlungen« im Gaza-Streifen, was er allerdings nicht weiter ausführte.
Problematisch sind auch Holocaust-Analogien oder die sogenannte Holocaust-Inversion, bei der die israelische Armee mit den Nazis verglichen und die Palästinenser zu den »neuen Juden« stilisiert werden. Während eines Gesprächs mit IDF-Soldaten an der Ben Gurion University of the Negev in Be’er Sheva im Juni 2024 stellte etwa Bartov Ähnlichkeiten in der Denkweise israelischer Soldatinnen und Soldaten im Gaza-Streifen mit deutschen Wehrmachtssoldaten fest.
Auch die unreflektierten und provokativen Äußerungen Masha Gessens, das Leben im Gaza-Streifen sei vergleichbar mit dem im Warschauer Ghetto, oder Francesca Albaneses seit Jahren bis heute gebetsmühlenartig wiederholte Holocaust-Analogien finden unter den genannten Holocaust- und Genozidforschern Unterstützung.
Inzwischen ist die Rede von einer sich kumulativ radikalisierenden israelischen Kriegführung (Bartov), deren Ziel es von Anfang – so etwa in Form eines »Plans« – gewesen sei, Gaza unbewohnbar zu machen, da die IDF angeblich gezielt zivile Infrastruktur zerstört hätten. Dies entspreche einer völkermörderischen Absicht. Der Missbrauch eben dieser zivilen Infrastruktur wie Moscheen, Schulen, Kindergärten als Basen, um Raketen auf Zivilisten in Israel abzuschießen, aber auch die menschenverachtenden Strategie der Hamas und ihrer Unterstützer, die Zivilbevölkerung in Gaza als Schutzschilde zu nutzen, ist dabei offenbar keine Erwähnung wert.
Mangelnde Quellenkritik
Abgesehen von der Frage, ob die erwähnten Historiker und Literaturwissenschaftler der Holocaust- und Genozidforschung über die fachliche Expertise verfügen, das Kriegsgeschehen in Gaza hinsichtlich des internationalen Rechts beurteilen zu können, stellt sich auch die Frage, wie sie mit der Fülle der Informationen zum Krieg in Gaza umgehen. Auffällig ist, dass sie keinerlei quellenkritischen Diskussionen vorgenommen haben, die auf eine quellenkritische Auseinandersetzung hinweisen würde.
Die palästinensischen Opferzahlen in Gaza werden, trotz detaillierter internationaler Kritik an ihrer Validität, von den genannten Vertretern der Holocaust- und Genozidforschung fraglos übernommen. Auch das United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) übernimmt bis heute diese Zahlen unhinterfragt, obwohl in dieser Zählung nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschieden wird. Erst Anfang Mai 2024 nahm das OCHA eine umfangreiche Korrektur dieser Zahlen vor, was selbst in der internationalen Presse nur selten thematisiert wurde. Dabei wurde insbesondere die Zahl der getöteten Frauen und Kinder deutlich nach unten korrigiert.
Im Kontext der im Dezember 2023 von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eingeleiteten Völkermord-Klage gegen Israel sekundierten die Unermüdlichen dem Vorwurf, wobei sie weiter gingen als das Gerichtsurteil, das immerhin nicht behauptete, dass Israel gegen die Konvention zur Verhinderung von Genoziden verstoßen habe.
In einem Interview in der Taz im Januar 2024 unter dem Titel »Jeder Genozid ist anders« antwortete Bartov auf die Frage, was er von der Klage Südafrikas halte, dass er dieses Vorhaben positiv sehe. In einem anderen Interview sagte er: »Juristisch bedeutet ›Plausibilität des Völkermords‹, die der IGH festgestellt hat, es lägen genügend Beweise dafür vor, dass möglicherweise ein Völkermord verübt wird oder unmittelbar bevorsteht.«
Auch Goldberg behauptete im April 2024, der IGH habe mit »überwältigender Mehrheit (14 zu 2)« befunden, »dass Israel im Gaza-Streifen möglicherweise einen Völkermord begehen könnte«. Die damalige Präsidentin des IGH, Joan Donoghue, fühlte sich zu einer Richtigstellung genötigt, da die Gerichtsentscheidung, dass Israel Maßnahmen ergreifen müsse, damit es nicht zu einem Genozid komme, weltweit falsch dargestellt oder zur Diffamierung benutzt worden sei: »Das Gericht hat nicht entschieden, dass die Behauptung eines Völkermords plausibel ist. Und hier korrigiere ich etwas, was oft in den Medien gesagt wird.« Es sei lediglich betont worden, dass »Palästinenser ein plausibles Recht auf Schutz vor Völkermord« besitzen.
Frappierend am politischen und wissenschaftlichen Diskurs der kritisierten Holocaust- und Genozidforscher, die für sich in Anspruch nehmen, einen Genozid attestieren und historische Entwicklungslinien, die zum 7. Oktober geführt haben, darzulegen zu können, ist vor allem die weitgehende Nichtthematisierung der Rolle der Hamas.
Die Hamas-Führung selbst hat wiederholt geäußert, nicht für den Schutz der Zivilisten zuständig zu sein. Dies spiegelt sich im Missbrauch ziviler Einrichtungen als Waffendepots oder Abschussorte für Raketen wider. Auch »Gaza Downtown«, wie das Tunnelsystem der Hamas genannt wird, in dem vermutlich weiterhin die verbleibenden Geiseln im Gaza-Streifen gefangen gehalten werden und das für die Kriegführung von entscheidender Bedeutung ist, findet in den Erwägungen der Holocaust- und Genozidforscher keine Erwähnung. Genauso wenig wird die »hybride« Kriegsführung der Hamas, die auf eine Manipulationskampagne in den sozialen Medien angelegt ist, oder der propagandistische Kampf in westlichen Ländern, der beispielsweise durch Organisationen wie Masar Badil geführt wird, in die Diskussion einbezogen. Nicht zuletzt findet sich kein Wort über den Vernichtungsantisemitismus, wie er in der Charta der Hamas formuliert ist, die eine islamische Vormachtstellung über das Gebiet des historischen Palästina beansprucht.
Seit dem 7. Oktober melden sich aber auch Palästinenserinnen und Palästinenser in der Diaspora vermehrt zu Wort, die trotz Gefahr für Leib und Leben, auch das ihrer in Gaza oder Ägypten lebender Familien, sich gegen die antiisraelischen Propaganda verwehren. Bekannt sind etwa Hamza Abu Howidy, der 2019 infolge von Protesten im Gaza-Streifen von der Hamas inhaftiert und gefoltert wurde und derzeit in Deutschland lebt, sowie der US-amerikanische-palästinensische Menschenrechtler Ahmed Fouad Alkhatib, der die Hamas als Hauptproblem der Palästinenser benennt.
Sie zeichnen ein differenziertes Bild der palästinensischen Gesellschaft in Gaza, lehnen es ab, den 7. Oktober als »Widerstand« zu legitimieren, und attestieren dem Großteil der sogenannten propalästinensischen Demonstrationen weltweit puren Judenhass. Sie thematisieren dagegen die Verbrechen der Hamas und ihrer Unterstützer, auch an der Zivilbevölkerung in Gaza. Solche Wortmeldungen finden nur langsam Eingang in die Debatte über den Krieg zwischen Israel und Hamas. Doch ihr Blick auf innerpalästinensisches Leben, Konflikte und Perspektiven für einen Frieden mit Israel, der pragmatische Lösungen anvisiert, ist von entscheidender Bedeutung und zeigt, dass die Realität komplexer ist, als es die homogenisierende Darstellung der Palästinenserinnen und Palästinenser als entweder Opfer oder Terroristinnen oder Terroristen zu wissen meint.