Feindliche Übernahme

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Itamar Ben Gvir (2021), Foto: Shai Kandler / CC0

Immer wieder fallen extremistische jüdische Siedler im Westjordanland in palästinensischen Ortschaften ein. Sie drangsalieren die Bewohner, zünden Häuser und Fahrzeuge an und schrecken selbst vor Mord nicht zurück. Sanktionen haben sie selten zu befürchten. Und dafür gibt es gute Gründe.

Von Ralf Balke

Mehrere Verhaftungen sorgen derzeit für Aufsehen in Israel: Am vergangenen Montag wurde bekannt, dass Kobi Yaakobi, Chef der israelischen Gefängnisbehörde, wegen des Verdachts der Behinderung von Ermittlungen sowie Untreue festgenommen und verhört wurde. Dies geschah nur wenige Stunden, nachdem die Abteilung innerhalb des Polizeiapparates, die interne Ermittlungen leitet, mitgeteilt hat, dass ein hochrangiger Gefängnisbeamter sowie zwei weitere Polizeibeamte, über deren Identität aber keine Angaben gemacht wurden, ebenfalls verhaftet worden seien. Kobi Yaakobi selbst wurde nach zwölf Stunden zwar wieder freigelassen – aber nur unter der Auflage, nicht mit seinen ebenfalls verdächtigten Kollegen kommunizieren zu dürfen.

Eine andere, namentlich diesmal aber bekannte Person, die ebenfalls dieser Tage Ärger mit der Justiz bekam, ist Avishai Mualem, ein hochrangiger Offizier der Polizei im Westjordanland. Er habe Informationen über gewalttätige, extremistische Siedler im Westjordanland bewusst ignoriert. Der Grund: Er hoffte auf diese Weise von dem Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, eine Beförderung zu erhalten. So hieß es seitens der ermittelnden Behörden, der Inlandsgeheimdienst Shin Bet habe der ihm unterstellten Einheit nachrichtendienstliche Hinweise über Aktivitäten extremistischer Sieder zukommen lassen. Avishai Mualem hätte jedoch unter dem Vorwand, die Informationen würden nicht ausreichen, um Verhaftungen zu veranlassen, keinerlei Maßnahmen eingeleitet. Ferner hat er Itamar Ben Gvir wohl als geheim eingestufte Dokumente des Shin Bet weitergereicht. Beide Fälle stehen zudem in Zusammenhang. Kobi Yaakobi soll Avishai Mualem gewarnt haben, dass gegen ihn ermittelt wird.

Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit reagierte entsprechend ungehalten und vermutete die von ihm so verhasste Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara dahinter, sprach von einer Verschwörung. Auch behauptete Itamar Ben Gvir, dass in der Vergangenheit Mitarbeiter des Ministeriums aufgrund von Vetternwirtschaft und dubiosen Geschäften befördert wurden. „Ich sage noch einmal und mit großem Stolz, dass diejenigen, die meine Politik des Regierens, der Souveränität, der Entschlossenheit und der Professionalität umsetzen, bei der Polizei vorankommen“. Avishai Mualem sei jemand, der in der Polizei vorankommen will. „So ist das in einer Demokratie und nicht in Bananenrepubliken“, schrieb er auf X, vormals Twitter. Und legte noch einmal nach: „Für ihn hat die Sicherheit der Siedler in Judäa und Samaria oberste Priorität. Er konzentrierte sich auf den Kampf gegen den arabischen Terrorismus, anstatt Jungen mit Filzstiften zu jagen und zu schikanieren“. Letzteres ist eine Anspielung auf die hasserfüllten Graffiti extremistischer Siedler, die immer wieder durch palästinensische Ortschaften ziehen und dabei eine Spur der Verwüstung hinterlassen.

Denn in den vergangenen Monaten gab es einen massiven Anstieg solcher Gewalttaten. Beispielsweise zogen extremistische Siedler am 4. Dezember durch die beiden nahe Nablus gelegenen palästinensischen Ortschaften Beit Furik und Hawara. Dabei warfen sie Molotowcocktails, zündeten Häuser und Fahrzeuge an und verletzten mehrere Bewohner zum Teil schwer. Der Anlass: Am Tag zuvor hatte die israelische Armee einen illegal errichteten Siedlungsaußenposten, den sogenannten „Hügel 617“, geräumt, wobei laut Militär zwei Soldaten verletzt wurden. Die zumeist juvenilen extremistischen Siedler schrecken also auch nicht vor Gewalt gegen Armeeangehörige zurück. Schlagzeilen machten sie, als einige am 22. November ebenfalls Generalmajor Avi Bluth, Chef des Zentralkommandos in der Region, bedrängten und anzugreifen versuchten. Fünf von ihnen wurden daraufhin verhaftet.

Doch solche Festnahmen sind eher die Ausnahme als die Regel – schließlich müssen sie in den seltensten Fällen mit Sanktionen rechnen. Und nachdem Israel Katz Anfang November überraschend zum Verteidigungsminister ernannt wurde noch weniger als zuvor – schließlich sollte einer seiner ersten Maßnahmen die Aussetzung von Anordnungen zur Verwaltungshaft gegen Siedler im Westjordanland sein. Damit gab die Politik ihnen quasi grünes Licht zu weiteren, für sie folgenlosen Gewalttaten. Es wird dem Militär, aber auch dem Inlandsgeheimdienst Shin Bet oder der Polizei nun noch schwerer fallen, gegen sie vorzugehen, wenn es zu einem ihrer Amokläufe in einer palästinensischen Ortschaft kommt. Ohnehin befanden sich nur sieben Siedler zu diesem Zeitpunkt in Verwaltungshaft, wohl aber mehr als 3.400 Palästinenser. „Vor dem Hintergrund, dass die jüdischen Siedlungen in Judäa und Samaria ernsthaften palästinensischen Terrordrohungen ausgesetzt sind und ungerechtfertigte internationale Sanktionen gegen die Siedler verhängt werden, ist es für den Staat Israel nicht angemessen, eine derart strenge Maßnahme gegen die Bewohner der Siedlungen zu ergreifen“, so die Begründung von Israel Katz für diese Art des Freibriefs.

Der Shin Bet hatte vor einem solchen Schritt gewarnt – aber erfolglos. Schon im Juni hatte sein Direktor Ronen Bar gesagt, dass ein Verbot von Sanktionen gegen gewaltbereite Israelis „zu einer unmittelbaren, schwerwiegenden und ernsthaften Beeinträchtigung der Sicherheit des Staates führen würde“. Wenn es handfeste Hinweise darüber gibt, dass ein Verdächtiger einen Terroranschlag verüben könnte, muss man Mittel in der Hand haben, um rechtzeitig dagegen vorzugehen, so sein Appel. Doch nun wackelt auch sein Sessel. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat bereits angedeutet, dass er Ronen Bar genauso seines Amtes gerne entheben würde. Ähnliches gilt übrigens auch für Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara und Generalstabschef Herzi Halevi. Anders dagegen Itamar Ben Gvir. Er begrüßte die Entscheidung des Verteidigungsministers und sprach von „einer wichtigen und großartigen Neuigkeit… Dies ist eine Korrektur vieler Jahre der Missbrauchs und bringt Gerechtigkeit für diejenigen, die das Land lieben.“

Andere Mitglieder des Kabinetts schlossen sich ihm an, allen voran Finanzminister Bezalel Smotrich und Justizminister Yariv Levin, die davon sprachen, dass nun „Schluss sei mit der Diskriminierung“. Simcha Rothman von der Partei der Religiösen Zionisten sowie Vorsitzender des Rechtsausschusses war ebenfalls voll des Lobes – ohnehin hatte er im Sommer einen Gesetzentwurf eingebracht, der sowohl die Anwendung von Verwaltungshaft sowie anderer verwaltungsrechtlicher Verfügungen gegen israelische Staatsbürger generell verbieten würde, es sei denn, sie wären Mitglieder von bestimmten Terrorgruppen. Andere dagegen zeigten sich entsetzt, unter ihnen Gadi Eisenkot, ehemaliger Generalstabschef der Armee. Er nannte die Entscheidung von Israel Katz einen „schwerwiegenden und gefährlichen Fehler“, der mit dazu beitragen würde, dןק Eskalation im Westjordanland, die ohnehin erschreckende Ausmaße angenommen hätte, weiter voranzutreiben. „Dieser Schritt reiht sich ein in andere vorsätzliche Maßnahmen, die die Fähigkeit der Armee beeinträchtigen, ihre Rolle als souveräne Behörde, die für die Sicherheit der Einwohner verantwortlich ist, zu erfüllen.“ Damit bringt Gadi Eisenkot die Problematik auf den Punkt: Die Siedler würden auf diese Weise letztendlich über dem Gesetz stehen und selbst die Streitkräfte könnten sie nicht mehr bremsen.

Dass die Polizei bei der Bekämpfung extremistischer Siedler schon lange keine Rolle mehr spielt, belegen die Ermittlungen gegen Kobi Yaakobi und Avishai Mualem. Offen ist derzeit noch, ob ןמ ihrem Rahmen Itamar Ben Gvir ebenfalls befragt wird. Denn einerseits gilt gerade der Chef der israelischen Gefängnisbehörde als Marionette des Ministers für nationale Sicherheit. Er ist ein enger Vertrauter von Itamar Ben Gvirs Bürochef Hanamel Dorfman und ist mit Ayala Ben Gvir, der Gattin des Ministers, eng befreundet, weswegen er seit 2022 schnell Karriere machen durfte. Damit zeigt sich eine weitere Dimension des Problems: Der Minister für nationale Sicherheit unternimmt alles, um dafür zu sorgen, dass hochrangige Polizeibeamte sich allein ihm persönlich verpflichtet fühlen und nicht dem Staat, dem sie dienen sollen.

Genau das kam am Donnerstag zutage, als die Tageszeitung „Haaretz“ darüber berichtete, dass mehrere, namentlich anonym gebliebene und hochrangige Mitarbeiter der Polizei im Rahmen von Gesprächen über ihre Beförderung darüber befragt wurden, ob sie auch „loyal“ gegenüber dem Minister seien. Das Justizministerium weiß davon und hat bereits in der Sache angefangen zu ermitteln. „Die von Ben-Gvir befragten Beamten informierten ihre Vorgesetzten und andere Polizeibeamte über die Angelegenheit“, hieß es. „Diese kontaktierten dann die Abteilung des Justizministeriums. Die Beamten wurden gefragt, ob sie im Sinne von Ben-Gvirs Agenda und der von ihm diktierten Politik handeln würden. Mehrere Quellen sagten, Ben-Gvir wolle die obersten Ränge der Beamten mit Personen besetzen, die seine Politik unterstützen, weshalb er die Beamten nach ihrer Loyalität befragt habe.“

Einen der wichtigsten Posten, den Itamar Ben-Gvir durch die Ernennung einer Person, die sich vor allem ihm gegenüber verpflichtet sieht, kontrollieren möchte, ist der Chef der Grenzpolizei im Westjordanland. Diese ist wiederum dem Zentralkommando der Armee unterstellt und wird als polizeilicher Arm der Streitkräfte eingesetzt. Damit ist sie ebenfalls in die Räumung illegaler Außenposten der Siedler und der Verhaftung von extremistischen jüdischen Israelis dort involviert. Als Kandidat für den Posten hätte Itamar Ben Gvir gerne Niso Guetta, aktuell verantwortlich für die Region um Hebron. Was ihn aber wohl eher qualifiziert aus Sicht des Ministers für nationale Sicherheit: Niso Guetta ist ein Freund von Kobi Yaakobi sowie Ayala Ben Gvir.