Hamas und Islamischer Jihad wollen eine dritte Front gegen Israel eröffnen. Deshalb startete Israel die größte Militäroperation im Westjordanland seit über 20 Jahren. Zugleich überziehen radikale israelische Siedler palästinensische Ortschaften mit Gewalt – eine explosive Mischung.
Von Ralf Balke
Liest man die wöchentlichen Meldungen der israelischen Armee über ihre Aktivitäten, dann ist sie de facto schon längst vorhanden, und zwar die sogenannte dritte Front, die Hamas und Islamischer Jihad und damit auch der Iran gegen Israel aufzubauen hoffen. So hieß es, man habe im Gazastreifen vergangene Woche mehr als 40 Stellungen und reichlich Infrastruktur, darunter Kommando- und Kontrollzentren der Hamas, die in Schulen und anderen zivilen Einrichtungen versteckt waren, angegriffen und dabei über 100 Terroristen getötet. Auch mehrere Tunnel seien zerstört worden. Zudem ging die Luftwaffe über 50 Mal gegen die Hisbollah im Libanon vor, zerstörte Waffendepots und nahm ihre Kommandeure ins Visier. Und im Westjordanland wurden nach Angaben des Militärs bei einer Operation in den Gebieten Jenin, Tulkarem und Far’a mehr als 35 bewaffnete Palästinenser getötet sowie etwa 45 weitere festgenommen. Ferner habe man größere Mengen Schusswaffen beschlagnahmt, Dutzende von Sprengsätzen neutralisiert und drei Bombenlabors zerstört.
Damit ist klar: Der Krieg hat sich längst ausgeweitet und umfasst nun auch das Westjordanland, wo Israel, nach Angaben der Armee, Ende August die größte Militäroperation seit dem Jahr 2002 startete. „Operation Sommercamp“ heißt das Ganze, zwei Brigaden sind daran beteiligt. Vor allem in den Städten Jenin und Tulkarem kam es dabei zu größeren Auseinandersetzungen. Am Freitag wurde zudem die 26-jährige Ezgi Eygi, eine amerikanische Staatsbürgerin, die ursprünglich aus der Türkei stammt, und der radikalen propalästinensischen NGO International Solidarity Movement (ISM) angehört, bei einer gewalttätigen Demonstration nahe Nablus von israelischen Soldaten erschossen. Die Armee versprach den Vorfall zu untersuchen. „Wenn wir mehr Informationen haben, werden wir sie weitergeben, sie zur Verfügung stellen und, wenn nötig, darauf reagieren“, erklärte US-Außenminister Antony Blinken dazu. „Ich habe keine höhere Priorität als die Sicherheit und den Schutz der amerikanischen Bürger, wo immer sie sind.“ Aus der Türkei waren dazu andere Töne zu hören, dort sprachen Regierungsvertreter von einem „Mord“.
Am selben Tag wurde in einem Dorf, ebenfalls in der Nähe von Nablus, eine 13-jährige Palästinenserin getötet. Sie war das Opfer von marodierenden israelischen Siedlern, die im Rahmen dessen, was sie „Preisschild-Politik“ nennen, auf eigene Faust als Reaktion auf Terrorakte in palästinensische Ortschaften einfallen, dort willkürlich Bewohner ermorden und oftmals eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Sie haben maßgeblich Anteil daran, dass die Situation im Westjordanland in den vergangenen Monaten eskalierte.
All dies geschieht vor dem Hintergrund der Ereignisse des 7. Oktobers, die ebenfalls den radikalen Palästinensergruppen dort zu mehr Aufwind verholfen hatten. „Wir erleben eine Vielzahl von Operationen, die es so noch nie gegeben hat“, bringt es Adi Karmi, ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet gegenüber dem TV-Kanal 11 auf den Punkt. „Seit Beginn des Krieges wurden mehr als tausend Anschläge vereitelt, also im Schnitt vier am Tag.“ Immer wieder kommt es zu Terrorakten, auch auf israelisches Kernland – wie beispielsweise am 22. Mai, als Terroristen mit Maschinengewehren die Ortschaft Bat Hefer unter Beschuss nahmen. Auch wenn man dort Glück hatte, weil es lediglich Sachschaden gab, ist das häufig nicht so. Bei solchen Angriffen kamen in den letzten Monaten im Westjordanland etwa drei Dutzend Israelis ums Leben, so wie vor einigen Tagen, als ein Palästinenser drei israelische Polizeibeamte in ihrem Fahrzeug erschoss. Im gleichen Zeitraum starben nach palästinensischen Angaben etwa 650 Palästinenser bei Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee, aber ebenfalls durch die Gewalt radikaler Siedler. Wie viele davon nun aktive Kämpfer einer der Palästinensergruppen waren, die bei Anschlagsversuchen oder bei internen Streitigkeiten rivalisierender Fraktionen getötet wurden, und wann es sich um Zivilisten handelt, ist aus diesen Zahlen nicht ersichtlich.
Hamas, Islamischer Jihad, aber auch die al-Aksa-Märtyrer-Brigaden, der militärische Arm der Palästinensischen Autonomiebehörde, agieren nach einem ähnlichen Muster, das man bereits aus dem Gazastreifen kennt. Waffen und Munition werden vorzugsweise in zivilen Einrichtungen versteckt, die Terroristen selbst benutzen immer wieder Krankenhäuser als Rückzugsorte, weshalb wie in der aktuellen Militäroperation in Jenin diese Einrichtungen vom israelischen Militär abgeriegelt und durchsucht werden müssen. Die Hamas feiert die Angriffe im Westjordanland und bezeichnet sie einen Krieg mit Israel führt, lobte den Angriff im Westjordanland als „natürliche Reaktion auf die Massaker und den Völkermord im Gazastreifen“. Zugleich will sie den Terror intensivieren, spricht von „schmerzhaften Überraschungen“, die Israelis in Zukunft noch erleben würden. In diesem Kontext drohte man mit Selbstmordattentaten, lobte beispielsweise den doppelten Autobombenanschlag in der Region Gush Etzion vom Freitag und kündigte weitere „Märtyreroperationen“ an, so der Begriff der Hamas für diese Form des Terrors, der sich gezielt vor allem gegen Zivilisten überall in Israel richten soll.
Am 18. August bereits hatte Khaled Mashaal, einer ihrer wichtigsten Anführer in einer Rede dazu aufgerufen, wieder mit Selbstmordanschlägen zu beginnen. Dass es keine leeren Worte waren, zeigte der nur wenige Tage zuvor stattgefundene Versuch eines Palästinensers, in Tel Aviv einen solchen zu verüben. Er starb, als sein Rucksack explodierte, wobei ein Passant verletzt wurde. Hamas und Islamischer Jihad beanspruchten in einer gemeinsamen Erklärung die Urheberschaft. Solche „Märtyreroperation“ der beiden Terrororganisationen kosteten in den 1990er bis zum Ende der Zweiten Intifada Anfang der 2000er Jahre viele hundert Israelis das Leben.
„Wir befinden uns mitten in einem Feldzug, aber es ist eine Art Krieg gegen den Terror“, so Adi Karmi in einem Gespräch mit dem Radiosender 103FM. „Es besteht kein Zweifel daran, dass es derzeit eine Intensivierung des Terrorismus im Westjordanland gibt, weshalb mehrere Militäroperationen stattfanden.“ Für den Experten gibt es ein weiteres Phänomen. „Solche Terroristen sind die neuen Idole.“ Deshalb würden sich auch unabhängig von Hamas oder Islamischen Jihad junge Männer zusammenfinden, die dann entsprechend aktiv werden und Anschläge verüben. Als weiteren Faktor nenn Adi Karmi den Iran, der ein genuines Interesse habe, dass der Konflikt auch dort angeheizt wird. So kämen Waffen und finanzielle Unterstützung über die Grenze zu Jordanien, wenn auch noch im begrenzten Umfang. Generalstabschef Herzi Halevi möchte deshalb eine neue Division in der Armee bilden, die sich ausschließlich der Unterbindung dieses Schmuggels widmen soll. Auch Israels Außenminister mache jüngst Teheran für den Terror verantwortlich und erklärte, dass es wohl das Ziel der iranischen Revolutionsgarden sei, eine „dritte Front“ im Westjordanland aufzubauen.
Ein Indiz für die stärkere Einmischung der Mullahs in die Terroraktivitäten sieht auch Seth J. Frantzman von der „Jerusalem Post“ in der Berichterstattung iranischer Medien, die auf einmal weniger über die „Erfolge“ der Hamas im Gazastreifen berichten, sondern mehr über deren Aktivitäten im Westjordanland und vermeintlichen „Siege“ über die israelischen Streitkräfte. So wäre der aktuelle Rückzug der Armee aus Jenin allein eine Folge der „Verluste“, die man ihnen zugefügt hätte.
Was die israelischen Streitkräfte dagegen selten unterbinden, ist die ausufernde Gewalt radikaler Siedler im Westjordanland. Exemplarisch der Angriff von etwa 100 maskierten Männern auf das palästinensische Dorf Jit am 15. August, wobei ein Palästinenser ermordet und ein weiterer schwer verletzt wurde. Die Angreifer setzten zudem mehrere Autos und Gebäude in Brand. Wie der anschließende Untersuchungsbericht der Streitkräfte zeigte, hatte an dem Abend der Shin Bet die Armee verständigt, das ein „nationalistisch motiviertes Verbrechen“ im Gange sei, woraufhin Soldaten vor Ort erschienen. „Unter Einsatz ihres Lebens“ hätten sie die Randalierer erst beim zweiten Anlauf aus dem Dorf vertreiben können. Der erste Versuch war daran gescheitert, dass man das Ausmaß der Gewalt nicht richtig einschätzen konnte. Die Soldaten mussten palästinensische Familien vor den Flammen retten und erste Hilfe leisten. „Dies ist ein sehr schwerwiegender terroristischer Vorfall, verursacht von Israelis, die den Bewohnern des Dorfes Jit absichtlich Schaden zufügen wollten. Wir haben versagt, weil wir nicht in der Lage waren, früher einzutreffen, um sie zu beschützen“, wird Generalmajor Avi Bluth, der Leiter des Zentralkommandos der Armee, zitiert. „Die Verantwortung liegt in erster Linie bei mir, und ich werde alles unternehmen, damit so etwas nicht wieder geschehen kann“, fügte er in einer vom Militär veröffentlichten Erklärung hinzu. Avi Bluth lobte seine Soldaten, die im Dorf eintrafen und Palästinenser retteten, die sich in den brennenden Häusern befunden hatten. „Diese Untersuchung ist noch im Gange und wird nicht beendet, bis wir die Randalierer zur Rechenschaft gezogen haben“, so der Generalmajor weiter.
Genau das darf aber bezweifelt werden, weil ähnliche Vorgänge in der Vergangenheit ebenfalls nicht weiter sanktioniert wurden oder die Strafen sehr milde ausfielen. Der Grund: Die radikalen Siedler erhalten politische Rückendeckung von Finanzminister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir, Minister für nationale Sicherheit. Beide sind somit mitverantwortlich, dass das Westjordanland in vielerlei Hinsicht ein rechtsfreier Raum geworden ist, wenn solche Gewaltakte von jüdischer Seite verübt werden. Für eine Deeskalation dürfte diese Form der Politik wohl kaum sorgen. Das dürfte auch die Mullahs in Teheran freuen.