Über viele Jahre hinweg zeigte Israels Wirtschaft auch in Krisenzeiten eine bemerkenswerte Resilienz. Doch der Krieg im Gazastreifen zieht sich in die Länge und bindet Ressourcen. Und das hat Konsequenzen wie die jüngsten Zahlen belegen.
Von Ralf Balke
Eine Rezession ist es offiziell noch nicht, aber die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache und sollten Anlass zur Sorge geben – vorausgesetzt einer der Verantwortlichen in der Politik, und zwar Finanzminister Bezalel Smotrich versteht die Bedeutung dieser Daten überhaupt. Und genau das darf bezweifelt werden. So verzeichnete Israels Wirtschaft im zweiten Quartal dieses Jahres den stärksten konjunkturellen Abschwung aller 38 Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Der Grund dafür ist wenig überraschend der nunmehr seit über zehn Monate andauernde Krieg gegen die Hamas sowie die Situation im Norden, wo die Hisbollah das wirtschaftliche Leben in den großen Teilen Galiläas und des Golans zum Stillstand gebracht hat. Für die Monate April bis Juni registrierte man einen Rückgang des Wachstums auf nur noch 0,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal. Im ersten Quartal 2024 lag dieses noch bei einem Plus von 4,1 Prozent. Ursprünglich hatte die OECD ein Anstieg des Bruttoinlandsproduktes für das laufende Jahr von 3,3 Prozent vorhergesagt. Diese Prognose wurde im Mai bereits auf 1,9 Prozent revidiert und es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Zahl ein weiteres Mal nach unten korrigiert werden muss. Denn auch die israelische Zentralbank geht mittlerweile nur noch von einem Wachstum für dieses Jahr von 1,5 Prozent aus, 2025 sollen es aber wieder 4,2 Prozent werden. Andere, wie beispielsweise die Investmentbank JPMorgan, gehen von deutlich niedrigeren Werten aus. Nur das Finanzministerium glaubt noch an ein Plus von 1,9 Prozent in diesem Jahr.
Die jüngsten Veröffentlichungen aus Israels zentraler Statistikbehörde verweisen auf eine weitere Dimension dieser Abschwächung. „Denn pro Kopf schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf sowohl im Vergleich zum ersten Quartal als auch in Relation zum entsprechenden Vorjahresquartal“, bringt es Ronen Menachem, Chefvolkswirt der Bank Mizrahi-Tefahot auf den Punkt. Und zwar bereinigt um die demografische Entwicklung, eine in Israel sehr wichtige Komponente in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, da das Land das höchste Bevölkerungswachstum aller OECD-Staaten aufweist, um ein Minus von 0,4 Prozent. „Das ist eine Zahl, die eindeutig auf den erheblichen Schaden hinweist, den der anhaltende Krieg der Wirtschaft zufügt.“ Weitere Indikatoren verdeutlichen diesen Trend: So ging die Produktion in Unternehmen um 1,9 Prozent zurück und die israelischen Exporte von Waren und Dienstleistungen sanken um satte 8,3 Prozent, so jedenfalls die Daten. Die Gründe dafür: Viele Israelis werden wiederholt zum Reservedienst einberufen, weshalb sie in ihren Betrieben und Büros als Arbeitskräfte ausfallen. „Die Bauinvestitionen beispielsweise sind aufgrund des Mangels an palästinensischen Arbeitskräften um 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken“, ergänzt Jonathan Katz, Chefökonom bei Leader Capital Markets. Und last but not least hinterläßt die desolate Sicherheitslage Spuren bei den Investitionen aus dem Ausland.
Genau solche Daten sind dann auch die Ursachen, warum Israel Kreditwürdigkeit gesunken ist. So stufte die Ratingagentur Fitch vor wenigen Tagen das Land von A+ runter auf A. Das macht es für Jerusalem deutlich teurer, auf den internationalen Kapitalmärkten Kredite aufzunehmen. Fitch war übrigens nach S&P und Moody’s die dritte globale Ratingagentur, die in diesem Jahr einen solchen Schritt vornahm. Finanzminister Bezalel Smotrich hat diese Nachrichten mit einem Achselzucken zu Kenntnis genommen. „Die Herabstufung der Kreditwürdigkeit aufgrund des Krieges und der damit verbundenen geopolitischen Risiken ist ganz natürlich.“ Anders dagegen die Mitarbeiter des Ministeriums. Laut der Wirtschaftszeitung „Globes“ gäbe es dort keinen einzigen Experten, der der Einschätzung des Ministers zustimmt. Man hätte durch geeignete Schritte dieser Herabstufung entgehen können, heißt es. Selbstverständlich käme der Krieg teuer zu stehen, so gehe man aktuell von zusätzlichen Kosten in Höhe von über 62 Milliarden Euro aus. Das hätten Fitch und die anderen womöglich akzeptiert, weil die Devisenreserven hoch seien und auch andere Daten positiv aussahen. Doch würden sich Smotrich und andere in der Regierung weigern, über den Haushalt für das Militär konkret zu sprechen, geschweige überhaupt eine ernsthaft gemeinte Planung für das kommende Jahr vorzulegen. Man sieht nur einen Zickzack-Kurs, beispielsweise bei der zuerst geplanten und von der Knesset abgesegneten, dann wieder zurückgenommen Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 18 Prozent. Das wären aus Sicht der Experten die eigentlichen Gründe für die Herabstufung von Israels Kreditwürdigkeit gewesen.
Ferner gehen die Analysten davon aus, dass der Konflikt mit der Hamas, der Hisbollah und dem Iran sich weit in das Jahr 2025 hineinziehen wird. Eine weitere Eskalation, und das auch noch an mehreren Fronten zugleich, würde ihrer Einschätzung zufolge zu erheblich mehr Militärausgaben, Zerstörungen der Infrastruktur und nachhaltigeren Schäden für die Wirtschaftstätigkeit und weniger Investitionen führen, so ihre Befürchtungen. Aber bereits das dritte und das vierte Quartal 2024 könnten problematisch werden. „Mit Blick auf die zweite Jahreshälfte ist es recht wahrscheinlich, dass die Wirtschaftstätigkeit weiter nachlässt“, glaubt Mizrahi-Tefahot-Experte Ronen Menachem. „Sehr viel hängt von den Entwicklungen in der Region ab und von der Frage ab, wie stark sich der Krieg noch auf die Wirtschaft auswirkt.“ Noch würde Vollbeschäftigung herrschen. Die Zahl der offenen Stellen nimmt zu, was darauf hinweist, dass es Schwierigkeiten gibt, geeignete Fachkräften zu finden, weil sich diese an der Front befinden. Das könnte wirtschaftliche Aktivitäten und das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes noch mehr ausbremsen. Ein zusätzliches Problemfeld ist die Staatsverschuldung. Während das Finanzministerium davon ausgeht, dass diese 2024 ein Volumen von 6,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmacht, gehen Experten, allen voran die Analysten von Banken wie Citi oder Morgan Stanley von einem deutlich dramatischeren Wert aus, und zwar mindestens 8,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Der Krieg und die geopolitischen Risiken sind nur ein Teil des Problems, betonen Experten. Selbst Israel Zentralbankchef hat diese Woche erklärt, dass es noch andere Faktoren gibt. Um die Märkte auch nur ein wenig zu beruhigen, während der Konflikt weiter läuft, ist das Mindeste, was getan werden könnte, eine verantwortungsvolle Politik zu betreiben und den Haushalt 2025 voranzutreiben, auch wenn dieser einige bittere Pillen enthalten dürfte. Alles andere dürfte deutlich schmerzhafter und kostspieliger sein. Und genau dieses Thema könnte noch viel politischen Sprengstoff mit sich bringen – schließlich wissen alle Beteiligten nur zu gut, dass es so manche unpopuläre Steuererhöhung geben wird, während gleichzeitig Kürzungen in einigen Etats vorgesehen sind, die das Leben vieler Israelis nicht unbedingt einfacher machen. Das dürfte auch einer der Gründe sein, warum die Regierung bei der Ausarbeitung eines Haushaltsplans für das Jahr 2025 in Verzug ist. Laut Gesetz aber muss dieser bis zum 31. Dezember verabschiedet werden. Geschieht dies nicht, gibt es eine Fristverlängerung bis zum 31. März 2025. Sollte dann immer noch keiner vorliegen, muss die Regierung zurücktreten und es gibt Neuwahlen. Ob Ministerpräsident Benjamin Netanyahu dieses Risiko eingeht, um derzeit nicht mit zusätzlichen Protesten wegen Kürzungen beispielsweise im Sozialetat oder Bildungswesen konfrontiert zu sein, ist nicht ganz unwahrscheinlich.
Doch schon jetzt regen sich erste Stimmen, die genau das kritisieren. „Die Unsicherheiten nehmen auch wegen der Verzögerungen bei der Erarbeitung des Haushaltsplans für 2025 zu“, hieß es bereits von Seiten der Manufacturers’s Association of Israel, dem wichtigsten Industrieverband des Landes, in einem Statement. „Die Ungewissheit wächst und beeinträchtigt die Möglichkeiten der Wirtschaft, sich zu erholen. Das Defizit nimmt zu, und es wird erwartet, dass wir das vierte Quartal des Jahres ohne eine sichere Haushaltsplanung für das 2025 beginnen. In einer solchen Krise, einer der schlimmsten, die das Land je erleben musste, können wir uns nicht leisten, Zeit zu verlieren. Wir müssen auch unseren Investoren den Eindruck von Kontinuität und Stabilität vermitteln.“ Ron Tomer, Präsident des Industrieverbandes, sagte ferner: „Der Rückgang des Bruttoinlandsproduktes wird zu einem viel umfassenderen Problem, wenn man erkennt, dass eine Rückkehr zu den früheren Daten nicht so schnell möglich sein wird, ganz zu schweigen vom Wachstum, um das sich dramatisch vergrößernde Haushaltsdefizit zu verringern. Die internationalen Unternehmen im werden nicht sofort wieder Geschäfte in Israel machen. Außerdem führen der Krieg und die pessimistischen Ausblicke für Wirtschaft dazu, dass manche israelische Unternehmen ins Ausland abwandern. All das lässt erahnen, dass auch 2025 in vielerlei Hinsicht ein verlorenes Jahr werden dürfte. Wir sind besorgt, dass nach dem Krieg lange nicht alles so wie vorher sein wird.“
Dass diese Befürchtungen nicht weniger, sondern mehr werden, dafür dürfte nicht nur das erratische Verhalten der politischen Entscheidungsträger, allen voran des Finanzministers, verantwortlich sein, sondern auch der Hang dazu, ausschließlich seinem eigenem Klientel finanzielle Wohltaten zuteil werden zu lassen. Und natürlich Inkompetenz. Als im Februar als erste Ratingagentur Moody’s Israels Kreditwürdigkeit herabstufte, sprach Bezalel Smotrich ernsthaft von „Gottes Hilfe“, die dafür Sorge tragen würde, dass Israel auf den Wachstumspfad zurückkehre.