Zwischen Antisemitismus und Apartheid

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Foto: Jim G. Tobias

Die Schriftstellerin und Journalistin Ruth Weiss feiert heute ihren 100. Geburtstag

Ein Beitrag von Bavaria Judaica

Ruth Loewenthal wurde am 26. Juli 1924 in Fürth geboren. Nach einigen Jahren in Hamburg kehrte die Familie nach Franken zurück und Ruth lebte mit ihren Eltern und der älteren Schwester Margot in Rückersdorf bei Nürnberg. Dort besuchte Ruth die Dorfschule. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin und hatte bereits früh lesen gelernt. Sie führt das auf die Zeit zurück, die sie bei ihrem Großvater mütterlicherseits, einem Buchbinder in Fürth, verbrachte.

Nach dem 30. Januar 1933 änderte sich für Ruth schlagartig alles. In der Schule wurde sie ausgegrenzt und gemieden: „Ich hatte keine Schulbankfreundin mehr, und die Kinder saßen alle zusammengedrückt weit entfernt von mir.“ Ihre Schwester Margot ging schon in die Israelitische Realschule in Fürth und lebte unter der Woche bei den Großeltern, die dort um die Ecke wohnten. Am Wochenende kam sie stets nach Hause. Ruth Weiss erinnert sich, wie ihr immer alle Jungen halfen, die Koffer zu tragen und sie bis zum Gartentor geleiteten. Am Wochenende nach dem 30. Januar jedoch wurde ihre Schwester angeschrien und mit Dreck beworfen. „Ich rieche es heute noch, das nasse, feine Haar, das an diesem Abend nicht nach Seife duftete, sondern nach Mist stank.“

Die Familie zog wenige Wochen danach nach Fürth. Der Druck und die Repressalien nahmen zu. So wurde ein Onkel brutal zusammengeschlagen, da er eine Beziehung zu einer nichtjüdischen Frau führte. Er konnte nach Palästina auswandern.

Die restliche Familie blieb in Fürth. Auch Ruth besuchte die Israelitische Realschule, die sie als besonderen Lernort in Erinnerung behielt. Doch in Fürth war der Judenhass allgegenwärtig. Ruth selbst wurde zweimal nach der Schule durch die Straßen gejagt und körperlich angegriffen. Ihr Vater verlor schon 1933 seine Arbeit und nutzte eine Schiffskarte, die er von einem zuvor bereits ausgewanderten Verwandten aus Südafrika erhalten hatte. Die restliche Familie folgte drei Jahre später ins Exil und betrieb in Johannesburg nun ein Lebensmittelgeschäft.

Nur wenig später wurde auch die Emigration nach Südafrika versperrt. Ruth Weiss berichtet in ihren Erinnerungen auch von den antisemitischen Kampagnen in Südafrika insbesondere gegen die jüdischen Emigranten. Die Familie lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen, aber konnte die Privilegien nutzen, die in Südafrika nur Weißen zur Verfügung standen – vor allem im Bereich der Bildung. Mit dem allgegenwärtigen Rassenhass machte die Familie sehr schnell Bekanntschaft. In Südafrika angekommen engagierten sie eine Haushaltshilfe, wie es üblich war, ein schwarzes Dienstmädchen, das ihr Baby zur Arbeit mitbrachte. Noch am selben Tag erhielten die Loewenthals Besuch von vier Damen, die „mit Nachdruck darauf hinwiesen, dass es gegen die guten Sitten verstoße, wenn Weiße mit schwarzen Kindern spielten“. Ruths spontane Antwort sei darauf gewesen: „In Fürth durften meine Schulfreundinnen auch nicht mit mir spielen. Das verstieß dort gegen die guten Sitten.“

Nach der Schule arbeitete Ruth zunächst in einem Rechtsanwaltsbüro. Nach der Heirat mit Hans Weiss arbeitete sie in der Buchhandlung ihres Mannes. Ihre Pläne, Jura zu studieren, setzte sie nicht um, die Ehe ging später auseinander. Nach vier Jahren als Angestellte in einem Versicherungsbüro zog sie nach London, wo sie für zwei Jahre in einem Verlag tätig war. Zurück in Südafrika arbeitete Ruth erneut in einer Versicherung. Es sollte bis 1960 dauern bis sie in den journalistischen Beruf einstieg: zunächst als Business Editor beim Newscheck in Johannesburg, anschließend bei der Financial Mail.

1965 wurde Sohn Sascha geboren. Weitere Stationen von Ruth Weiss‘ beeindruckender Karriere als Wirtschaftsjournalistin waren Rhodesien, London und Sambia. In den 1970er Jahren lebte sie zeitweise mit ihrem Sohn in Köln und hatte dort den Posten als Chef vom Dienst in der Afrika-Redaktion der Deutschen Welle inne. Später lebte sie erneut in London und Simbabwe.

Ruth Weiss war zumeist als freie Journalistin tätig, schrieb Sachbücher, arbeitete an Filmen und war mit Vortragsreisen über Afrika in Europa unterwegs. Sie verfasste zahlreiche Sachbücher zu Afrika, sowie historische Romane und Kinderbücher. In Deutschland wurde die Autorin vor allem durch ihre Autobiografie „Wege im harten Gras. Erinnerungen an Deutschland, Südafrika und England“ bekannt.

Heute lebt sie bei ihrem Sohn in Dänemark. Für ihre unermüdliche Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit überreichte ihr das „PEN Zentrum ausländischer Autoren im Ausland“ im Juli 2022 in Nürnberg die Festschrift „Wandernde zwischen den Welten. Erinnerungen und Betrachtungen aus vier Kontinenten“.

In einer Feierstunde Juli 2022 wurde Ruth Weiss für ihre unermüdliche Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit im historischen Saal 600 des Nürnberger Gerichtsgebäude geehrt.
V. r. n. l. Oberbürgermeister Marcus König, Ruth Weiss, Anni Kropf (Ruth Weiss Gesellschaft), Andrei Markovits (Laudator, University of Michigan), Deborah Victor-Engländer (PEN Zentrum deutschprachiger Autoren im Ausland) – Foto: Jim G. Tobias

Nach dem Begriff Heimat befragt, antwortete Ruth Weiss vor Jahren in einem Gespräch: „Heimat, ich glaube die Heimat ging verloren, als wir, als mein Vater diesen Job verlor … Da war ein Bruch in meinem Leben.“ Dennoch gaben ihr die Kindheit in Franken und das Familienleben ein wichtiges Fundament. Die Loewenthals lebten orthodox. Später war Ruth Weiss nicht mehr so fest im Glauben verwurzelt wie als Kind. „Aber durch diese Kindheit, verbunden mit dem Geruch der Kerzen, die meine Großmutter am Freitagabend anzündete, dem Duft der frischgebackenen Berches, des geflochtenen Brotes für den Schabbat, der Erinnerung an den leeren Platz an der Tafel des Pessach-Festes – durch diese Kindheit weiß ich, dass ich Jüdin bin. Es hat etwas zu tun mit Wärme und Liebe, mit Geborgenheit und Tradition.“

Das Gefühl der Entwurzelung nach 1933 half ihr, die Situation in den afrikanischen Ländern zu verstehen: „Deswegen kann ich die Völker der Dritten Welt verstehen, die sich von ihren Wurzeln trennen müssen und neue Gesellschaftsstrukturen entwickeln und verstehen müssen, die aber in der traditionellen Gesellschaft sich ihres Platzes und ihrer Rolle sicher waren. Mir ging es ebenso.“

In ihrer neuen Heimat hatte sich Ruth Weiss vehement gegen Rassismus und Apartheid eingesetzt. Sie musste schließlich selbst Verfolgung und Repressalien befürchten und wurde letztlich zur persona non grata erklärt. Erst 1990 konnte sie wieder nach Johannesburg reisen. Ruth Weiss stand in Kontakt zu Nelson Mandela und galt lange als eine der wichtigsten afrikanischen Stimmen gegen Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus.

Als sie 1979 nach Nürnberg zurückkam und am Kirchentag über die Situation in Südafrika berichten sollte, betonte sie: „Ich erzähle auch, dass Apartheid, die Trennung von Rassen, in Südafrika keineswegs absurd ist, genauso wenig, wie es in Nürnberg damals nicht absurd war, dass ein Arier nicht mit einer Jüdin verkehren durfte.“ Für sie, die beides erlebt hatte, aus unterschiedlichen Perspektiven, ist es zur lebenslangen Beschäftigung geworden, über beides aufzuklären.

Quellen:
Ruth Weiss, Wege im harten Gras. Erinnerungen an Deutschland, Südafrika und England, Lich 2016.
Ruth Weiss, Juden und Apartheid in Südafrika, in: Jim G. Tobias/Peter Zinke (Hg.), nurinst 2008. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Nürnberg 2008.