Deutsche Lebenslügen

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Philipp Peyman Engel ist seit einiger Zeit Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, ein Wechsel, den man sehr positiv bemerkt, vor allem im Online-Angebot der Zeitung. Nun hat er auch ein Buch vorgelegt, zusammen mit Helmut Kuhn verfasst, das die Situation in Deutschland nach dem 7. Oktober analysiert. Mit sehr deutlichen Worten. Eine dringende Leseempfehlung.

Es ist, um es gleich vorweg zu nehmen, eine durchaus deprimierende Lektüre. Als Lebenslüge bezeichnet Engel es, dass Deutschland dem Antisemitismus abgeschworen hat, ihn bekämpft, das „Nie wieder“ verteidigt. Das ist wohl allen in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden klar, aber nie war es so deutlich wie seit dem 7. Oktober. Engel geht dabei mit allen politischen Richtungen hart ins Gericht. Während die „Neonazipartei AfD“ Deportationspläne schmiede, gehe die politische Linke eine „unheilige Allianz mit muslimischen und islamistischen Migranten“ ein. Die demokratische Mitte „verurteilt den Terror der Hamas – schweigt aber weitgehend ebenso konsequent wie überlaut zu den antisemitischen Exzessen gegen ihre „jüdischen Mitbürger“.“

Engels Buch ist ein sehr persönliches. Aufgewachsen als Sohn einer persischen Jüdin und einem nichtjüdischen Biodeutschen erzählt er von seiner Familie, seiner Jugend, seinem Aufwachsen im Ruhrgebiet, wo er als „Kanacke“ gesehen wurde. Obwohl Mitglied der Dortmunder Jüdischen Gemeinde wuchs Engel nicht religiös auf. Sein Judentum war geprägt durch „jüdische Literatur, Israel, Iran: Das alles hat eine riesige Rolle gespielt.“

Eingebettet in seine private Geschichte erzählt Engel von jüdischem Leben in Deutschland, zwischen Schoah-Überlebenden und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die seit den 1990er Jahren nach Deutschland kamen. Die vermeintliche Sicherheit jüdischen Lebens ist heute mehr und mehr bedroht, auch von arabisch- und türkischstämmige Migranten, deren Judenhass zum Problem wird. Der dafür sorgt, dass viele Juden in der Öffentlichkeit keine Kippa mehr tragen, jüdische Schüler gemobbt und bedroht werden. Der neue Alltag: „Wir geben unseren Kindern – für alle Fälle – auch einen nichtjüdischen Vornamen. Wir holen sie von der Kita und von Schulen ab“.

Neben den persönlichen Erfahrungen führt Engel zahlreiche tagesaktuelle Beispiele auf, sowohl für muslimischen Judenhass wie auch für den linken Antisemitismus, der seit dem 7. Oktober besonders aufblüht. Er berichtet von einem Zusammentreffen mit Claudia Roth, von seiner Israel-Reise mit Bundespräsident Steinmeier, nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Man wünscht sich, dass auch andere Journalistinnen und Journalisten es so deutlich aussprechen würden: „Das ist die Heuchelei des Frank-Walter Steinmeier: Am 9. November und anderen Gedenktagen sagt er „Nie wieder“, aber an allen anderen Tagen tritt er für Geschäfte mit dem Iran ein.“ 

Aber natürlich ist es nicht nur Steinmeier, viele Politiker machen sich zu Komplizen, seit vielen Jahren, und auch seit dem 7. Oktober. Engel spricht von einer „unerträglichen Dreifaltigkeit“: „Extreme Rechte, etablierte Politiker der großen Parteien und postkoloniale Linke würden sich niemals in einem Restaurant verabreden. (…) Wenn es aber um Israel und die Juden geht, sind sich plötzlich alle handelseinig – und nehmen ihre „Follower“ mit.“

Philipp Peyman Engels Buch ist gut zu lesen, keine komplizierten Antisemitismus-Theorien, sondern Alltagserfahrungen eines Juden in Deutschland. Das Buch ist auch für Schülerinnen und Schüler der Oberstufe geeignet, sollte Pflichtlektüre werden. „Deutschland ist ein gutes Land, trotz allem“, schließt Engel. Ein Land mit vielen großartigen Menschen, die die Wahl haben, wie es weitergehen soll. (al)

Philipp Peyman Engel, Helmut Kuhn, Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch, Dtv 2024, 192 S., Euro 18,00, Bestellen?

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