Weltanschauliche Schablone als Bedrohung für das Judentum

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Mit „Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der ‚progressive‘ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung“ von Ingo Elbe liegt erstmals eine deutschsprachige Monographie vor, welche auf die dem „Postkolonialismus“ eigenen antisemitismusrelativierenden und israelfeindlichen Schattenseiten verweist.

Von Armin Pfahl-Traughber

An einem breiteren Bewusstsein dafür, worin die fortwährenden Folgen der historischen Kolonialpolitik bestehen, mangelt es in den westlichen Ländern. Berechtigterweise kann auf entsprechende Defizite aufmerksam gemacht und hier ein notwendiges Nahholbedürfnis konstatiert werden. Dieses Ansinnen gehört zu den begrüßenswerten Gesichtspunkten des „Postkolonialismus“, der aber in seiner primären Ausrichtung schon längst in ein pauschales Negativbild vom Westen umgeschlagen ist. Bereits früh wurde gegen die „Orientalismus“-These von Edward Said angeführt, dass es nach Ian Buruma und Avishai Margalit auch einen „Okzidentalismus“ mit ähnlich ausgerichteten Verzerrungen gegen den Westen gibt. Die damit einhergehenden Auffassungen betreffen auch das Bild von Israel, wobei nicht nur einseitige Kritik, sondern auch antisemitische Stereotype auszumachen sind. Darauf macht Ingo Elbe in einer eigenen Monographie aufmerksam: „Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der ‚progressive‘ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung“.

Der Autor, Philosophiedozent an der Universität Oldenburg, nimmt darin insbesondere die westliche Linke ins Visier. Ihm geht es aber nicht um ein plumpes Bashing dieser politischen Strömung, sondern er problematisiert vielmehr die bedenklichen Aspekte des als so fortschrittlich geltenden Denkens. Folgt man der Darstellung von Elbe, so habe eine linke Identitätssuche ab Ende der 1970er Jahre zu einer Neuorientierung geführt. Insbesondere in deren akademisch geprägten Bereichen seien „Dekolonialismus“ und „Orientalismus“-Vorstellungen aufgekommen. Es heißt gar: „Inzwischen haben wir es mit einer globalisierten ideologischen Offensive gegen Israel, Holocausterinnerung und Judentum zu tun, die neben klassischen Rechten und Islamisten auch sich als links, antirassistisch und postkolonial verstehende Akteure vollziehen …“ (S. 11.) Der Autor setzt das Gemeinte nicht gleich, verweist aber auf ähnliche Inhalte und Strukturen. Eine derartige Ausrichtung sei aber auch schon in der traditionsmarxistischen Linken präsent gewesen.

Diese Aussagen werden dann in langen Kapiteln ausführlicher erörtert, wobei es bezogen auf die gemeinten „postkolonialen“ Diskurse um unterschiedliche Schwerpunkte geht: zunächst die dem Antisemitismus gegenüber erfolgende begriffliche Eliminierung, danach die Bedeutungsrelativierung des Holocaust, und schließlich die Dämonisierung des israelischen Staates. Die Auseinandersetzung erfolgt dabei mit bedeutsamen Denkerinnen und Denkern des „postkolonialen“ Spektrums, sei dies Judith Butler oder Achille Mbembe. Demgegenüber ist der gerade für die Holocaustrelativierung so bedeutsame Anthony Dirk Moses nur kurz ein Thema. In den jeweiligen Analysen geht es sehr um die Details, wobei Elbe sein ideologiekritisches „Handwerkszeug“ gekonnt einsetzt. In vielen Fällen hätten aber solche Inhalte zugunsten einer allgemeineren Zuspitzung gekürzt werden können. Dieser formale Einwand widerspricht verständlicherweise nicht den Wertungen. Gerade in der Folge des Massakers vom 7. Oktober 2023 zeigte sich deren Richtigkeit.

Der Autor begann das Buch vor diesem Ereignis, es liest sich stellenweise wie eine Deutung der politischen Reaktionen auf eben jene Verbrechen. Denn bekanntlich wurde in einschlägigen Diskursen dann Israel als „Kolonialmacht“ verunglimpft, während die Hamas mit ihren Untaten als antikoloniale „Widerstand“ wahrgenommen wurde. Immer wieder betont Elbe kritisch derartige Fehldeutungen und Zerrbilder, wobei auch Namen und Zusammenhänge konkret genannt werden. Das Buch endet mit einer beklemmenden Einsicht: „Relevante Teile der postkolonial grundierten akademischen und politischen Szene haben eine weltanschauliche Schablone entwickelt, deren Erfahrungsresistenz und aggressives Feinderklärungs-Potential zu einer Bedrohung für das Judentum im 21. Jahrhundert geworden ist“ (S. 346). Elbe legt damit eine erste kritische Studie zum Thema vor, welche den Antisemitismus-Bezug des „Post-Kolonialismus“ deutlich herausarbeitet. Berechtigt wird dieser auch als ideengeschichtliche Folge des „Postmodernismus“ verortet.

Ingo Elbe, Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der „progressive“ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung, Berlin 2024 (Edition Tiamat), 407 S., Euro 28,00, Bestellen?

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