„Der am Rand des Grabes steht, bin ich…“

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Aufzeichnungen von jüdischen Mitgliedern der Sonderkommandos von Auschwitz

Von Roland Kaufhold

Im Mai 1945 wurde im Boden des Krematoriums Auschwitz eine Blechbüchse mit Aufzeichnungen entdeckt. Das auf Jiddisch verfasste Manuskript beginnt so: »Lieber Leser, Du wirst in diesen Zeilen die Leiden und Nöte beschrieben finden, die wir, die unglücklichsten Kinder der ganzen Welt, durchgemacht haben […] in der irdischen Hölle, die Auschwitz-Birkenau heißt.« (S. 11) Verfasst waren die Aufzeichnungen von Salmen Gradowski. Aurélia Kalisky und Andreas Kilian haben Gradowskis erschütternde Zeugenschaften jetzt (2019) herausgegeben und ihre Entstehungs- und Publikationsgeschichte umfänglich beschrieben.

Chaim Salmen Gradowski: Literatur und Palästina

Chaim Salmen Gradowski wurde zwischen 1908 und 1910 im russischen Zarenreich geboren. Er wuchs in einer religiösen jüdischen Familie auf, begeisterte sich für Literatur und beteiligte sich an zionistischen Debatten über Palästina. Mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 war das Schicksal seiner Familie besiegelt, am 5. Dezember 1942 wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Chaim Salmen Gradowski wurde für das Sonderkommando selektiert. Dieses umfasste anfangs zwischen 50 und 250 Häftlinge. Die Mitglieder des Sonderkommandos waren Zeugen des systematischen deutschen Tötens. Sie lebten mit dem Wissen um ihre bevorstehende Ermordung.

Gradowski, der 22 Monate lang in dieser vom Tod bestimmten Welt existierte, verfasste in Absprache mit Freunden literarische Dokumente. Er beschrieb die Angst, die systematische Auslöschung der Persönlichkeit, die Vergasungen in allen Details. Er wusste auch um die Vorbereitungen für Widerstand. Am 7. Oktober 1944 kam es zum unkoordinierten Aufstand des Sonderkommandos mit Hämmern, Äxten und Messern. Dieser wurde nach wenigen Stunden niedergeschlagen. Drei SS-Männer und 452 Häftlinge starben, hierunter auch Chaim Salmen Gradowski.

Gradowski sprach den Leser in seinen für die Nachwelt gedachten Aufzeichnungen direkt an. Dieser werde nicht glauben, »dass Menschen es zu solch grausamem Vernichten haben bringen können«. Er schilderte die systematische Entmenschlichung der Opfer: Ihnen wurde »ihr Ich zertreten«, sie wurden »in tragisch lebende Automaten verwandelt« (S. 83 f.). Er pries den Überlebensdrang des jüdischen Volkes. Die terroristische Lebenswirklichkeit vermochte er kaum zu vermitteln: »Ein Zittern befällt uns, als wir sie sehen, die einmal Menschen waren und jetzt Schatten sind.« (S. 125) Seinen Text „Die erste Handschrift“ habe er »begraben in einer Grube von Asche. Ich hielt das für den sichersten Ort, wo man sicherlich auf dem Krematoriumsgelände graben würde. Aber letztens …« (S. 142). So endet er.

„Und dann sollst Du, Welt, Rache üben für das alles, Rache“

Die zweite Handschrift von Gradowski enthält drei Manuskripte, die ab Herbst 1943 entstanden: »Eine Mondnacht«, »Der tschechische Transport« sowie »Die Zertrennung«. Jedem Stück stellte Gradowski einen an den Finder gerichteten Brief voran. Seine Dokumentation der Vernichtung ist auch eine Aufforderung an die Nachwelt: »Und dann sollst Du, Welt, Rache üben für das alles, Rache. Das ist das einzige Ziel, das ist der einzige Zweck meines Lebens.« (S. 143) Seine eigene Familie sei am 8. Dezember 1942 verbrannt worden. Er habe nicht einmal das Privileg zu weinen, »der am Rand des Grabes steht, bin ich« (S. 146).

Der Text »Der tschechische Transport« wurde zwischen Februar und April 1944 verfasst: »Ich schreibe diese Worte in Augenblicken meiner größten Verzweiflung« (S. 157). Gradowski forderte Rache ein im Namen der in Auschwitz Ermordeten: Du »wirst Rache nehmen, Rache an den Mördern! […] Leben, leben für die Rache! Und den Namen meiner Liebsten verewigen. Ich habe Freunde in Amerika und in Israel.« (S. 157–159) Gradowski beschrieb die Stimmung im Lager: »Alles lebt nun in gespannter Erwartung.« (S. 162) Auch die »ganz kleinen Kinder« ahnten das Schreckliche. Der Vernichtungskrieg der Deutschen richte sich »gegen unser Volk Israel« (S. 181). Die wehrlosen Opfer jedoch hätten ihre Menschlichkeit nie verloren: »Unsere Herzen sind voller Mitleid. Ach!« (S. 193)

Es gab Widerstand, auch in Auschwitz, den Gradowski in seinen Aufzeichnungen dokumentiert: Kurz vor ihrer Ermordung sangen Juden die Internationale, andere die haTikvah, »anstatt zu klagen und ihre verlorenen jungen Leben zu beweinen« (S. 199). Seine Schrift Die Zertrennung widmete Gradowski »den Kameraden, den lieben Brüdern, die unerwartet weggerissen wurden« (S. 219). Sie würden in einem passenden Augenblick die Chance zu einem Aufstand nutzen, dessen ist Gradowski sich sicher. Ihr Rachedurst werde wie ein Vulkan hervorbrechen. Gradowski beschrieb einen »Sabbat voller Tränen« (S. 258): In seiner Fantasie fand er die Kraft zum erinnerten Wiedertreffen mit seiner Familie: »Wir sehnen uns nach den Brüdern, weil sie unsere Brüder sind. […] Mit ihrem Verschwinden ist der letzte Trost dahin. Ende.« (S. 259)

Marcel Nadjari: »Ich wollte und will leben, um den Tod von Papa und Mama zu rächen.«

Die Schriften Salmen Gradowskis finden sich – in einer abweichenden Übersetzung – auch in einem Band, den der in Moskau geborene Historiker und Philologe Pavel Polian herausgegeben hat und in dem auch Berichte von weiteren Mitgliedern der Sonderkommandos enthalten sind. Marcel Nadjari, 1917 in Griechenland geboren und im April 1944 nach Auschwitz deportiert, verfasste einen solchen Bericht und vergrub ihn. Er war sich sicher, dass bei Auffinden seines Textes »kein einziger Jude in Europa übrig geblieben« sein werde (S. 536

Nadjari überlebte mit viel Glück. 1947 verfasste er eine „Chronik 1941–1945“; seine eigenen, früheren, in Auschwitz vergrabenen Aufzeichnungen erwähnte er hierin nicht. Neun Jahre nach seinem Tode, am 24.10.1980, wurde die Flasche mit seinem Manuskript bei Umgrabearbeiten unweit der Ruinen des Krematoriums in 30-40 cm Tiefe entdeckt. Die 12 handschriftlichen Seiten waren nahezu unleserlich, sie waren nach 36 Jahren feucht und kaum lesbar geworden.

In seinem während seiner Gefangenschaft in Auschwitz verfassten Text schreibt er über seine ausweglose Lage und über seine unendlich furchtbare, ihm aufgezwungene Tätigkeit. Und dieser zutiefst gläubige Mensch ringt als Gefangener mit der Frage, ob es wirklich weinen Gott geben kann.

.„Fast immer, wenn sie töten, frage ich mich, ob Gott existiert. Dennoch habe ich immer an IHN geglaubt.“ Im zweiten Manuskript von 1947 erwähnt Nadjari an keiner Stelle, dass er seinerzeit Notizen am Krematorium vergraben hatte. „Er vermochte sich nicht vorzustellen, dass sein Geheimversteck gefunden würde“ (S. 526), bemerkt der Herausgeber Polian. In seinem in Auschwitz verfassten Manuskript ist sich Nadjari sicher, dass bald kein einziger Jude mehr leben wird. Verzweifelt fordert er von der Nachwelt Rache: »Ich wollte und will leben, um den Tod von Papa und Mama zu rächen.« (S. 537) »Ich bin zum Tode verurteilt von den Deutschen, weil ich jüdischen Glaubens bin« (S. 538 f.), lautet sein verzweifeltes Resümee.

„Wir alle hier erleiden Dinge, die sich der menschliche Verstand nicht vorstellen kann“, schreibt Marcel Nadjari Ende 1944.  „Unterhalb des Gartens gibt es zwei große, endlose Kellerräume. Der eine dient uns zum Auskleiden und der andere als Todeskammer, wo die Leute nackt hineingehen, und nachdem er mit etwa 3000 Personen gefüllt ist, wird er verschlossen und sie vergasen sie.“

Der griechische Häftling Nadjari beschreibt, wie die Gefangenen wie „eine wahre Sardinendose von Menschen“ zusammengepfercht wurden, und wie die Deutschen sie mit Peitschen enger aneinander trieben, bevor sie die Türen verriegelten und das Gas einließen. „Nach einer halben Stunde öffneten wir die Türen, und unsere Arbeit begann“, schreibt der Chronist der Vernichtung. Sie mussten die Leichen zu einem Aufzug tragen, der sie zu den Verbrennungsöfen brachte, wo „ein Mensch nur etwa 650 Gramm Asche ergab.“

Lejb Langfuß: Die Vertreibung

Die gleichfalls in Polians Buch dokumentierten Zeitzeugentexte von Lejb Langfuß dokumentieren das sorgfältig geplante deutsche Morden. 1910 in Polen geboren, warnte Langfuß schon vor dem Krieg vor den Deutschen. 1942 nach Auschwitz verschleppt, dokumentierte er das Lagerleben in umfassender Weise.

In seinem Text „Die Vertreibung“ schreibt und dokumentiert er den Sadismus der Deutschen und deren umfassenden, teuflischen Plan, alle jüdischen Häftlinge erst zu zerbrechen und dann zu vernichten: „In der Gewalt der blutdürstigen, mörderischen Aufseher sollten sie, gequält, ausgehungert und ihrer Seelenkräfte beraubt, sich vollkommen erschöpfen, zusammenbrechen, erkranken. Sie sollten schon allein beim Anblick eines deutschen Gendarmen vor Furcht zittern. Sie wurden bei der Arbeit angespornt und angetrieben, unter einem Hagel von Schlägen zwang man sie zu einem wilden, unmenschlichen Tempo. Den ganzen Tag lang wurden sie nach Belieben gequält, man ließ keine Gelegenheit aus, sie brutal und zynisch zu malträtieren, auf ihre Körper einzuschlagen, wovon rote und blaue Striemen zurückblieben.“ (S. 391)

Die Aufstandspläne vom Oktober 1944 trieb Langfuß mit voran. Die absolute Angst in Auschwitz beschrieb Langfuß literarisch: »Ein Gefühl der Angst hängt in der Luft. […] Ungeheure Trauer, jeder Stein war von Tränen erfüllt, alle zitterten und bebten.« (S. 392 f.)

Das Leiden ihres Sohnes Samuel in Auschwitz vermögen Lejb Langfuß und seine Frau nicht zu ertragen: »Zutiefst erschüttert und gebrochen, mit verkrampftem Herzen, mit tief niedergebeugten Köpfen, tief in Schmerz versunken, saßen wir da.« (S. 397)

Immer wieder schreibt er über den täglich beobachteten und erlebten Sadismus der Deutschen: „Am Tor stand eine besondere Abteilung Gestapos und ließ nur je zehn Menschen auf einmal durch (…) Auf beiden Seiten standen je zwei Verbrecher und schlugen jeden Vorübergehenden fürchterlich auf den Kopf, mit wildem Sadismus, der niemals genug bekommt. Das Blut spritzt dauernd wie aus einem Springbrunnen.“ (S. 417)
Seine letzte Notiz verfasste Langfuß am 26. November 1944: »Jetzt gehen wir zur Sauna, die übrigen 170 Männer. Wir sind uns sicher, dass wir in den Tod geführt werden.« (S. 455)

Salmen Lewenthal: 342 kaum noch lesbare Blätter

Salmen Lewenthal, 1918 in Warschau geboren, lebte zwei Jahre lang in der gleichen Baracke in Auschwitz wie Langfuß. Er dokumentierte als Chronist und Ankläger die Systematik der Vernichtung. Seine beiden tagebuchartigen Texte wurden erst 1961 am Krematorium III entdeckt, 342 kaum noch lesbare Blätter. Lewenthal beschrieb seine eindrücklich Schuldgefühle – die ihm und ihnen die deutschen Täter aufoktroyiert hatten: „es gab aber auch eine Zeit im selben Lager in den Jahren 41-42, als jeder Mensch, buchstäblich jeder, der länger als zwei Wochen lebte, dachte, er lebte schon auf Kosten anderer Opfer (…) anderer Menschen oder dessen, was er ihnen (…) wegnimmt.“ (S. 471)

Und: »Wir schämten uns einander in die Augen zu schauen« (S. 475). Er dokumentierte den täglichen Massenmord: »… auf den Kopf fiel er tot um. […] Das war das alltägliche Lagerleben. Jeden Tag. Tausende Ermordete, ohne jedwede Übertreibung. Buchstäblich Tausende.« (S. 472)

Er versuchte dem Nachgeborenen die absolut ausweglose und nicht nachvollziehbare Situation der Sonderkommandos zu beschreiben, deren Leidensweg: „Ich war im Lager in unterschiedlichen Kommandos, war in Auschwitz, war in Buna.“ (S. 476) Schrittweise gewöhnten sich die Häftlinge, auch die Mitglieder der Sonderkommandos, an den allumfassenden Terror, „normale Menschen mit normalen menschlichen Zügen, keine Verbrecher, keine Mörder, sondern Menschen mit Herz, mit Gefühl und Bewusstsein, an all diese Dinge haben sie sich gewöhnt, an diese eine Arbeit – aber nicht sie sind schuld daran.“ (S. 476)

Er sprach den Psychologen an, dass der vielleicht diese Hölle verstehen könne, in der einige Juden weiter lebten bis zu ihrer Vernichtung und andere bereits am Anfang den Suizid wählten, indem sie in den elektrischen Stacheldraht liefen: „Er fange an darüber nachzudenken, wie er Selbstmord verüben könne“, andere „haben es zugelassen, geführt zu werden, wie Kälber, die stärksten, die heldenhaftesten unter uns waren, waren gebrochen von der Minute an, als wir hierher gebracht worden waren.“ (S. 478)

Zum Abschluss sprach Salmen Lewenthal den »zukünftigen Historiker« (S. 505) an und appellierte, im Boden von Auschwitz nach Dokumenten zu suchen: »Suchet weiter! Ihr […] werdet noch finden.« (S. 506)

Herman Strasvogel: „Mir kommt es wie ein Jahrhundert vor…“

Herman Strasvogel (1895-1944) war ein Franzose polnischer Herkunft. 1943 wurde er nach Auschwitz-Birkenau verschleppt und musste als Sonderkommando arbeiten. Kurz vor seiner Hinrichtung verfasste er einen auf französisch verfassten Abschiedsbrief an seine Frau und Tochter. Es ist zugleich der einzige auf französisch verfasste Text eines Deportierten aus Auschwitz.

Der Brief Strasvogels („Die Hölle von Dante ist unwahrscheinlich lächerlich im Vergleich zur echten Hölle hier“, S. 507) war bereits im Februar 1945 entdeckt worden. Er war »an meine liebste Frau und Tochter« (S. 507) gerichtet; Herman Strasfogel war sich sicher, dass er nicht überleben würde. Erst 2018 konnte er als Autor identifiziert werden.

Seinem das absolute Grauen dokumentierenden, sieben Seiten langen Beitrag („Ein Brief aus der Hölle nach Hause“ (S. 511) setzt er eine dringliche Bitte an den Finder seines Dokumentes voraus:  „Gebet eines Sterbenden, diesen Brief an das Konsulat von Frankreich oder an das internationale Rote Kreuz zu übermitteln, um ihn an die angegebene Andresse weiterzuleiten. Danke.“ (S. 511) Diese Worte schrieb Strasfogel auf einem separaten Deckblatt und wiederholte diese noch einmal auf russisch.

Strasfogel berichtete über seinen Transport nach Auschwitz, das Leid und die Unmöglichkeit des Überlebens: »Seitdem sind zwanzig Monate vergangen, mir kommt es wie ein Jahrhundert vor, es ist für mich praktisch unmöglich, euch alle Prüfungen zu beschreiben, die ich hier erlebt habe.« (S. 513) Er warnte seine Frau davor, »jemals nach Polen zurückzukehren, diese für uns verfluchte Erde« (S. 513).

Er hat nahezu jede Hoffnung auf eine Befreiung und auf ein Wiedersehen mit seiner Ehefrau und seiner Tochter aufgegeben. Und doch bleibt in ihm ein winziger Funken der Hoffnung, ohne den er seine dokumentierende Tätigkeit nicht hätte fortführen können: „Seitdem ich mich hier befinde, glaube ich nicht an die Möglichkeit der Rückkehr, ich wusste, wie wir alle, dass jede Verbindung zur anderen Welt unterbrochen ist, dass hier eine andere Welt ist. (…) wir sind Augenzeuge, die nicht überleben dürfen. Bei alledem bewahre ich mir dann und wann einen Funken Hoffnung, vielleicht, durch irgendein Wunder, (werde) ich, der schon so viele Male Glück hatte, einer der Ältesten hier, der so viele Hindernisse überwunden hat, einer der zwei, die von Hundert geblieben sind, vielleicht passiert dieses letzte Wunder?“ (S. 515)

Am Ende seines Briefes notiert er: „Mein Brief neigt sich dem Ende zu, wie auch meine Stunden, und ich sage euch ein letztes Mal Lebewohl. Es ist der letzte Gruß für immer. Ich umarme euch kräftig zum letzten Mal (…) in dem Wissen, dass ihr am Leben seid und dass unser Feind verloren ist.“ (S. 516f.)

»K. L. Auschwitz, 3-Januar 1945«

Pavel Polians Band schließt ein Beitrag von Abraham Levite ab, ein außerordentliches Zeugnis der Vernichtung. Mit »K. L. Auschwitz, 3-Januar 1945« (S. 550) datiert, ist es das Vorwort einer von jüdischen Autoren in Birkenau verfassten, nicht überlieferten Anthologie Auschwitz. Levite war der einzige der Autoren, der überlebte. Er konnte im Frühjahr 1945 auf einem Todesmarsch fliehen und emigrierte nach Palästina.

Er beschrieb das kühne Vorhaben „einiger ernsthafter junger Männer“, eine jüdische Anthologie am Vorabend ihrer Vernichtung zu erstellen, „kurz vor der Liquidierung des berühmt-berüchtigten Vernichtungslagers Auschwitz.“ (S. 543) Mehrere ihrer Hefte hätten sie einigen „anständigen Polen“ anvertraut, damit diese ihre Hefte „in Flaschen an unterschiedlichen Stellen vergraben“. Nach der Shoah und der Befreiung, nach ihrem eigenen Tod sollten diese Polen die Hefte „aus der Erde holen und in jüdische Hände übergeben.“ (S. 543)

In seinem Text schrieb Levite über seinen »Drang, etwas für die Ewigkeit zu hinterlassen« (S. 545). Die Qualen der Häftlinge goss er in die Worte: »Auf den Gräbern, in denen wir lebendig begraben liegen, tanzt die Welt einen Teufelstanz, unser Gestöhne und unsere Hilferufe werden mit Füßen zerstampft.« (S. 545) Die Anthologie solle »ein Bild dessen schaffen, wie man in Auschwitz ›lebte‹« (ebd.). Gegen Ende bemerkte er: »Der Strick ist um den Hals geworfen. Der Henker […] spielt mit dem Opfer. […] Lasst uns den Augenblick nutzen, da der Henker gerade mit dem Saufen beschäftigt ist, und benutzen wir den Galgen als einen Schreibtisch.« (S. 549 f.)

Vorgestellte Bücher

Salmen Gradowski (2019): Die Zertrennung. Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos. Herausgegeben von Aurélia Kalisky unter Mitarbeit von Andreas Kilian. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 354 S., 25 Euro, Bestellen?

Pavel Polian (2019): Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz. Aus dem Russischen von Roman Richter, bearbeitet von Andreas Kilian, Darmstadt: wbg Theiss, 632 S., 48 Euro, Bestellen?

Eine erweiterte und durchgesehene Version eines Beitrages von Roland Kaufhold aus der Zeitschrift Einsicht (Heft 2020, S. 106f.), Herausgegeben vom Fritz Bauer Institut. Wir danken der Redaktion für die Nachdruckerlaubnis.

Ein weiterer Beitrag des Autors zum Thema:

Roland Kaufhold (2020): »Der letzte Trost dahin«. Mitglieder der »Sonderkommandos« von Auschwitz haben erschütternde Dokumente hinterlassen, Jüdische Allgemeine 25.6.2020; sowie auf haGalil, Juni 2020.