18. Januar 1945: Die Evakuierung von Auschwitz

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Es ist bitterkalt in diesen Wintertagen. Nachts fällt die Temperatur auf weit unter minus zwanzig Grad. Noch über sechzigtausend Menschen sind in Auschwitz in den Nebenlagern Gefangene: Die Kleidung der Häftlinge ist zerschlissen und hängt oft nur noch in Fetzen herunter. Die meisten von ihnen tragen nur Holzschuhe – keine Strümpfe: Manche haben sich Lappen zurechtgerissen, die sie um die Füße wickeln. Alle sind schwach. Schon zu lange müssen sie von den letzten Hungerrationen leben, die ihnen die SS zugesteht.

Dieses sind die Bedingungen, als der Befehl zur Evakuierung kommt. Alle Häftlinge haben ihn schon lange erwartet und gefürchtet. Sie wissen, dass die Front nahe ist. Manche planen den Ausbruch, manche wagen ihn sogar. Aber den meisten fehlen dazu die Kräfte. Sie fürchten diese Evakuierung, weil sie nicht wissen, was sie erwartet. Aber noch mehr fürchten sie hier zu bleiben, denn sie sind sicher, dass die SS keine Häftlinge in Auschwitz zurücklassen, sondern stattdessen alle töten wird: Kein Zeuge der Verbrechen darf überleben und den Alliierten berichten.

In einem letzten Kassiber an das Hilfskomitee für die Häftlinge von Auschwitz schreiben Josef Cyrankiewicz und Stanislaw Klodzinski: „Kontrolle durch das Rote Kreuz ist nötig,… damit nicht irgendeine Sonderabteilung der SS die Kranken niedermetzelt.“ Aber sie schreiben auch: „Eine derartige Evakuierung bedeutet die Vernichtung von mindestens der Hälfte der Häftlinge.“

Den Tod vor Augen versuchen die meisten der Häftlinge, selbst die Schwächsten, sich mit den anderen für den Abmarsch aufzustellen.

So verlassen am Morgen die ersten weiblichen Häftlinge Auschwitz-Birkenau. In Gruppen von 500 Frauen und Kindern eskortiert sie die SS zunächst ins Stammlager. Auch die männlichen Häftlinge in Birkenau werden von der SS in großen Kolonnen in Marsch gesetzt. Ihr Weg ist eine Odyssee durch die niederschlesischen Dörfer Richtung Westen – gesäumt von Leichen. Die SS hat den Befehl, jeden Häftling zu erschießen, der nicht mehr weiter kann. Auch die Häftlingskrankenbauten leeren sich. Wer nur immer kann, schließt sich dem Zug an. Die Ärzte haben den Befehl, alle Unterlagen zu verbrennen. Zurück bleiben nur die Schwerkranken, die sich kaum mehr rühren können. Sie liegen im bloßen Hemd auf ihren Pritschen, Selbst die spärliche Wärme, welche die Öfen bisher produzierte fällt aus. Niemand heizt mehr. Die Temperatur in den Baracken fällt unter Null Grad.

Das Lager leert sich immer mehr. Nur in den Schreibstuben ist die SS damit beschäftigt, Dokumente zu verbrennen und zu vernichten. Auch in allen Nebenlagern das gleiche Bild: Die Häftlinge verlassen in großen Kolonnen die Lager, mit ihnen die SS, nur wenige bleiben zurück. Ihre Zukunft? Manche werden tagelang umherirren, immer getrieben von der SS. Manche erreichen schon an diesem Abend den Bahnhof von Wodzislaw. Dort werden sie in offenen Güterwagen, in denen der Schnee zentimeterhoch liegt, abtransportiert. Manche fliehen: So schaffen es vier Mitglieder des Sonderkommandos, sich heimlich von den Marschierenden abzusetzen – unschätzbare spätere Zeugen für die Verbrechen in Auschwitz.

Aber die meisten Häftlinge schleppen sich mit ihrer letzten Kraft dahin in eine ungewisse Zukunft: in den Tod hier und jetzt, in ein anderes Lager, auf einen weiteren Todesmarsch. Nur auf wenige wartet die Freiheit.

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