Der Herr mit der gelben Brille

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Über die Aktualität einer fast vergessenen Erzählung von Alfred Lemm

Von Karl-Josef Müller

Geboren 1889 in Berlin unter dem bürgerlichen Namen Alfred Lehmann, starb Alfred Lemm bereits 1918 ebenda. Ein vergessener Autor jüdischer Herkunft, hätte der Regisseur Peter Zadek ihn im ersten Band seiner Autobiographie nicht als seinen Beinahe-Vater erwähnt und die Geschichte vom Herrn mit der gelben Brille in den Anhang des Buches aufgenommen. Zadeks Mutter war in erster Ehe mit Lemm verheiratet.

Entstanden ist Der Herr mit der gelben Brille wohl bereits 1915. 27 Jahre später, am 20. Januar 1942, fand in Berlin die Wannsee-Konferenz statt. Diese Konferenz ist, jenseits aller Kontroversen um ihre historische Bedeutung, das Symbol für die systematische Vernichtung des europäischen Judentums. Darüber hinaus sollte auch die Erinnerung an all diejenigen, denen eine jüdische Herkunft attestiert wurde, ausgelöscht werden.

Ein Mensch wird nicht allein ermordet, sondern hellichten Tages zum Verschwinden gebracht: “In wenigen Minuten war nichts mehr von ihm zu sehen.” Lemm hat sich intensiv mit der Stellung der Juden in Deutschland auseinandergesetzt, dennoch bleibt es den Nachgeborenen überlassen, eine Verbindung zwischen jüdischem Leben in Deutschland, der Shoa und dem Mann mit der gelben Brille herzustellen.

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„Die Armenier erdulden unerhörte Verfolgungen, die indessen nicht ihren Geist gebrochen haben, denn armenische Freiwillige kämpfen tapfer mit uns gegen ihre Unterdrücker.“

So zu lesen in der Frankfurter Neuen Zeitung vom 12. August 1915. Einen anderen Ton schlägt Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg an:

„Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“

Seine Rede zum 95. Gedenktag des Völkermords an den Armeniern 1915/16, gehalten im April 2010 in der Frankfurter Paulskirche, beginnt Ralph Giordano mit folgenden Worten:

„Heute auf den Tag vor 95 Jahren, am 24. April 1915, werden in Konstantinopel, Hauptstadt des türkisch-osmanischen Reiches, über Nacht Lehrer, Ärzte, Journalisten, Abgeordnete, Bankiers verhaftet – sämtlich Armenier, eine Elite der christlichen Minderheit, 235 Personen. Eine Zahl, die schnell auf das Zehnfache anschwillt und danach nahezu spurlos verschwindet – Auftakt zu einem bis dahin beispiellosen Menschheitsverbrechen.“

Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Alfred Lemm das Schicksal der Armenier nicht völlig unbekannt war. Gleiches gilt für den zeitgenössischen Antisemitismus im Deutschen Reich, als dessen markanter Vertreter, stellvertretend für viele Andere und für die Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung, der hessische Agitator Otto Böckel gelten darf. Mit seiner antisemitischen Partei gewann er im Reichstagswahlkreis Regierungsbezirk Kassel 5, Marburg/Frankenberg, in den Jahren 1887 mit 56,6 % und 1890 mit 64,8 % mühelos die absolute Mehrheit. 

Auf vielen Kriegerdenkmälern des Ersten Weltkrieges sind die Namen deutscher Soldaten jüdischer Abstammung zu finden, 1916 hingegen kam es zur sogenannten ‚Judenzählung‚:

„Um dem angeblich in weiten Kreisen der Bevölkerung erhobenen Vorwurf nachzugehen, dass eine unverhältnismäßig große Anzahl Wehrpflichtiger jüdischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei, sich unter allen nur denkbaren Vorwänden davor zu drücken versuche und alles tue, um nicht an der Front eingesetzt zu werden, ordnete der preußischen Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn (1860-1925) am 11. Oktober 1916 eine statistische Erhebung über die Dienstverhältnisse aller deutschen Juden an. (…) Enttäuscht und ernüchtert reagierten die meisten Juden – vor allem an der Front – auf die statistische Erhebung. In zahlreichen Tagebüchern und Frontbriefen kamen die Gefühle der jüdischen Soldaten über die Zurückweisung, Degradierung und Stigmatisierung deutlich zum Ausdruck.“

Ein Mensch kann sich nicht ohne Weiteres in Nichts auflösen. Wird er gewaltsam zu Tode gebracht, bleibt sein lebloser Körper als Beweis der Tat übrig. Doch darum geht es Alfred Lemm nicht, es geht ihm nur in erster Hinsicht um einen Mord, es geht ihm im Eigentlichen um das endgültige Verschwinden eines Menschen, dessen Verbrechen darin bestand, anders zu sein.

Ukraine, 24. Februar vor einem Jahr; Bergkarabach, 19. September; Israel, 7. Oktober. In Paul Celans Gedicht Mandorla aus dem Jahr 1961 steht das Nichts dort, wo einst eine göttliche Figur in menschlicher Gestalt zu sehen war:

In der Mandel – was steht in der Mandel?
Das Nichts.
Es steht das Nichts in der Mandel.
Da steht es und steht.

 

Der Herr mit der gelben Brille

Von Alfred Lemm (1915)

In der fünften Woche des Krieges trug sich in der Hauptstadt ein Ereignis zu, dessen keine Zeitung, wie auf eine gemeinsame Verabredung hin, Erwähnung tat. Daß die Redaktionen selbst von einem Vorfall, bei dem eine so große Zahl von Menschen, zumal aus den ersten Gesellschaftskreisen der Stadt, zugegen war, nichts erfahren haben sollten, ist höchst unglaubhaft. Eher scheint es, als ob die Redakteure, ja Menschen, die für einen glatten Ablauf des Lebens sind, die Sache zu “bergig”, zu wenig geradlinig, jedenfalls nicht erquicklich fanden und deshalb Unlust hatten, sich mit ihr zu befassen. Sie gingen wohl von der Voraussetzung aus, eine Zeitung hätte nicht die Aufgabe, bei ihren Lesern Anstoß zu erregen, und obwohl sie durchaus nicht mit Sicherheit annahmen, daß der Fall auf das Publikum so wirken werde, so taten sie, als hätten sie keine Nachrichten erhalten, um jedenfalls alle Eventualitäten, wie sie auch immer seien, zu vermeiden.

Es war an einem Sonntag zwischen zwölf und eins unter den Linden. Wie an jedem beschäftigunslosen Tage seit der Kriegserklärung waren unzählige Menschen aus allen Teilen der Stadt nach dieser Straße gezogen, um die Erregung in einen gemeinsamen Kanal zu ergießen. Geöffnet lag die große warmquellende Schlagader der kalkverdeckten Stadt.

Man mußte ja in dieser lastenden Zeit Menschen um sich haben, viele gleichgestimmte Menschen! Und daß man solches Bedürfnis auch bei den anderen sah, befriedigte – mit ein klein wenig Schadenfreude – und brachte einander noch näher. Viele Provinzler waren in die Residenz gekommen, in der das, was in der Welt geschah, doch viel deutlicher zu bemerken war. Sie wollten sich einige Stunden lang nicht nur mit den paar Miteinwohnern ihrer Stadt, sondern mit allen Volksgenossen zusammenhängend fühlen. Eine Anzahl Herren aus Neuental hatte schon verschiedentlich Passanten angesprochen und mit ihnen Freundschaft geschlossen. Einmal war es deren Heimatort Neuenberg, welcher die Anknüpfung leicht vermittelte und sogar humorvoll färbte, ein andermal die gemeinsame Erinnerung an frühere Aufenthalte in der Hauptstadt. Die immer größer werdende Fremdengesellschaft war eben im Zeughaus gewesen und hatte sich die Kanonen aus den Freiheitskriegen angesehen. Am Nachmittag beabsichtigte man in den Dom zum Gottesdienst zu gehen, und abends wollten sie in einer der modernen Bars, die im “Sonntagsboten für Neuental, Stadt und Land” ihre Wiedereröffnung angezeigt hatte, ihre Frauen betrügen.

Hin und her rinnend, mit vielen Furchen, wogte die schwarze Masse. Sie stieß bis an einen Damm, auf dem riesige zischende Autoomnibusse auf langen Gummischuhen heranschlürften, eine springende, greifende Menge hinter sich her schleifend, und rollte wieder zurück. Sie warf sich zur Seite an den Häuserwänden hoch, floß wieder ab, preßte sich nach vorn, nach hinten, erschlaffte wieder. Vor aktuellen Schaufenstern staute sich das bewegliche Element und löste sich in kleine, sich schnell drehende Strudel. Es rauschte über den Hüten von der Fülle hervorgesprudelter Beteuerungen und klatschender Ausrufe.

Nur an einer Stelle, um einen Bogenlampenmast der Mittelpromenade herum, bog sich der Strom auseinander und ließ eine Insel. Dahinter goß er sich wieder zusammen.

Dort stand ein anscheinend junger Mann und sah durch eine dichte gelbe Brille auf die Menschenmassen um sich. Er war an den großen, eisernen Mast gelehnt, die Fußknöchel gekreuzt. Die jünglingshaften Glieder waren von einem vertragenen Stoff bedeckt. Die Menschen wichen seiner sonderbaren Brille aus. Es war eine schwarze Hornbrille mit großen, runden Gläsern von einem trüben Gelb, das in Grün überging. Im Verhältnis zu einigen nur gerade angedeuteten Faltenlinien seines unteren Gesichts wirkte das dunkle Brillengestänge grob. Es schien selbstverständlich, daß die Gemütsstimmung des Herrn dieselbe grünlich-gelbe Farbe hatte wie seine Gläser. Die Aufmerksamkeit, die er erregte, war ihm wohl unangenehm. Er hatte verschiedene Male den Platz gewechselt, um ganz in der Masse zu verschwinden, aber es hatte sich stets in wenigen Sekunden wieder eine Insel gebildet. Auf der hin und her schwankenden Menschenflut schwammen die großen Brillengläser wie böse grüne Blasen.

Der Doktor Bretzhold, ein Militärarzt, war, nachdem er einige Schritte an dem Herrn vorübergegangen war, argwöhnisch umgekehrt und ging nun, seinen kleinen Sohn an der Hand führend, unausgesetzt an jenem vorbei und wieder zurück, aus dem deutlichen Empfinden heraus: Dieser Mann darf nicht aus dem Auge gelassen werden.

Doktor Bretzhold hatte sich, obwohl er das dienstpflichtige Alter schon überschritten hatte, natürlich gleich bei Beginn des Krieges gemeldet. Sein für das bessere Publikum luxuriös eingerichtetes Sanatorium hatte er der Militärbehörde in einem Brief zur Verfügung gestellt, in dem es hieß:

“Unsere verwundeten Helden müssen es besser haben als Grafen und Barone.”

Es war dann dem Kriegsministerium von den Eltern eines dort verendeten Soldaten die Beschwerde zugegangen, sie seien fest überzeugt, daß ihr Sohn noch leben würde, wenn der Chefarzt nicht streng untersagt hätte, ihn des Nachts nach zehn und vor acht Uhr morgens zu wecken – aber die Behörde konnte unmöglich an solche vom Schmerz diktierte Anschuldigungen glauben, zumal hochgestellte Persönlichkeiten, von denen der Doktor täglich einige zur Besichtigung seiner Anstalt einlud, von dem “orientalischen Marmorbrausebad” sowie der “Palmenerfrischungshalle” eines einfachen Mannschaftslazaretts geradezu entzückt waren.

Auch von der anderen Seite wurde der Jüngling mit der gelben Brille bereits beobachtet, und zwar von dem bekannten freisinnigen Abgeordneten Hildesheimer, der mit dem leisen Fluch: “Diese jungen Menschen!” stehengeblieben war.

Zu Hildesheimers Reden, die im ganzen Lande stets mit Spannung erwartet wurden, stellte die Fraktion neuerdings eine Anzahl Karten den höheren Lehranstalten zur Verfügung. Von der Sexta an aufwärts wurden die Schüler klassenweise von ihren Lehrern in den Reichstag geführt, um die abgeklärten Anschauungen dieses Mannes von Mund zu Ohr auf die neue Generation wirken zu lassen. Man wollte versuchen, so allmählich einen Ersatz für den Religionsunterricht zu schaffen.

Plötzlich fuhren die hart und lang singenden Trompetenrufe des kaiserlichen Autos, gleich vierzackigen Blitzen, die nur wegen der Mittagshelligkeit nicht zu sehen waren, niedrig über die krabbelnde Erde. Schütternd vor Eile suchten alle Köpfe nach der Schallrichtung und arbeiteten sich nach dem Rand des Dammes durch. Man hatte es ja gewußt, er würde sich heute zeigen! Ein wenig hatten es alle gehofft, als sie hierher gingen. Ihr Schicksal war ja seine Aufgabe, wie seine Väter sich wohl für das Wohl ihrer Väter eingesetzt hatten! Er erst umschloß sie alle, fühlten sie, zur wirklichen Verbundenheit; was war Vaterland ohne ihn? Es war schön, in diesen Zeiten einen Kaiser zu haben.

Während alle vorn am Fahrweg jubelten, konnte man bei dem Herrn mit der gelben Brille, der ihnen im Rücken an seinem Eisenmast einsam stehengeblieben war, eine eigentümliche, ganz unerwartete Bewegung beobachten. Er streckte den Hals und die Brust weit vor und drückte die Schultern hinten fest zusammen. Seine Finger atmeten schnell. Der Mund öffnete sich zu einem saugenden Gefäß, und der Kopf legte sich in den Nacken, so daß die großen grünen Augenscheiben in die Höhe gehoben wurden: es sah aus, wie wenn ein Blinder in den Himmel will.

Als die Menge sich schnell wieder ausbreitete, stand er wie vorher, regungslos den Kopf vielleicht ein wenig tiefer gesenkt, und betrachtete durch seine gelbe Brille die Umgebung.

Eine große Gehobenheit hatte die noch vorhin in Reihen geregelten Massen von oben durcheinandergerührt. Man drängte sich zu Knäueln zusammen, rief sich Freudenworte zu. Staub wirbelte vom sandigen Boden hoch. Viele hakten sich mit den Armen zu langen Ketten ein. Lauter und sicherer erfüllten die Unterhaltungsgeschreie die Luft. Junge Paare faßten sich fester an den Händen und schritten schneller aus.

Der Herr mit der gelben Brille fiel in diesem Glück höchst unangenehm auf. Eine Anzahl Leute blieb stehen und sah mit Befremden nach ihm. Andere folgten den Blicken und unterbrachen gleichfalls die Schritte. Die Provinzlergesellschaft, welche durch Einheimische beträchtlich verstärkt war, hatte der Anblick des Monarchen in eine – soweit die schwere Zeit solches überhaupt zuließ – fast übermütige Stimmung gebracht. Sie kamen, die Stöcke schwenkend und gelegentlich auf den Hacken eine Drehung ausführend, auf den Auflauf um den sonderbaren Herrn zu. Unwillig hielten sie an. Einige von ihnen erkannten Hildesheimer von seinen Wahlreden her – in der Gegend von Neuental wohnten seine sichersten Wähler – , man schloß sich erregt ihm an.

Jawohl, man sei schon seit einer ganzen Zeit auf jenen Menschen aufmerksam geworden! Man wüßte wirklich nicht, was man davon denken sollte!

“Na eben”, stimmten alle Damen bei. Es seien hier Vermutungen am Platze, die man lieber nicht laut aussprechen wolle. Jedenfalls könne dem auffälligen Herrn dort nicht dringend genug geraten werden, sich in acht zu nehmen.

Ein Student mit einem scharf geschliffenen Kneifer, der seine ganze freie Zeit mit gemeinnützigen Dingen ausfüllte und auch auf der Straße immer nach solchen ausschaute, schlug mit seinem Spazierstock auf das Pflaster, daß es schallte, und rief:

“Das ist wieder eins von jenen Insekten, welche an dem gesunden Körper unseres Volkes fressen.”

“Ich und meine Partei”, sagte Hildesheimer erregt, “sind gewiß nicht für Ausnahmegesetze – aber in diesem Fall …”

Der Militärarzt Doktor Bretzhold hatte seinen viereckigen Oberkörper, der über braunen, die Waden fest umschließenden Lederstulpen noch mächtiger erschien, zu der Ansammlung hinübergeschoben. Er hatte eine grimmige Gesichtsbildung aus viel Knochen und Fleisch, in dem sich kleine, nasse Augen schwarz und fast lustig vor Lebhaftigkeit bewegten. Er meinte nur:

“Lümmel. Schutzmann holen.”

Der Jüngling mit der gelben Brille schien nicht zu bemerken, wie drohend die Stimmung um ihn wurde. Seine unteren Gesichtszüge waren, soweit man dies bei den verdeckten Augen beurteilen konnte, mit Traurigkeit beschäftigt.

Als der Schutzmann kam, drängte sich alles um ihn.

“Die ganze Zeit”, rief man, “steht er auf demselben Fleck und glupscht uns durch seine grünen Augen an. Wir sind doch keine Schuljungen!”

“Schutzmann”, sprach diesen der Abgeordnete Hildesheimer an, “Sie haben uns aufzuklären, was die Absichten dieses Menschen sind! Dazu hat sie der Wille des Volkes erwählt!”

“Zuerst hat er etwas weiter unten gestanden. Wir können bezeugen, daß er erst weiter unten gestanden hat!” schrien andere.

“Ich verlange, daß der Mann eingesperrt wird”, sagte der Militärarzt fest.

“Meine Damen und Herren” – der Schutzmann wandte den Kopf hin und her. “Sie wissen alle, wie gern wir Ihnen gefällig sind und einschreiten. Dazu in einem Fall wie diesem. Aber wir haben noch nichts Sichtbares. Sehen Sie, meine Herren, für die Behörde ist das Sichtbare die Hauptsache. Ohne dieses können wir nicht einschreiten. Doch ich gebe Ihnen den Rat, nach dem wir stets vorgehen: Aufpassen, bis der Verdächtige etwas Verdächtiges tut! Dann schicken Sie wieder zu mir, und ich schreite mit Vergnügen ein.”

Der Polizist entfernte sich schnell. Hildesheimer brüllte ihm nach:

“Ich ersuche Sie um Rückäußerung, warum wir, die Bürger, unsere Steuern bezahlen”

Es war dies die berühmte Sentenz des Abgeordneten, die er auf der Höhe einer jeden Rede, wenn der Sieg ein vollkommener sein sollte, in seine Zuhörerschaft schleuderte. Dieser Satz hatte seine ganze beispiellose politische Laufbahn begründet.

Sofort wuchs die Erbitterung im Publikum bedeutend. Infolge des Erscheinens des Schutzmanns waren die Menschen scharenweise von allen Seiten herbeigelaufen. Eine große empörte Ansammlung stand nun in rund geschlossenem Wall um den Herrn mit der gelben Brille. Der wurde etwas unruhig.

Einige stießen heraus:

“Wir sollen nur immer zahlen, verlangen wir aber einmal, daß der Staat seine Pflicht tut …”

“Wir haben das Recht auf Schutz vor derartigen Anblicken.”

“Wenn der Staat die vitale Forderung des Volksganzen”, rief der Student, “überhört …”

“Dann hat der Bürger”, schrie Hildesheimer, “das Recht, sich selbst zu schützen! Ich verweise Sie auf Goethe, der in seinen ‚Wanderjahren‘ …”

Man rief:

“Sehen Sie sich doch diesen Menschen an! Er bezweckt nichts als Herausforderung! Man wäre ja geradezu verrückt, sich das gefallen zu lassen!” Die Menge rollte sich vor Zorn zusammen und wieder auf. Mühsam verhalten beredete man, was zu beginnen sei.

“Herr Abgeordneter,” der große Militärarzt reichte Hildesheimer über mehreren Köpfen die Hand, “ich gehöre politisch nicht zu den Ihren, aber in dieser Angelegenheit, denke ich, marschieren wir zusammen.”

“Wir werden Barrikaden bauen!” rief Hildesheimer leise, doch fast jauchzend, und stürmte auf einem kleine Terrain hin und her.

Dichter drang der Menschenwall auf den angelehnten Jüngling ein. Böse Worte fielen. Die unteren Gesichtszüge des sonderbaren Mannes schienen wohl angespannt, aber waren unbewegt.

Daß die gelben Gläser offenbar ganz ruhig in das Gewühl blickten, reizte zur Wut.

“Verdammte melancholische Fratze”, sagte der Student.

“Man muß ihm seine Brille zerklopfen.”

“Haut ihm die Brille herunter!” Die Menschenmassen stießen nach vorn. Die Vordersten konnten sich nicht mehr halten.

“Mit Gott, für König und Vaterland”, sprach der Militärarzt und tat den nötigen Schritt dicht vor den Herrn.

Der Jüngling mit der Brille hob unsicher und wie lauschend das Gesicht höher. Deutlich zeigten sich die zarten Faltenlinien, die sich von der Nase abwärts nach dem geschwungenen Munde bogen. Wie ein fremdländisches Gewächs hafteten unter der Stirn an den schwarzen Hornstengeln die gelbgrünen Gläser, die von den wühlenden Menschenfüßen schon mit Staub überzogen waren.

Der Doktor hob seine Faust und schlug den mächtigen Knochen dem Herrn auf das eine gelbe Auge. Es gab ein sonderbar knirschendes Geräusch, wie wenn man auf ein unter Glas verwahrtes Lebewesen tritt – oder vielleicht auf eine Auster. Mischung aus Geräuschen von entzweigehendem toten und lebendigen Stoff.

In demselben Augenblick brach der Haufen entfesselt auf den Herrn ein. Jeder suchte zuerst nach den gelben Brillengläsern zu schlagen; in dem einen Auge stak noch eine Scherbe. Der Student zog seinen harten Rohrstock unaufhörlich auf dem Herrn über den Kopf. Mit Fäusten, Stiefeln, Stockkrücken, Handtaschen, Paketen warf man sich über ihn.

Ein Bezirksvorsteher, Vorsitzender im Waisenrat, kommandierte seine Bulldogge dem Herrn an die Beine.

Ein Professor, der gerade von seiner “Rede in schwerer Zeit” kam, stach mit dem Schirm der Gattin auf ihn ein.

Der breitbackige Junge des Militärarztes säbelte mit seinem Kinderdegen, den ihm sein Vater gleich am Tag der Mobilisation geschenkt hatte, auf alle seiner Größe erreichbaren Teile.

Ein großer, dunkler Strudel wälzte sich auf und um einen saftblutenden Körper, der immer undeutlicher wurde. Hildesheimer und die Provinzler hatten sich die Jacken ausgezogen und arbeiteten in Hemdsärmeln.

“Wie Anno 48”, keuchte der Abgeordnete selig. Damen, die nur ein wenig von hinten schoben, riefen:

“Dieses Temperament! Dieses Temperament!” Alle traten, stampften, schlugen, rissen nach der Gegend, wo man den Herrn mit der aufsässigen Brille vermutete. Er wurde zerknäult, zerquetscht, zerrührt, zerstreut. In wenigen Minuten war nichts mehr von ihm zu sehen.

Die starken Männer standen hochatmend still. Es war ihnen frisch zumute. So gekräftigt fühlten sie sich! – wie nach dem Kegeln.

Doch daß man nun gleich auseinanderginge – dazu war die Begeisterung zu groß. Hatten sich doch viele in der aufregenden Stunde angefreundet und fühlten das Bedürfnis, sich näher kennenzulernen. So begab man sich in einen nahen Bierpalast. Dort erging man sich unter dem Vorsitz des bekannten Abgeordneten Hildesheimer noch lange in Erinnerungen wie:

“Haben Sie gesehen, wie ich ihm den Hals herunterbog und den Kopf auf den Sand schlug?”

“Wir hatten doch sofort das gleiche Empfinden diesem Individuum gegenüber.”

“Ich versichere Sie, wo ich hingegriffen habe …”

Schließlich mochte man nicht scheiden, ohne durch ein festes Band zusammengehalten zu werden. Auf den Vorschlag des Militärarztes wollte man jeden Monat einmal am heutigen Tage zusammenkommen und gab der ganz formlosen Gründung – “um Gottes willen keine Vereinsmeierei” – die schlichte Bezeichnung “Geselligkeit 6. IX. 14”.

Als der Schutzmann, etwas unruhig, wie die Sache ausgelaufen sei, an den “Linden” vorbeiging, fand er keine Spuren des Vorfalls mehr. Da es ein Uhr geworden war, stand man allgemein mit dem Lesen der Mittagszeitung beschäftigt, die eine fesselnde Plauderei über die würdige Anlage von Massengräbern brachte.

“Also alles in Ordnung”, dachte der Schutzmann und sprang auf einen der vorbeifahrenden Autoomnibusse, deren Verdecke seit einiger Zeit die Umschrift trugen: “Wer unsere Brüder, die für uns ihr Blut hingeben, wahrhaft liebhat, sendet ihnen Emmerichs Kraftkakao.”

aus: Mord, Band II, Versuche. München 1918

Alfred Lemm (* 6. Dezember 1889 in Berlin; † Oktober 1918 ebenda; eigentlich Alfred Lehmann) war ein deutscher expressionistischer Erzähler und Essayist. Er war Mitarbeiter der Zeitungen Neue Rundschau und Vossische Zeitung. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee beigesetzt.

Werke:

Der fliehende Felician. Roman. Müller, München 1917
Vom Wesen der wahren Vaterlandsliebe. Heinz Barger, Berlin 1917 (Schriften gegen die Zeit Heft 3)
Mord. 2 Bände (Bd 1: Erzählungen. Bd 2: Versuche) Roland Verlag Albert Mundt, München 1918. (Die Neue Reihe Bd 10 und 11)
Der Weg der Deutschjuden. Eine Skizzierung. Der Neue Geist Verlag, Leipzig [1919] (= Der neue Geist, Heft 13).
Außerdem Beiträge in Das Forum. Herausgeber: Wilhelm Herzog. Jahrgang I, April 1914 – März 1915 und Zeit-Echo. Herausgeber: Otto Haas-Heye. Jahrgang II. Heft 8, 1915/16