Diese Betrachtung zum Laubhüttenfest von Rabbiner Viktor Kurrein erschien 1926 in der Zeitschrift „Die Wahrheit“. Kurrein war, wie schon sein Vater Adolf Kurrein, Rabbiner in Linz und konnte 1938 nach England fliehen.
Die Hoschana.
Eine Betrachtung zum Laubhüttentest.
Von Dr. V. Kurrein, Rabbiner in Linz.
Erschienen in: Die Wahrheit, Heft 40-41 (22.9.1926)
Die Hoschana, das Bachweidensträußchen, ist dasjenige Symbol des Laubhüttenfestes, worüber am wenigsten gesprochen wird und sich auch wenig sagen läßt. Der Grund dafür ist nicht schwer zu finden. Die Palme ist Schönheit, die Myrthe hat Duft, der Ethrog ist die Frucht samt Duft — die Bachweide hat nichts von alledem, weder Schönheit, noch Frucht, noch Duft. Wer nichts hat und sich keiner Vorzüge rühmen kann, hat in der Regel nichts zu sagen und über den ist nichts zu sagen. Er ist schnell vergessen, welkt schnell dahin wie die Bachweide, die schneller welkt als die anderen drei mit ihr im Feststrauße verbundenen Arten. Die Bachweide, so sagen die Alten, gleicht den Israeliten, die sich weder der Gelehrsamkeit, noch der guten Werke rühmen können — also was könnte, was hätte man von einem Israeliten zu sagen, der auch diese Tugenden nicht besitzt? Nichts! Er mag da sein, da sein müssen, sogar mitzählen, aber — zu sagen hat er nichts.
Trotzdem waren die Bachweidenzweige ein wichtiger Bestandteil für die Festfreude und im Talmud wird berichtet, daß die Bachweiden an einem Orte unterhalb Jerusalems, der Mozo hieß, wuchsen. Alljährlich wurden sie von dort geholt und dann ringsum den Altar aufgestellt, so daß sich ihre Spitzen dem Altäre zuneigten. Mußte man mit Rücksicht auf Sabbat die Zweige bereits einen Tag früher holen, so wurden sie in goldene Krüge gestellt, damit sie nicht welkten. Höchst merkwürdig ist, daß unter allen Pflanzen und Blumen gerade die Bachweide, die keine Vorzüge besitzt, gewählt wurde, und noch mehr, daß sie sogar in doppelter Verwendung vorkommt, erstens beim Feststrauß, dem zwei Weidenzweiglein zugebunden werden, und zweitens am Hoschana rabba als ein besonderes Symbol als Hoschana, das Weidensträußchen, das die großen Bitten an Gott begleitet.
Diese Stellung und Würdigung hat die Bachweide offenbar deshalb gefunden, weil sich ihre Spitzen neigten, weil sie sozusagen ihr Haupt demütig beugen konnte. Tatsächlich ist die Bachweide das Symbol demütigen Gottvertrauens. Deshalb darf sie im Feststrauße nicht fehlen und deshalb begleitet sie unsere großen Bitten an Gott und deshalb durfte sie den Altar umkränzen, denn, wie schon der weise Salomo sagt, „der Lohn der Demut ist Gottesfurcht“.
Nun ist Sukkoth das Fest des Einsammelns, des Besitzes und Reichtums und dafür ist die stolze Palme, die dem aufrechten Rückgrat des Menschen gleicht, das rechte Symbol, denn „das Geld stellt den Menschen auf seine Füße“, gibt ihm Halt und Rückgrat. Sukkoth ist aber auch das Fest der Freude, wofür die Myrthe mit ihrem dauernden, saftreichen Grün, mit ihrem Duft ein geeignetes Wahrzeichen ist, und schließlich ist es das Fest des Genusses und des Genießens, zu dem der Ethrog, die Frucht vom prächtigen, prangenden Baume gar wohl paßt. Die Bachweide aber hat nichts, sie ist die Armut beim Reichtum! Sie hat nur ihr Gottvertrauen, denn „Gott wendet sich dem Gebete des Verlassenen zu und verschmäht nicht dessen Gebet.“ Sie wächst am Bache und Gott gibt ihr das Wasser, das ihren Boden tränkt; sie ist der Baum, „der am Wasser gepflanzt ist“. Gott ist ihr Reichtum und ihr Gottvertrauen ist ihr Ruhm. Darum darf sie als Symbol im Bunde nicht fehlen. Alle vom Glücke weniger Begünstigten, alle mit äußeren Vorzügen wenig Bedachten, Schicksalsgenossen und -genossinnen der Bachweide sollen durch sie einen Trost erhalten.
Und ihrer sind viele. Könnte man in alle Herzen blicken, wenn es zum Feste des Einsammelns kommt, alle Gedanken lesen, wenn Segen, Besitz, Reichtum, Vorzüge und Güter verteilt werden, man würde finden, daß alle beteilt, bedacht sein wollen, niemand zurückstehen, leer ausgehen will. Der eine wünscht den Ethrog, der andere die Palme, ein dritter die Myrthe — die Bachweide will niemand, ihr Schicksal sucht keiner! Solange die Welt steht, ist es so. Jeder will haben, niemand entbehren. Selbst die Engel im Himmel stritten, so erzählt eine alte Sage, als Gott den Menschen schuf, denn sie wollten die Tora für sich und nicht, daß sie die Menschen bekämen. Der Mond stritt, als Gott Sonne und Mond erschuf, denn er wollte an Rang und Helligkeit nicht zurückstehen. Mit dem Gottvertrauen allein sind die wenigsten zufrieden und zufriedengestellt. Vielleicht aber hat gerade darum die Bachweide im Feststrauß und am Bittfeste ihren Platz gefunden, denn all die bevorzugten Geschwister — ob Ethrog oder Myrthe oder Palme — sie teilen doch auch einmal, früher oder später das Schicksal der Hoschana, auch sie werden einmal nicht mehr begehrenswert, nicht mehr wertvoll. Was bleibt dann?
Der alte Brauch hat bestimmt, daß man die Hoschana zum Schlusse abklopft, daß die Blätter zur Erde fallen, als ein Symbol für die Sünden, die schwinden, vergehen und verziehen sind. Das demütige Gottvertrauen findet diesen Lohn, der einmal im Leben jedes Menschen sehr begehrt ist und größten Wert gewinnt. Freilich, solange wir genießen, irdischen Besitz, unseres Leibes Kraft und Schönheit unser eigen nennen, denkt niemand ans Welken, an Sündenvergebung und an die große Bitte, aber des Menschen ganzes Leben ist nur ein Hüttenfest, ein Hüttenbauen, ernten, erwerben und genießen, dem endlich ein „Schlußfest“ folgt. Darum ist es ein schönes Wahrzeichen, daß wir vorher die Hoschana, das demütige Gottvertrauen an unseren Feststrauß binden, daß den welken Blättern gleich die Sünden des Lebens fallen und wir sprechen: „O Herr, hilf uns!“