Geplatzte Träume

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Vor genau 30 Jahren gaben sich Israels Ministerpräsident Yitzhak Rabin und PLO-Chef Yassir Arafat in Washington auf dem Rasen des Weißen Hauses die Hände. Das war einer der Höhepunkte des Friedensprozesses von Oslo. Doch was so hoffnungsvoll begann, sollte gnadenlos scheitern.

Von Ralf Balke

Am Anfang war die Sackgasse. Als im Oktober 1991 auf Initiative der Vereinigten Staaten sich Delegationen aus Israel, Syrien, dem Libanon sowie Jordanien plus eine Delegation der Palästinenser in Madrid zu einer Friedenskonferenz trafen, waren die Erwartungen hoch gesteckt, dass es zu einer Lösung des jahrzehntelangen Nahostkonflikts kommen könnte. Doch nach zehn weiteren Folgekonferenzen, die alle ohne ein greifbares Ergebnis endeten, war klar, dass nicht viel passieren würde. Was aber niemand seinerzeit auf dem Radar hatte: Unbemerkt von aller Welt hatten fernab in Oslo dank der Vermittlung norwegischer Politiker in den ersten acht Monaten des Jahres 1993 etwa fünfzehn geheime Treffen stattgefunden. Mit von der Partie damals waren Vertreter der PLO sowie der stellvertretende israelische Außenminister Yossi Beilin und der Historiker Yair Hirschfeld aus Haifa. Selbstverständlich waren Ministerpräsident Yitzhak Rabin und PLO-Chef Yassir Arafat ab einem bestimmten Zeitpunkt über diese Gespräche informiert, nahmen aber persönlich nicht direkt daran teil und bewahrten Stillschwiegen – allein das ein kleines Wunder.

Das sollte erst anders werden, als konkrete Ergebnisse sich abzuzeichnen begannen. Zunächst aber galt es, psychologische Barrieren zu überwinden. Schließlich stellten direkte Kontakte zwischen der israelischen Regierung sowie der Palästinenserorganisation einen Tabubruch dar. Beide Seiten hatten sich über Jahrzehnte hinweg gegenseitig als Inkarnation des Bösen verteufelt, weshalb einige grundsätzliche Fragen geklärt werden mussten, bevor die israelische und die palästinensische Öffentlichkeit über diese Treffen informiert wurden. Dieser erste Schritt war die gegenseitige Anerkennung ihrer Existenz und die Bejahung eines friedlichen Lösungsweges, wofür die PLO erst einmal einige Passagen aus der palästinensischen Nationalcharta streichen musste, in denen vom bewaffneten Widerstand gegen Israel die Rede war.

Damit war das Eis endgültig gebrochen. Erstes greifbares Ergebnis der Gespräche hinter verschlossenen Türen in Oslo war die feierlich am 13. September 1993 in Washington unterzeichnete „Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung“. Die eigentliche Sensation sollte der Moment sein, an dem sich die Gegner von einst, Yitzhak Rabin und Yassir Arafat, vor laufenden Kameras anfänglich zögerlich, dann aber recht fest die Hände schüttelten. Das später als „Oslo-I-Abkommen“ bezeichnete Vertragswerk umfasste darüber hinaus das am 29. April 1994 in Paris unterzeichnete „Protokoll über die wirtschaftlichen Beziehungen“ und das am 4. Mai 1994 in Kairo ratifizierte „Gaza-Jericho-Abkommen“. In dessen Folge zog der PLO-Chef am 1. Juli 1994 in einem Triumphzug samt seinen Mitstreitern aus dem tunesischen Exil nach Jericho und Gaza, um dort den Aufbau dessen einzuleiten, was heute immer noch Palästinensische Autonomiebehörde heißt, aber seit Jahren in Ramallah seinen Sitz hat.

Das „Oslo-I-Abkommen galt eigentlich als ein Fahrplan für die kommenden fünf Jahre, in denen die Palästinensische Autonomiebehörde, die von den Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen gewählt wurde, peu à peu weitere Gebiete kontrollieren sowie einen eigenen Polizeiapparat aufbauen sollte. Alle heißen Eisen, also die Frage nach dem Status von Jerusalem, die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge sowie die Zukunft der israelische Siedlungen wurden ausgeklammert. Man sah in ihnen zu viel politischen Sprengstoff, weshalb diese Punkte nicht sofort, sondern sukzessiv bis zum Mai 1999 geklärt werden sollte, was – wie sich dann zeigen sollte – nie geschehen sollte. Nur die Einflusssphäre der Palästinensischen Autonomiebehörde konnte erweitert werden, was in einem Vertragswerk, das Yitzhak Rabin und Yassir Arafat am 28. September 1995 unterzeichneten und das als „Oslo-II-Abkommen“ in die Geschichte einging, geregelt wurde.

Damit war bereits seit dem 13. September 1993 eigentlich das auf dem Tisch, was alle Beteiligten fortan als die „Zwei-Staaten-Lösung“ bezeichneten, und zwar die beiderseitig anerkannte Existenz des jüdischen Staates Israels neben einem palästinensischen. Viel war in diesen Jahren über einen Neuen Nahen Osten zu lesen, einer endlich zur Ruhe kommenden Region, die es dank des Friedensprozesses und baldiger Wirtschaftskooperationen mit weiteren arabischen Staaten zu einem Wohlstand bringen wird, der die kriegerischen Auseinandersetzungen von einst vergessen lässt. Selbst dem Gazastreifen attestierte man, das Potenzial eines zweiten Singapurs zu haben. Erfüllen sollte sich keine dieser Visionen. Und dafür gibt es zahlreiche Gründe. Der erste und weitaus gravierendste war die Anschlagserie der radikal-islamistischen Hamas, die bereits im Herbst 1994 einsetzte. Ihr suizidaler Terror stellte eine Belastungsprobe für die israelische Gesellschaft dar, die immer mehr Opfer zu beklagen hatte, was eine Zustimmung auf israelischer Seite für „Oslo“ schwinden ließ. Und der Mord an Ministerpräsident Yitzhak Rabin im November 1995 war ein weiterer Schlag, weil die danach in Amt gewählte Likud-Regierung mit dem neuen Premier Benjamin Netanyahu eine Blockadepolitik initiierte, die alle weiteren Fortschritte weitestgehend hemmen sollte.

Doch erst das Scheitern der Gespräche von Camp David im Sommer 2000 sollte das endgültige Aus für „Oslo“ einleiten – auch wenn es für eine kurze Zeit damals noch so aussah, als ob der Nahostkonflikt endgültig ad acta gelegt werden könnte. Zwei Wochen lang rangen unter Vermittlung von US-Präsident Bill Clinton Netanyahus Nachfolger Ehud Barak sowie Yassir Arafat um eine abschließende Lösung. Die Israelis präsentierten einen Plan, der den völligen Rückzug aus knapp 92 Prozent des Westjordanlands vorsah. Drei große Siedlungsblöcke, in denen 80 bis 90 Prozent der israelischen Siedler lebten, wollte man zum Teil des jüdischen Staatsgebietes machen, der zukünftige Staat Palästina entsprechend mit unbewohntem israelischen Territorium kompensiert werden. Ebenfalls sollte dieser die Souveränität über einige Stadtteile Ostjerusalems erhalten, sogar über die Kontrolle des Tempelbergs schien man sich einig zu sein. Ehud Barak brach damit ein weiters Tabu, nämlich die Aufgabe der Alleinherrschaft Israels über Jerusalem.

Dennoch scheiterte Camp David, weil Yassir Arafat dem allem nicht so zustimmen wollte. Über die Gründe wird bis heute gestritten. Zwar hatte Israel so weitreichende Konzessionen wie niemals zuvor gemacht, aber das Verhältnis zwischen Ehud Barak und dem PLO-Chef befand sich damals zugleich auf einem Tiefpunkt, weil mehrfach ein weiterer versprochener Rückzug Israels aus dem Westjordanland nicht stattgefunden hatte und ein „Alles-oder-Nichts-Deal“ Yassir Arafat, der auf die für Israel absolut unakzeptable Forderung nach einem Rückkehrrecht aller damals 3,6Millionen palästinensischen Flüchtlinge beharrte und letztendlich sich aber nicht aus seiner Rolle als ewiger Guerrillero herauskam, nicht behagte. Zudem gingen beide Seiten in die Verhandlungen, ohne sich wirklich Gedanken über mögliche Rückzugspositionen zu machen für den Fall, dass die Gespräche ins Stocken geraten. Damit war „Oslo“ eigentlich schon Geschichte. Den endgültigen Todesstoß aber erhielt der Friedensprozess durch die kurz nach Camp David einsetzende sogenannte Zweite Intifada, die Tausende Israelis das Leben kosten sollte. Palästinenserpräsident Yassir Arafat nahm zu dem suizidalen Terror, der ebenfalls von ihm nahe stehenden Milizen ausging, eine – höflich formuliert – ambivalente Haltung ein, verurteilte Anschläge zwar, ging aber nicht gegen ihre Urheber vor. Und unter den Palästinensern verlor er zunehmend an Zustimmung, weil seine Autonomiebehörde diktatorische Züge annahm, repressiv gegen ihre Kritiker vorging und sich darüber hinaus in die genau Kleptokratie verwandelt hatte, die sie heute noch ist.

Offiziell gehört die Zwei-Staaten-Lösung weiterhin zum Mantra der Außenpolitik Deutschlands wie auch der Europäischen Union. Dabei wissen alle Beteiligten längst, dass sich in Israel seit der Jahrtausendwende kaum noch jemand finden lässt, der sich auf das Abenteuer „Oslo 2.0“ einlassen würde. Dafür haben auch die Erfahrungen mit dem einseitigen und vollständigen Rückzugs Israels aus dem Gazastreifen gesorgt, in deren Folge man schwerlich von einem Zugewinn an Sicherheit reden kann. Der Raketenterror der Hamas und des Islamischen Jihads dürften jeden territorialen Kompromiss Israels auf viele Jahre unmöglich machen – schließlich will niemand in Israel ein zweites Regime nach Muster im Gazastreifen in unmittelbarer Nachbarschaft haben. Und auch die Palästinenser sind desillusioniert. Ihre Autonomiebehörde wird von vielen nur noch als ein korrupter Handlanger der Israelis wahrgenommen. Und angesichts der in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu beobachtenden Expansion israelischer Siedlungen im Westjordanland macht man sich wenig Hoffnungen, da sich daran etwas ändern wird.

Dafür scheint eine neue Zwei-Staaten-Lösung eine Option zu sein, und zwar eine, an deren Gestaltung und Form die Palästinenser vielleicht nur noch als Zuschauer agieren. Denn die Abraham Abkommen haben sich definitiv zu einem Gamechanger entwickelt. Viele arabische Staaten, die früher einen Rückzug Israels aus allen 1967 eroberten Gebieten sowie eine palästinensische Eigenstaatlichkeit als Grundvoraussetzung für die Normalisierung ihrer Beziehungen mit Jerusalem nannten, haben sich von dieser Position verabschiedet und intensive Kontakte mit Israel aufgebaut. Die Wahrung der Rechte der Palästinenser und die Solidarität vieler arabischer Staaten mit ihrem Anliegen sind in diesem Kontext endgültig zu verbalen Floskeln geworden. Das könnte anders werden, wenn Saudi Arabien sich den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Bahrain anschließt und Israel ebenfalls anerkennt. Riad ist aber ein anderes Kaliber und dürfte durchaus in der Lage sein, Forderungen nach mehr palästinensischer Eigenstaatlichkeit durchzusetzen. Eine solche wird dann wohl eher zwischen Riad und Jerusalem verhandelt und weniger mit Ramallah, geschweige Gaza. Wie diese dann konkret aussehen würde, darüber kann man nur spekulieren. Zu so hoffnungsvollen und feierlichen Szenen wie vor 30 Jahren in Washington wird es dabei wohl kaum kommen.