Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart

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Das „Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien“ (CARS) veröffentlicht mit „Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart“ einen Sammelband, der die ersten für das CARS entstandenen zwölf Working Papers präsentiert. Es handelt sich um gelungene und informative Aufsätze, welche unterschiedliche Aspekte des gegenwärtigen Antisemitismus ansprechen. Eine ausführliche Einleitung stammt darin von dem Leiter Stephan Grigat.

Von Armin Pfahl-Traughber

2020 wurde das „Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien“ (CARS) an der „Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen“ gegründet. Eines seiner Aufgaben ist die Veröffentlichung von Working Papers, die sich mit den unterschiedlichsten Gesichtspunkten des Antisemitismus beschäftigten. Die ersten zwölf Beiträge erschienen jetzt in dem Sammelband „Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart. Erscheinungsformen – Theorien – Bekämpfung“, herausgegeben von dem bekannten Antisemitismusforscher Stephan Grigat, der auch das CARS leitet und eine Professur an der genannten Hochschule inne hat. Den angesprochenen Abhandlungen stellt er eine lange Einleitung voran, in ihr wird auch der eigentliche Forschungsansatz deutlich. Die Analyse des Antisemitismus erfolgt aus der Blickrichtung der Kritischen Theorie, womit die Kritik an den konstitutiven gesellschaftlichen Ursachen verbunden ist. Grigat betont hierbei, dass Antisemitismus eben kein bloßes Vorurteil sei. Eine Besonderheit der gemeinten Judenfeindschaft bestehe darin, dass die Abneigung gegen die abstrakte Dimension der Ökonomie hier relevant sei.

Die außergewöhnlich lange Einleitung kann auch als Einführung in das gegenwärtige Antisemitismus-Verständnis aus sozialwissenschaftlicher Blickrichtung angesehen werden, geht Grigat doch auf die aktuell bedeutsamen Erscheinungsformen ein. Dabei behandelt er auch den islamistischen und linken und nicht nur den rechten Antisemitismus. Indessen blickt er nicht näher auf die folgenden Beiträge, was sich wohlmöglich mit deren thematischer Vielfalt erklärt. Denn ganz unterschiedliche Aufsätze werden unter den Haupt- und Untertitel gefasst, welcher damit eine Ansammlung von interessanten Beiträgen liefert, aber kein allgemeines Handbuch mit Überblickscharakter darstellt. Diese Aussage ist wichtig, damit keine falschen Erwartungen geweckt werden. Der Band ist in der Gesamtschau fragmentarisch gehalten, was aber meist der Fall bei Sammelwerken ist. Und dann findet man darin Abhandlungen, die bereits von den Autoren an anderen Orten präsentierte Erkenntnisse bilanzierend wiederholen, aber auch Beiträge, die neue Deutungen oder Erkenntnisse im Lichte aktueller Entwicklungen präsentieren.

Aufgegliedert wurden die zwölf Aufsätze des Bandes in vier thematische Kapitel, wobei es zunächst um „Christentum & Islam“ geht. Erste Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt zu christlichem und linkem Antisemitismus präsentiert Gerhard Scheit. Matthias Künzel referiert danach bilanzierend seine bisherigen Erkenntnisse zum islamistischen Antisemitismus. Und Ulrike Marz geht auf den antizionistischen Antisemitismus im heutigen Iran ein. Das zweite Kapitel widmet sich „Antizionismus & Postkolonialismus“, einer besonders aktuellen Frage, die zu polarisierten Kontroversen führte. Marlene Gallner erinnert hier an die Kritik des Antizionismus von Jean Améry und betont deren gegenwärtige Aktualität. Die Israel-Boykottbewegung BDS wird danach von Florian Markl und Alex Feuerherdt thematisiert, wobei sie auf deren Aktivitäten im kulturellen Bereich und hierbei u.a. auf die letzte „dokumenta“ und die darum kursierenden Konflikte eingehen. Und dann wird noch von Ingo Elbe eine Bibliographie zur Kritik postkolonialer Thematisierungen von Antisemitismus, Holocaust, Judentum und Zionismus vorgestellt.

Das dritte Kapitel ist mit „Verschwörung & Narzissmus“ überschrieben. Darin geht Daniel Burghardt auf die Opferfantasien in der Querdenken-Bewegung ein, worin bekanntlich in besonders zynischer Form der „Judenstern“ aus der NS-Zeit instrumentalisierend genutzt wurde. Markus Baum spricht für psychologische und sozialwissenschaftliche Debatten die Bedeutung von Verschwörungsnarrativen an. Und dem Kontext von Antisemitismus und Narzissmus geht Thorsten Fuchshuber nach. Der abschließende vierte Teil „Bildung & Praxis“ enthält nur noch zwei Beiträge: Elke Rajal verweist kritisch darauf, dass es auch eine Holocaust Education ohne die Thematisierung des Antisemitismus gibt. Und Samuel Salzborn stellt das von ihm mit entwickelte „Berliner Modell der Antisemitismusbekämpf“ als Beispiel für staatliche Maßnahmen vor. Angesichts der methodischen und thematischen Unterschiede kann man die Texte nicht allgemein kommentieren. Alle Autoren erweisen sich aber als gute Kenner ihrer jeweiligen Materie. Der Band präsentiert Fragmente, aber es sind wichtige Fragmente für die wohl nie endendende Analyse des gegenwärtigen Antisemitismus.

Stephan Grigat (Hrsg.), Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart. Erscheinungsformen – Theorien – Bekämpfung, Baden-Baden 2023 (Nomos-Verlag), 284 S., Bestellen?