Jugendbewegung und Antisemitismus 

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Gruppe des Wandervogels aus Berlin, 1930, Bundesarchiv, Bild 183-R24553 / CC-BY-SA 3.0

Über vergessene Zusammenhänge[1]

Von Christian Niemeyer

Den Begriff ‚Jugendbewegung‘ belegt zumal der historisch interessierte Erziehungswissenschaftler nach wie vor mit einem überaus positiven Vorstellungskomplex. Auf das hingegen, was sich aktuell als ‚Jugendbewegung‘ darbietet, vermag er zunehmend nur noch mit Skepsis, wenn nicht gar mit Abscheu zu reagieren. Schuld an letzterem trägt der erschreckende Zuwachs antisemitischer und damit natürlich auch neonazistischer Orientierungen insbesondere bei – ostdeutschen – Jugendlichen[2] und die damit im Zusammenhang stehende Präferenz für Bands mit Namen wie Zyklon B, Gestapo oder Zillertaler Türkenjäger. Diese Reaktionsweise mag als spontane Geste verständlich sein, obgleich sie nicht ausreicht und gänzlich der Wahrnehmung pädagogischer Verantwortung enträt. Wichtiger aber im hier interessierenden Zusammenhang ist die Frage, ob nicht auch die Jugendbewegung als historisches Phänomen – der Jahre 1900 bis 1933 – mitunter Anlaß geben müßte zu einer vergleichbaren Abscheu. Dies legt jedenfalls eine Untersuchung wie jene von Andreas Winnecken nahe, die ihren Ausgang von der im Fach lange beiseitegesetzten Frage nach den antisemitischen Momenten der deutschen Jugendbewegung herleitet[3]. Die weitergehendere Frage hätte dann zu lauten, was man aus dem insoweit offenbar kontinuierenden Antisemitismus der historischen sowie der gegenwärtigen Jugendbewegung zu lernen hat im Blick auf die Handhabung der aktuellen Probleme, sowie: was aus der offenbar nur zögernd bzw. verzögert erfolgenden Thematisierung des Zusammenhangs von – historischer – Jugendbewegung und Antisemitismus zu lernen ist über die Pädagogik als Wissenschaft.

1. Zum Forschungsstand

Zunächst, um mit letzterem zu beginnen: Gefährdet ist mit der hier im Zentrum stehenden Zusammenhangsthematisierung der ‚Forschungsstand‘, den die Pädagogik, jedenfalls ihrem Mainstream nach, seit Jahrzehnten in Sachen Jugendbewegung konserviert und der exemplarisch von Eduard Spranger skizziert wurde. Ihmzufolge markiert dieser Begriff den um 1900 vom Steglitzer Wandervogel ausgehenden epochalen Umbruch im Verhältnis der Generationen zueinander, den man, ungeachtet weiterbestehender Irritationen, selbst in Reihen professioneller Pädagogen eher mit Neugierde denn mit Sorge registrierte. Ein deutliches Zeichen hierfür gibt Sprangers Wort von der „Emanzipation der Jugend“, von dem „Wille(n) der Jugend, sich aus alten Bindungen zu befreien“ und die dagegen eine Willensbildung setzte, die sich gegen die höhere Schule und das Elternhaus, gegen die „Naturferne des Stadtlebens (…) und schließlich gegen die ganze komplizierte, entseelte, technisierte, organisierte moderne Kultur“[4] gerichtet habe. Die Problematisierung antisemitischer Strömungen in der Jugendbewegung war damit zwar nicht verboten, wohl aber, systematisch gesehen, eigentlich unnötig. Denn indem Spranger das Streben der Jugend nach Autonomie ins Zentrum des ‚Eigentlichen‘ rückte, fiel es ihm leicht, alles davon Abweichende als ‚uneigentlich‘ auszugrenzen und auf diese Weise auch die „Jahre nach 1933“ nicht für eine „sinngemäße, geradlinige Weiterführung der Jugendbewegung“ zu erklären, sondern für einen „Bruch“.

In einiger Analogie hierzu, wenn auch unter Bezug auf ein anderes Ereignis argumentierte vierzig Jahre später Ulrich Herrmann, indem er den Ersten Weltkrieg als ‚Epochenschwelle‘ markierte, die „gar nicht hoch genug veranschlagt werden“ könne, insofern sie letztlich zum Ende dessen führte, was die Jugendbewegung antrieb: nämlich die „Suche nach dem ‚neuen‘, dem ‚ganzen Menschen‘ in einer ‚neuen Gesellschaft‘“[5]. Was dem noch folgte, insbesondere die nach dem Krieg anbrechende Zeit der ‚bündischen‘ Jugend, betrachtete Herrmann folgerichtig unter dem Vorzeichen des Uneigentlichen, konkret: des „Blicks in eine Zukunft, die schon vergangen war“.[6] Dies so zu sehen, war nicht ungewöhnlich, hatte doch schon E. Günther Gründel die „eigentliche Jugendbewegung“ „mit Recht“ als tot erklärt, da sie „den harten Schlag des Krieges und die Übergewalt seiner Folgeerscheinungen nicht überdauert“ habe[7]. Die Frage ist nur, ob die Trennung zwischen der ‚eigentlichen‘ und der ‚uneigentlichen‘ Jugendbewegung – mit dem Krieg als ‚Epochenschwelle‘ – tatsächlich berechtigt ist und welchen Sinn es haben kann, der Jugendbewegung der Nachkriegszeit noch Exkulpationen nachzuliefern, etwa dahingehend, daß die, die sich im Sog des Politischen nun des ganzen „Arsenal(s) konservativer Kulturkritik“ befleißigten, „mehr oder weniger fahrlässig so redeten oder dachten“ und „kaum ahnen (konnten), was daraus in Wirklichkeit werden sollte, als sich die nationalsozialistische Bewegung dieses Vokabular nicht nur aneignete, sondern politische Wirklichkeit werden ließ.“ [8] Um nicht mißverstanden zu werden: Daß man damals um die ‚politische Wirklichkeit‘ des Nationalsozialismus hätte wissen können, sei nicht behauptet. Daß man aber damals nur ‚mehr oder weniger fahrlässig so redete oder dachte‘, scheint doch etwas arg verharmlost. Im übrigen können derartige Formulierungen dazu veranlassen, den Zusammenhang von Jugendbewegung und Antisemitismus und namentlich den Einfluß der konservativen Kulturkritik auf die ‚eigentliche‘ Jugendbewegung – und damit auch, um in der Terminologie zu bleiben, auf die Jugendbewegung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – zu unterschätzen oder es fast für unanständig zu halten, diesen Kontext zu erforschen. Daß das Ergebnis unter diesen Umständen wenig ertragreich ist, versteht sich von selbst, so wie im Fall von Otto Neuloh, der auf seine fast entschuldigend vorgetrage Frage an seinen prominenten Zeitzeugen Carlo Schmid, ob und inwiefern die Jugendbewegung „Vorläufer und Wegbereiter des Nationalsozialsozialismus“ gewesen sei, nur Offiziöses zu hören bekam und weitere Rückfragen auch nicht anstellte.[9]

Um hier ein weiteres Beispiel besonders herauszustellen: Dankwart Gerlach, der in maßgeblicher Hinsicht die von 1912 bis 1920 in der Jugendbewegungssszene agierende Wandervogelführerzeitung gestaltete und sich dabei, wie wir noch sehen werden, keinerlei Hemmungen auferlegte, zeigte sich in einem mit dem Schweizer Doktoranden Jakob Müller im Juni 1965 geführten Gespräch „fassungslos“ gegenüber dem, „was unter den Machthabern des Dritten Reiches völkische und rassische Politik geworden war“[10]. Ansonsten aber suchte er viele seiner damaligen Positionen – auch den Antisemitismus – philosophisch zu rechtfertigen, ein Projekt von Oral History mit dem mehr als unbefriedigenden Ergebnis[11], daß Gerlach seitens der Wissenschaft letztlich die Exkulpationen nachgeliefert bekam, auf die er es offenbar abgesehen hatte. Er nämlich konnte sich nun jenen zurechnen, die damals ‚mehr oder weniger fahrlässig so redeten oder dachten‘ (und dies 1965 in abgeschwächter Form immer noch taten). Was Müller en detail nicht interessierte, war die Ideologie der Zeitschrift, für die Gerlach eintrat. In dieser Hinsicht folgte er ganz dem Mainstream: Die Wandervogelführerzeitung wurde – und wird – unter dem Signum des Uneigentlichen, also als „völkisch-rassisch“, wenn auch eigentlich als „bedeutungslos“[12] in Erinnerung gehalten und, nicht zuletzt auch infolge der vergleichsweise schmalen Abonnentenzahl (unter 1000 Exemplare im Dezember 1915), als vergleichsweise irrelevant beiseitegesetzt.[13] Infolgedessen wird sie gelegentlich allenfalls in einschlägigen Studien[14] beachtet. Eine Analyse, die hier geführten Diskurse im Zusammenhang des Präfaschismus rekonstruiert und nicht als Zeugnisse einer dem Jugendbewegungsgeist widerstrebenden Randgruppe verharmlost, steht aber aus.[15]

Derartige Analysen könnten daran anknüpfen, daß selbst die Sekundärliteratur einerseits und fast schon aus alter Gewohnheit die Tendenz zeigt, die Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg als ‚liebenswert‘ zu attribuieren, andererseits aber zugestehen muß, daß ihr „rassistische Züge nicht fern lagen“.[16] Insoweit bedarf es nur noch eines kleinen Schrittes, um diese gleichsam wie nachträglich aufgesetzt wirkenden vagen Hinweise mit der Problematisierung des erstgenannten Attributs zu vernüpfen oder jedenfalls doch als Teil eines einschlägigen Forschungsprogramms zu lesen. Es könnte seinen kritischen Ausgang nehmen von der Infragestellung des offensichtlich weitverbreiteten Interesses in der Pädagogik, der Jugendbewegung der Kaiserzeit – ebenso natürlich wie der Reformpädagogik dieser Ära allgemein – ihren Nimbus als Hoffnungsträger pädagogischen Sehnens zu erhalten und die Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit, zumindest mit ihren überdeutlich politischen Tendenzen, beiseitezusetzen. Was zumal in der Fortschreibung der Logik Sprangers dann als alleiniges Problem noch blieb, war die Frage, warum der ‚Bruch‘ nach 1933 nicht in den Jahren nach 1945 durch eine Art Revival der Jugendbewegung rückgängig gemacht werden konnte.[17] Was dabei allerdings weitgehend unter den Tisch fiel, war die Ambivalenz der Jugendbewegung der Kaiserzeit und des Ersten Weltkrieges und damit, schlicht empirisch gesehen, die Phase, in der der Antisemitismus eskalierte – Grund genug, uns zumal heute gerade dieser Epoche noch einmal etwas genauer zuzuwenden.

2. Zur Eskalation des Streits um die ‚Judenfrage‘ im Ersten Weltkrieg

Zunächst – dies sei gar nicht in Abrede gestellt – war es natürlich das ‚Autonomiestreben‘, das den Geist der Jugendbewegung bestimmte, und zwar etwa im Sinne der in der Hauptsache offenbar auf Ahlborn bzw. Wyneken zurückgehenden[18] Meißnerformel vom Herbst 1913, wonach die Freideutsche Jugend ‚aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit‘ ihr Leben gestalten will. Andererseits aber wohnt der gängigen Umschreibung, das Meißerfest sei als alternative Veranstaltung zu den „hurrapatriotischen Gedenkfeiern für die Völkerschlacht bei Leipzig“[19] zu verstehen, die Gefahr inne, die auf dem Hohen Meißner zeitgleich zu hörenden gegenläufigen Töne zu bagatellisieren. Christa Berg beispielsweise sprach von „leicht nationalistische(n) Zungenschläge(n)“ sowie davon, daß sich die Jugendbewegung – mit dann fatalen Folgen – in die Frage ‚hineinmanövrierte‘, „ob assimilierte Juden Deutsche seien“.[20] Ganz so einfach war es eben nicht, und es war auch nicht erst der Erste Weltkrieg, der hier eine ‚Epochenschwelle‘ setzte. Vielmehr boten bereits die meisten der vierzehn zum Meißnerfest einladenden Gruppen – abgesehen vom Jung-Wandervogel, vom Sera-Kreis und von der Freien Schulgemeinde Wickersdorf –, aber auch einige der dem Einladungsheft beigegebenen Freundesworte[21] das ganze ‚Arsenal konservativer Kulturkritik‘ auf. Erwähnt sei nur der Österreichische Wandervogel, der sich als „Vorwacht gegen fremde Nationen und Rassen“ definierte[22] oder die Germania, die restlos ihrer Art zu dienen sich vornahm, „d.i. den ihm völkisch am nächsten Stehenden, seiner Rasse“ (S. 98). In diesen Zusammenhang gehören auch die Deutschen Landerziehungsheime, die sich der „Erziehung zu nationaler Gesinnung und Tat“ (S. 99) verpflichtet fühlten, ähnlich wie der Dürerbund, der eine „Neukräftigung des Deutschtums“ (S. 105) anstrebte und vieldeutig anfügte, „daß mit den politischen Grenzen des deutschen Reichs nicht die geistigen des deutschen Vaterlandes zusammenfallen“ (S. 107). Dem fügte sich dann ohne weiteres das ‚Freundeswort‘ des Arztes und Hygienikers Max von Gruber, der dafür hielt, daß Freiheit nicht Ungebundenheit meine, sondern Selbstzucht: „Erst im Dienste eines Höheren bekommen wir den Hauch von Größe und Ewigkeit zu spüren“ (S. 155), am Exempel gesprochen: „Glücklich die Soldaten, die im Sturm der Begeisterung auf den Schlachtfeldern von 1813 ihr Leben gelassen haben, als es galt, Deutschland aus seiner tiefsten Erniedrigung zu befreien; ihnen blieb die Rückkehr in die Kleinlichkeit des Alltags erspart.“ (S. 156) Als hätte es hier noch einer Verdeutlichung bedurft, ließ Gruber dem folgen: „Was uns Heutigen zu einem innerlich befriedigenden und befreienden Dasein fehlt, ist ein solches hohes gemeinsames Ziel, und ich weiß, daß Ihr, die Ihr auf den Hohen Meißner zusammenströmen werdet, diesen Mangel fühlt.“ (ebd.) Hierzu paßten Formeln des Schriftstelles Karl Henckell wie „Garde der Zukunft, schimmernd im goldroten Frühlichtschein. Du bist die kämpfende Truppe des neuen Volkes im Land“ (S. 164). Nicht minder fragwürdige Semantiken produzierte der Lehrer Adalbert Luntowski, indem er die „Germanische Moderne“ (S. 201) beschwor, Siegfried über das „deutsche Land“ schreiten sah, vom „neugermanischen Menschen“ fabulierte, den wir „schaffend ersehnen“, um zu schließen: „Das deutsche Kulturkommando will hörbar werden. Heil!“ (S. 202)

Selbstredend gab es auch andere Stimmen, etwa jene von Gustav Wyneken, Ludwig Gurlitt, Friedrich Jodl oder Hermann Anders Krüger, dennoch darf man resümieren: Die Stimmung im Vorfeld des Meißnerfestes ging mehrheitlich wenn schon nicht auf Krieg, so jedenfalls doch in Richtung des Festzurrens von so etwas wie einer ‘deutschen Leitkultur’. Und dies eben könnte erklären, was Heinz Bude in einem Aufsatz in der Zeitschrift Merkur noch als Rätsel schien, als er schrieb: „Wie aus heiterem Himmel brach die Geschichte eines langen Jahrhunderts ab – und einer jüngeren Generation in ganz Europa erschien der Krieg als eine Form des Lebens.“[23] Denn so heiter war der Himmel keineswegs, und in konservativen Kreisen hatte man längst erkannt, daß sich die eigenen Absichten nur gegen die pazifistischen und kosmopolitischen Implikate der Meißnerformel durchsetzen ließen. Von sekundärem Rang waren dabei zweifellos persönliche Ressentiments, resultierend aus dem – angeblich – „autoritäre(n) Gestus im Auftreten Wynekens“.[24] Eine deutlichere Sprache spricht da schon der Wiener Lehrer Benno Imendörffer, dem der „Kreis um Wyneken“ letztlich nicht viel mehr war als „eine Organisation zur Bekämpfung und Austilgung deutscher sittlicher Werte“.[25] Dem Geist dieser Kritik entsprach eine im Januar 1914 erschienene kritische Broschüre des katholischen Pressevereins in München, die einem bayerischen Zentrumsabgeordneten Anlaß gab, „die freideutsche Bewegung (…) der geschlechtlichen Zügellosigkeit und ‚monistischer‘ Tendenzen“ zu verdächtigen und ihr vorzuhalten, sie kämpfe „gegen das Elternhaus, die Schule, jede positive Religion und den Patriotismus“[26]. Eine in Reaktion darauf im Februar 1914 abgehaltene Versammlung der Freideutschen Jugend in München bereitete faktisch die Loslösung von Wyneken und die Preisgabe der Meißnerformel und des ihr innewohnenden Selbsterziehungsanspruchs vor. Auf den Marburger Vertretertagen der Freideutschen Jugend im März 1914 wurde die Meißnerformel denn auch durch eine Kompromißformel ersetzt, die zum Inhalt hatte, daß die Freideutsche Jugend eine Gemeinschaft von Jugendbünden sei, „deren gemeinsames Ziel es ist, die Vermittlung der von den Älteren erworbenen und überlieferten Werte zu ergänzen durch eine Entwicklung der eigenen Kräfte unter eigener Verantwortlichkeit mit innerer Wahrhaftigkeit.“[27] Die Betonung lag hier auf dem Ausdruck ‚ergänzen‘, der schon in Bruno Lemkes Rede auf dem Hohen Meißner eine Rolle gespielt hatte und Lemkes These stützen sollte, daß die Jugend nicht nur sich eine eigene Kultur schaffen dürfe, sondern „die bisherige auf ihre frischen Schultern“[28] zu nehmen habe. Wenn man so will, war mit diesem Wort des späteren Oberlehrers die Debatte um die deutsche Leitkultur – in ihrer ersten Variante – geboren.

Etwas älteren Datums war die – sich dadurch naturgemäß verstärkende – „antisemitische Bewegung im ‚Wandervogel‘“.[29] Ein erstes Signal hatte hier 1904, im Nachgang zum sog. ‚Haubindaner Judenkrach‘ von 1901[30], der Umstand gesetzt, daß in den deutschen Landerziehungsheimen ein Aufnahmestopp bezogen auf jüdische Schüler erlassen worden war, ohne daß sich dagegen – abgesehen von Theodor Lessing, der seine Anstellung als Lehrer kündigte – sonderlich Widerstand geregt hätte.[31] Nicht außer acht lassen sollte man auch ein in der Zeitschrift Der Wanderer abgedrucktes Pamphlet vom September 1912 zum Thema Germanische Wiedergeburt, in dem ein u.a. mit Langbehn und Chamberlain argumentierender, unter Pseudonym auftretender Autor seine Leser darüber belehrte, daß die „dunkle Welle“ der „dreckgewohnteren Niederrassigen“ „unaufgehalten über die Grenzen (strömt)“ (Skallagrim 1912/13: 145; zur Kritik: Schwarz 1912/13). In diesen Zusammenhang gehört auch der Mord an einem aus Polen stammenden und seit vier Semestern in Darmstadt immatrikulierten jüdischen Studenten, der im November 1912 im Verlauf einer Schlägerei von deutschen Studenten auf offener Straße erstochen bzw., wie eine auf den Haupttäter bezogene Zeugenaussage lautete, ‚förmlich abgeschlachtet‘ wurde (vgl. Becker 2001).

Im Juni 1913 brach die Diskussion um die ‚Judenfrage‘, zumal was die Jugendbewegung angeht, vollends auf infolge der Entscheidung einer Zittauer Mädchengruppe, die Tochter eines angesehenen jüdischen Kaufmanns nicht aufzunehmen. Dabei ist vor allem bemerkenswert, wie sehr diese Entscheidung in der Folge bagatellisiert wurde, etwa auch noch von Werner Kindt, der meinte, die Zittauer Entscheidung sei  „wegen allzu deutlichen Interesses“ des ausgeschlossenen jüdischen Mädchens „an kleineren Jungen“ erfolgt und es handele sich insofern um einen „an sich belanglose(n), aber folgenschwere(n) Zufall“ (Kindt 1968: 730). Obgleich sich Helmut Wangelin, offenkundig in Reaktion hierauf, gegen die Auffassung verwahrte, „ohne das Aufgreifen des Zittauer Falles (…) wäre weiter nichts geschehen und der Friede erhalten geblieben“ (Wangelin 1970: 63), muß man selbst in neueren Veröffentlichungen erneut etwas lesen von einem „an sich belanglosen Vorfall“ (Trefz 1999: 29), den das – jüdisch orientierte – Berliner Tageblatt zur Antisemitismuskritik „nutzte“ (ebd.: 32). Daß es umgekehrt war, daß – wie Julius Fürst in einem posthum veröffentlichten Artikel meinte – durch „Propagierung“ einer selbstredend negativen und mit der „Erscheinungsform“ nicht in Verbindung stehenden „Vorstellungsform“ ‚des‘ Juden „ganz besonders in unserer Bewegung (…) die Diskussion über die Judenfrage überhaupt erst eröffnet wurde“ (Fürst 1920: 390), scheint dem Bewußtsein weitgehend entschwunden zu sein. Insofern ist es angebracht, dieser Thematik etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Zu erinnern ist dabei zunächst daran, daß schon in der Einladungsbroschüre für das Meißnerfest die Entscheidung der österreichischen Wandervögel propagiert wurde, „weder Slaven, noch Wälsche, noch Juden“ aufnehmen und sich stattdessen die „rassische Reinheit“ (zit. n. Kracke 1913: 13) bewahren zu wollen. Gerechtfertigt worden war die österreichische Entscheidung, die in einschlägigen Darstellungen (vgl. etwa Ursin/Thums 1961) gelegentlich unerwähnt bleibt, u.a. mit der im Sommer 1912 in Berlin erfolgten Gründung der jüdischen Gruppe ‚Blau-Weiß‘ um Walter Moses (vgl. auch Bertz 1998: 558). Sie dürfte ihrerseits allein schon deswegen nicht ohne Folgen gewesen sein, weil in „den Oberstufen der großstädtischen höheren Schulen, auf die sich der Wandervogel stützte, (…) oft 25% und mehr (…) jüdische Schüler (waren)“ (Meier-Cronemeyer 1969: 19). Noch 1916 hieß es denn auch seitens österreichischer Wandervogelvertreter mit kaum verhohlener Häme, man habe den Juden ihre Entscheidung, nur Juden aufzunehmen, nicht ‚vergrämt‘, dem „ÖWV. aber wurde die Sache sonderbarerweise recht übel genommen.“ (Fiby-Iglau 1916: 591) Allzu ausgeprägt dürfte diese Mißbilligung allerdings nicht gewesen sein, wenn man bedenkt, daß die Zittauer Entscheidung – letztlich ein örtlicher ‚Arierparagraph‘ – bald sachsenweit auf zustimmende Resonanz traf (vgl. Thost 1914) und in der Folge selbst in der Ortsgruppe Steglitz des Wandervogel e. V. praktiziert wurde (vgl. Laqueur 1962: 92 f.).

Auch andere Indizien sprechen für einen verbreiteten, aber im Nachgang nur selten (so bei Lütkens 1924: 35 f.) problematisierten Antisemitismus in der deutschen Jugendbewegung. So sollen einer im März 1914 abgeschlossenen Untersuchung zufolge 92 % aller Wandervogelgruppen keine Juden als Mitglieder aufgewiesen haben (vgl. Meier-Cronemeyer 1969: 21), wobei dies bei 84 % Folge entsprechender Beschlüsse gewesen zu sein scheint. Allerdings sind diese Daten, die Trefz (1999: 38) durch Hinweise auf die Beschlußlage in anderen Ortsgruppen des Wandervogel zu konterkarieren suchte (vgl. auch Laqueur 1962: 92 f.), mit Vorsicht zu interpretieren: Offenbar gehen sie auf eine Rundfrage des Antisemiten Paul Erlach (d. i. Otto Herrmann) zurück, wobei allerdings Zeugnisse über einen stattgehabten Rücklauf nicht vorliegen (vgl. Wangelin 1970: 69). Außerdem wurden sie in einer Flugschrift des antisemitischen Reichshammerbundes veröffentlicht (ebd.), unterlagen also auch von daher einer theoriepolitischen Zwecksetzung, die 1939 von Luise Fick erneuert wurde, um unter veränderten politischen Vorzeichen das deutsche Wesen des Wandervogel zu beglaubigen (vgl. Trefz 1999: 35). Ähnliches wird man vermuten dürfen für das Schreiben von Waldemar Nöldechen – ehemaliger Führer im Kronacher Bund der Wandervögel – an die Reichsjugendführung vom 1.1.1942, wonach Juden vor dem Ersten Weltkrieg „aus den meisten und bedeutendsten Bünden ausgeschlossen“ (zit. n. Kater 1987, S. 295) gewesen seien.  

Der Sache nach folgte der Antisemitismus der Jugendbewegung einer damals offenbar schon weit entwickelten gesellschaftlichen Vorurteilsstruktur. Selbst Kurt Schulz, einer der beiden Herausgeber der Pachantei und in dieser Funktion ein entschiedener Gegner des Antisemitismus, gestand ein, er habe in den letzten Jahren seiner Schulzeit und in seinen ersten Semestern „einem unklaren Antisemitismus gehuldigt, wie man ihn vielfach findet.“ (Schulz 1914: 29) In die gleiche Richtung weist die Bemerkung von Hermann Siemens, wonach „eine gewisse Art Antisemitismus“ in den Kreisen der „sogenannte(n) gute(n) Gesellschaft“ (Siemens 1917: 115) damals gleichsam zum guten Ton gehörte. Theoretisch wird der Antisemitismus – etwa von Stephan Sting – damit erklärt, daß die ursprünglich von der Jugendbewegung im Rückgang auf die Kulturkritik Nietzsches, Lagardes und Langbehns angestrebte „Volksfiktion ihre vorrangig kulturelle Ausrichtung und ihre organisch-ästhetische Konzeption nach dem Ideal der homogenen Gemeinschaft“ (Sting 1998: 118) nicht dauerhaft aufrechterhalten konnte. Ersatzweise sei die rassische Argumentation – und darüber die Judenfrage – in den Vordergrund getreten, die insbesondere über Lagarde und dessen Satz, daß „das Deutschtum ‚nicht im Geblüte, sondern im Gemüte‘ (liege)“ (ebd.), gleichsam assimilationstechnisch aufladbar schien. Folgt man Sting, müßte man allerdings Nietzsche wie Lagarde – um von Langbehn hier abzusehen – gleichermaßen für diese Argumentation verantwortlich machen. Dieser Nachweis dürfte im Fall des eher als kosmopolitisch einzuschätzenden – späten – Nietzsche schwerfallen, und zwar sowohl im Blick auf seinen Antisemitismus (vgl. Niemeyer 1998, S. 167 ff.) als auch im Blick auf seine Skepsis in Sachen deutschtümelnder Visionen.

Ganz abgesehen davon muß die Debatte um die ‚Judenfrage‘ an sich überraschen angesichts der selbstauferlegten Verpflichtung, wonach die Freideutsche Jugend jede „Parteinahme in wirtschaftlicher, konfessioneller oder politischer Beziehung“ (zit. n. Groothoff 1914a: 68) ablehne. Nicht umsonst warnte denn auch Natorp im Dezember 1913: „An dem Tage, wo die Freideutsche Jugend den Ausschluß der Juden zum Beschluß erhöbe, müßte ich die Hoffnungen begraben, die ich auf sie gesetzt habe.“ (Natorp 1913: 141) Wilker, der sich offenbar genötigt sah, für die Wandervogelführerzeitung in dieser Angelegenheit Stellung zu nehmen, versah die Zittauer Entscheidung denn auch zunächst, im Juli 1913, mit dem Attribut ‚unklug‘, zumal der Fall für einiges Aufsehen in der – jüdischen – Öffentlichkeit, namentlich im Berliner Tageblatt, gesorgt hatte (vgl. Winnecken 1991: 50 f.). ‚Unklug‘ schien Wilker die Handhabung des Falles aber auch, weil „undeutsch und jüdisch“ eben nicht dasselbe seien und nur mit dieser Differenzierung dem „Rassenhaß“ (Wilker 1913: 144) vorgebeugt werden könne. Diese Haltung traf in Folgebeiträgen auf erbitterten Widerstand – einerseits, weil man von Wilker eine sehr viel stärkere Inschutznahme jüdischer Rechte erwartet hätte und nicht verstehen konnte, was an der Aufnahme von Juden ‚unklug‘ sei, wenn die (Bundes-)Satzung doch zur Neutralität verpflichte (vgl. Schmidt 1913: 210); andererseits aber, und diese Stimmen waren eindeutig in der Mehrheit oder wurden jedenfalls doch in dieser Zeitschrift mehrheitlich zu Gehör gebracht: weil Wilker dem Zittauer Antisemitismus zumindest vom Ansatz her entgegengetreten war (vgl. u.a. Gerlach 1913; Friebus 1913; Zeppner 1913; Siegel 1913). Der Grundtenor der Argumente war dabei immer der gleiche: Die eigene Meinung wurde als „unpolitisch deutsch-völkisch“ attribuiert, die ‚liberale‘ Gegenmeinung hingegen als „rasselos und international“ (Kirchner 1914: 13) verworfen bzw. mit dem Etikett „verwaschener Kosmopolitismus“ (Kotzde 1914: 154) belegt.

In der Folge verschärfte sich der Ton in der Wandervogelführerzeitung zusehends, wobei das ganze Arsenal antisemitischer Vorurteile zur Aufführung kam. So war man sich über die ‚dem‘ Juden eigene – und seine Nichtgreifbarkeit bedingende – „Chamäleonhaut“ (Gerlach 1914a: 83) ebenso rasch einig wie über das Identischsein von ‚Jude‘ mit „Warenlagerbesitzer“ und „Millionär()“ (Boesch 1914: 75). Auch die angeblich erhöhte Sinnlichkeit ‚des‘ Juden wurde nun immer häufiger herausgestellt, einerseits natürlich im Interesse des Verstärkens allgemeiner Vorbehalte, so wie im folgenden Beispiel, in dem von den hinter einer „Mädelhorde“ herlaufenden „ausziehenden Blicke(n) jüdischer Spießer“ die Rede ist oder das Bild eines „fette(n) Kleiderjuden“ gegeben wird, der der Frau des Berichtenden mit eindeurig „auf Fleischwert taxierenden Blicken“ (Bader 1914: 121 f.) zu nahe trat bei ihrer Suche nach Nähseide. Andererseits aber ließ sich das ‚Sinnlichkeitsargument‘ nutzen zur – damit natürlich infamen – Erklärung des Vorhandenseins durchaus zahlreicher ‚Philosemiten‘ im öffentlichen Diskurs. Der damals berühmte und bei der Jugend anerkannte Schriftsteller Gustav Freytag beispielsweise, der in einem Flugblatt an den Wandervogel gegen den Antisemitismus Stellung bezogen hatte und damit manches Mitglied irritierte, mußte sich in der Wandervogelführerzeitung nachsagen lassen, „in der Jugend- und Manneskraft sehr über die Orientalen“ unterrichtet gewesen zu sein, was allein für sich schon erklären könne, daß er später ein „Judenfreund“ wurde und, in zweiter Ehe, „eine Jüdin nahm.“ (Khoftan 1914: 80) Die rhetorische Schlußfrage („Wißt Ihr Wandervögel nun, warum Freitag gegen den Antisemitismus schrieb?“; ebd.) war getragen von der Gewißheit, daß es andere als die hiermit genannten zweideutigen Motive für ein derartiges Tun nicht geben könne. Ähnlich sah Carl Boesch die Sache, der die Schriftsteller Gerhard Hauptmann und Richard Dehmel allein ihrer jüdischen Frauen halber an den Pranger stellte (Boesch 1914: 74).

Im ähnlichen Stil ging es weiter: Mal wurde – von Karl Dietz – gegen die hier und da aufkommende Forderung, „die Schriftsteller Jodl, Kühnemann, Natorp u.a.“ sollten dem Wandervogel im Fall des Durchdringens der deutsch-völkischen Strömung ihre Gunst entziehen, das Argument gehalten, „daß diese Herren im Wandervogel (und wohl auch sonst) nicht sonderlich bekannt sind“ und daß man im übrigen den „literarischen Bedarf“ (Dietz 1914: 57) allein decken könne. Mal wurde – vom selben Autor – die Sozialdemokratie als „Judenschutztruppe“ (ebd.: 56) bezeichnet, um von hier aus den (angeblichen) Umstand, daß das Meißnertreffen hauptsächlich durch linksstehende Blätter popularisiert worden sei, mit einem eigentümlichen, für sich selbst zeugenden Hintersinn zu versehen, angesichts dessen es vielleicht hilfreich sei, sich des Langbehn-Wortes zu erinnern, das da laute: „‘Der deutsche Student ist jüdischen Lockungen wie Drohungen nicht zugänglich.‘“ (zit. n. Dietz 1914: 57) Und mal wurde – von Adele Anderson – ein ganzes Heer (weiterer) Judengegner, von Herder bis hin zu Richard Wagner (Anderson 1914: 57), mobilisiert, um darzutun, daß man nicht Judenhetze betreibe, sondern sich nur, gleichsam unter aktualisierten Vorzeichen, „Einmischung in unsern deutsch-völkischen Bund“ verbitte: „Es ist hiermit ebenso wie mit Negern und Chinesen, die massenhaft in den Großstädten sich aufhalten, wir dulden sie wohl, aber in unseren Angelegenheiten haben sie nicht mitzusprechen, in unsere Familien dürfen sie nicht hineinheiraten.“ (ebd.: 58) In der Logik dieses Arguments vermochte sich die Verfasserin „mit einiger Phantasie die Zukunft des Wandervogels auszumalen, wenn den Juden der Eintritt gewährt wird. Die Juden werden, obschon nur etwa 1% unseres Volkes, sicher 10% des Wandervogels ausmachen, denn „wie im Ärzte- und Anwaltstand, wie auf der Bühne und im politischen Leben“, so werden sie sich auch hier nicht die Gelegenheit nehmen lassen, „die Vormundschaft über unser gutmütiges Volk zu ergreifen.“ (ebd.: 59) Carl Boesch, der wenig später die von Anderson angedeutete Pointe in das Bild preßte, daß eines Tages „das arglose Wirtsvolk unten in den Kellerräumen (sitzt)“, während es sich die Gäste „oben orientalisch bequem (machen)“ und „das deutsche Vermögen und das deutsche Geisteserbe (‚verwalten‘)“ (Boesch 1914: 74), hatte keine Bedenken, dem die Bemerkung anzuschließen, daß es doch eine Schande wäre, „wenn wir 60 Millionen mit dieser halben Millionen nicht fertig werden könnten.“ (ebd.: 75).

Als dies im März bzw. im April/Mai 1914 veröffentlicht wurde, hatte Edmund Neuendorff schon längst einen der nun zahlreicher werdenden Proteste gegen den Antisemitismus zum Anlaß genommen, im Berliner Tageblatt vom 22. November 1913 für die Bundesleitung des Wandervogel E.V. zu erklären, im Organ dieser Bundesleitung, dem Wandervogel. Monatsschrift für deutsches Jugendwandern seien „die Juden niemals beschimpft worden“ und die (Wandervogel-)Führerzeitung sei „reines Privatunternehmen, für das ihre Herausgeber persönlich verantwortlich sind.“ (zit. n. Kindt 1968: 262) Diese Verlautbarung, die zumal mit ihrer letzten Bemerkung einer noch auf dem Meißnerfest von zahlreichen prominenten Erstunterzeichnern – u.a. Frank Fischer, Hans Kremers, Alfred Kurella, Christian Schneehagen, Hugo Schomburg und Hans Wix – abgesegneten Erklärung Tribut zollt[32], in deren Folge sich Die Pachantei als “Oppositionsblatt“ (Laqueur 1962: 93) zur Wandervogelführerzeitung zu etablieren suchte, wird in der einschlägigen Forschung in der Regel als Zeugnis dafür genommen, daß sich der Antisemitismus in der Jugendbewegung auf den Kreis um eben dieses ‚Privatunternehmen‘ begrenzt habe. Nur unzureichend[33] wird der Umstand problematisiert, daß die Bundesleitung des Wandervogel e.V. auf dem Ostern 1914 in Frankfurt/O. abgehaltenen Bundestag eine sog. ‚Frankfurter Erklärung‘ verabschiedete, die die Beschlüsse von Ortsgruppen, „Juden grundsätzlich nicht aufzunehmen“, zwar für ungültig erklärte, andererseits aber betonte, daß das „Wesen des Wandervogels“ in „deutscher Vergangenheit“ wurzele, womit es verständlich sei, „daß Juden mit besonders ausgeprägten Rasseneigentümlichkeiten, die für diese Vergangenheit naturgemäß kein Verständnis haben, nicht in den Wandervogel passen werden.“ (zit. n. Neuendorff 1914: 107) Dabei lohnt es durchaus, den hintergründigen Sinn dieser Formulierung in den Blick zu nehmen. Denn das im Wandervogeldiskurs zunehmend in den Vordergrund rückende, aus ‚deutscher Vergangenheit‘ gerechtfertigte Brauchtum des Wandervogel, insbesondere das Sonnenwendfest, dessen gemeinsame Begehung durch Juden und Deutsche zu einer – so Adele Anderson – „Abtötung des Rassenempfindens“ (Anderson 1914: 60) bei einem Deutschen führen müsse, ließ sich auf diese Weise letztlich doch wieder zu einer ‚grundsätzlichen‘ (und nicht nur fallweise von Ortsgruppen zu entscheidenden) Ablehnung jüdischer Aufnahmeanträge weiterentwickeln (vgl. auch Wangelin 1970: 68).

Dies erklärt vielleicht auch, daß man Neuendorff im Juni 1914 ermöglichte, die ‚Frankfurter Erklärung‘ ausgerechnet in der von ihm zuvor als ‚reines Privatunternehmen‘ gescholtenen Wandervogelführerzeitung zu rechtfertigen. Begünstigend dürfte hinzugetreten sein, daß Neuendorff seinen auch hier wieder vorgetragenen Angriff gegen die „antisemitischen Parteihetzer() in der Führerzeitung“ (Neuendorff 1914: 105) abmilderte durch den Zusatz, beim Antisemitismus handele es sich um einen „Gegenstoß“, der in Reaktion auf in der Sache begründete, aber „in jüdischen Kreisen sehr übel vermerkt(e)“ (ebd.: 106 f.) Ablehnungen einzelner Aufnahmeanträge fast schon verständlich sei. Wenn man noch einbezieht, daß Walter Fischer erklärte, die Juden, die mit der ‚Frankfurter Erklärung‘ nicht zufrieden seien, würden möglicherweise eine Gegenbewegung erleben, „die von der schwächlichen Halbheit zur kraftvollen Ganzheit hinzielt“, in deren Folge die ‚Judenfrage‘ „erledigt“ (W. Fischer 1914: 109) sei, ist der Verdacht kaum noch zu umgehen, daß Neuendorffs Verlautbarung vom November 1913 vorwiegend taktischen Erwägungen geschuldet war, die sich aus gelegentlich kolportierten Gerüchten ableiten ließen, denenzufolge das „Ministerium den Wandervogel verbieten (würde)“, falls „die Wandervogelbundesleitung eine judengegnerische Stellung einnähme“ (zit. n. Gerlach 1914: 82). Denn Fischer, der sich in der erwähnten drohenden Weise in dem eher ‚privaten‘ Rahmen der Wandervogelführerzeitung vernehmen ließ, war kein geringerer als der Schriftleiter des ‚offiziellen‘ Organs der Bundesleitung, in dem, Neuendorff zufolge, ‚die Juden niemals beschimpft worden‘ seien. Daß Fischer wie Neuendorff später (ab 1919) der Bundesleitung des ursprünglich von Otger Gräff gegründeten Jungdeutschen Bundes angehörten, wird angesichts dessen kaum überraschen und spricht jedenfalls nicht für die Judenfreundlichkeit ihrer Grundposition.

Wilker selbst, dessen Verhalten in dieser Angelegenheit mit dem Attribut, er sei Gerlachs „Antipode“ (Winnecken 1991: 53) gewesen, sicherlich zu günstig beurteilt ist, tat in der Zwischenzeit einiges für eine weitere Eskalation der Debatte. Offenbar meinte er sich in der Wandervogelführerzeitung gegen den aus der Diskussion um den Zittauer Beschluß haften gebliebenen Restverdacht wehren zu müssen, er halte den Antisemitismus als solchen für ‚unklug‘. Entsprechend entschloß er sich in einem pathetischen ‚letzten Wort‘ zur ‚Judenfrage‘ zur Wiederholung seiner schon gegenüber Walter Benjamin erhobenen These (vgl. Wilker 1912/13: 129), daß es so etwas „wie einen Kampf zwischen Germanentum und einer anderen Rasse“ (Wilker 1914a: 75) gäbe. Dem ließ er noch das – von ihm in verharmlosender Variante dargebotene[34] – Lagardewort nachfolgen, „daß die Juden als Juden in jedem europäischen Land ein schweres Unglück“ (zit. n. Wilker 1914a: 76) seien, um einem weiteren, von ihm zumindest vereinfacht zitierten[35] Ausspruch Lagardes („In dem Maße, in welchem wir Wir werden, werden die Juden aufhören Juden zu sein“) den – allerdings nicht jede Unklarheit beseitigenden[36] – Kommentar anzuschließen: „So denke auch ich. Und in diesem Denken kann mich nichts beirren.“ (Wilker 1914a: 77) Als hätte es noch eines Beleges hierfür bedurfte, belegte Wilker im nämlichen Heft die in einem Buch geäußerte Auffassung, wonach es im Wandervogel eine konfessionelle Spaltung gebe, mit der gleichermaßen zynischen wie rhetorischen Frage: „Sollte der Herausgeber Konfession und Rasse einmal wieder (wie hundert andere Leute) verwechselt haben?“ (Wilker 1914b: 97).

Es war Folge dieses Denkens, daß auch weitere ideologisch als fragwürdig empfundene Publikationen, wie etwa die bereits erwähnte Zeitschrift Die Pachantei, mit entsprechenden Verrissen abgewiesen wurden (vgl. Groothoff 1914c). Dazu genügte offenbar sowohl der Hinweis, daß „durch andere Rassen, die nun jetzt einmal unserer Volksgemeinschaft unabänderlich angehören, manche gute Eigenschaften zu uns gebracht worden (sind), auf deren Aneignung zu verzichten einfach Sünde gegen völkische Höherentwicklung wäre“, wie auch: daß die Germanen „von jeher gewisse besondere Mängel (hatten) – sie tranken z.B. ‚immer noch eins‘, sie lagen gern auf der Bärenhaut, sie stritten sich auch oft um des Kaisers Bart“ (Deckart 1914: 9), eine Überlegung jedenfalls, bei der die Frage nahelag, ob „da nicht besondere Eigenschaften eines jeden sind, die sich glücklich ergänzen könnten.“ (Köhler 1914a: 6) Im Ergebnis jedenfalls schreckte Gerlach nicht davor zurück, den Umstand heranzuziehen, daß Die Pachantei „in jüdischem Verlage“ erschien, „teils mit jüdischem Gelde finanziert“ wurde und in Gestalt von Kurt Schulz über einen Herausgeber verfügte, der sich nicht scheute, die Mitarbeiter der Führerzeitung als „die antisemitische Seite“ anzusprechen (Gerlach 1914b: 111), womit er sich indirekt als „philosemitisches Sprachrohr“ vorgestellt habe, was – wie Gerlach angesichts von Schulz‘ Versicherung, er sei „vollkommen frei von jüdischem Blute“ (Schulz 1914: 29), voller Bösartigkeit hinzufügte – durchaus dem von Schulz repräsentierten „rassische(n) Typus“, der sich nur mit dem Merkmal „rasselos“ (Gerlach 1914c: 113) beschreiben lasse, entspreche. Dies genügte Gerlach offenkundig, dieses Exempel einem Argumentgang einzufügen, der den Nachweis liefern sollte, „wie die Juden ihre gegenwärtige wirtschaftliche Macht rücksichtslos zu geistiger Unterdrückung ausnützen“, und dies, wo wir „ihnen in Deutschland noch immer jede Rede-, Schreib-, Schimpf- und Spott-Freheit (gewähren)“ (Gerlach 1914b: 112).

Auch die von Ernst Joel geleitete und u.a. den Juden Gustav Landauer als ständigen Mitarbeiter beschäftigende Zeitschrift Der Aufbruch zog die Kritik der Wandervogelführerzeitung auf sich. Davon betroffen war auch der Verleger dieser Zeitschrift, Eugen Diederichs, dem vorgeworfen wurde, ein Blatt zu protegieren, „das einstimmig Ablehnung und Entrüstung in der wahrhaft deutschen Jugend hervorgerufen (hat).“ (Luntowski 1915: 162) Auf den dem folgenden, verdeckt antisemitischen (vgl. auch Gerlach 1915: 160) Zusatz: „Wir sind in unserem Gefühl so gefestigt, daß wir den Leuten mit den klugen Köpfen, den schnellen Zungen und den toten Herzen keine Gelegenheit mehr zum rechtfertigenden Wortgefecht geben“ (Luntowski 1915: 162), bezog sich im wesentlichen Diederichs Replik. An ihr war vor allem geschickt, daß er ausgerechnet sein Eintreten für den Aufbruch und namentlich auch für Karl Kraus mit jenem schon von Wilker bemühten Lagardemotto, „soweit“ – so Diederichs Variante – „das Germanentum stark schöpferisch sei, würde die Judenfrage gar nicht mehr existieren“, begründete und daraus das Argument filterte, wonach Kreise, „die sich antisemitisch ‚fühlen‘, (…) zuerst die Verpflichtung (haben), durch eigene Leistungen das Judentum zu übertreffen“ (Diederichs 1916: 28). Diesen Hinweise ergänzte Diederichs noch mit der Rückerinnerung an das Lagardewort, wonach das Deutschtum „nicht im Geblüte, sondern im Gemüte“ (zit. n. Diederichs 1916: 27) liege, eine Rückerinnerung, an die Max Hodann in seiner Auseinandersetzung mit Gerlach den Schluß ankoppelte, daß er sich „lieber mit dem Slawen Nietzsche oder Virchow (verbünde), als mit dem ersten besten Arier, der im Innern von Iran die Karawane führt“ (Hodann 1916b: 163).

Die völkischen Kreise der Jugendbewegung fanden derlei Pointen allerdings keineswegs lustig. Sie stellten vielmehr entweder heraus, Lagarde habe „zu seiner Zeit“, aufgrund damals noch bestehender „unzureichender Erkenntnis des Geblütes“, gut daran getan, „vor diesem Maßstab zu warnen“ (Gerlach 1916c: 29) – ein Argument, das deutlich schon rassenhygienische Motive transportiert. Oder sie beschränkten sich dort, wo Diederichs die Verwendung derartiger Motive gleichsam ad personam verbaut hatte – keinen anderen Zweck erfüllte sein Hinweis, sein Kritiker Luntowski sei „ein deutschvölkischer Schriftsteller polnischer Abstammung“ (Diederichs 1916: 27)[37] – auf dröhnende Schlußworte des Inhalts: „Viele Deutsche werden Ihnen für Ihre Zeilen dankbar sein. Wir wissen jetzt, wo Sie stehen.“ (Luntowski 1916: 29) Vor dem Hintergrund dieser Debatte überrascht es wenig, daß der zunächst von Dankwart Gerlach und später von Otger Gräff geleitete Greifenbund die ‚Judenfrage‘ so löste, daß er von seinen Mitgliedern „germanisches Geblüt“ verlangte, wohingegen der sich gleichfalls als Älterenorganisation verstehende Bund der Landsgemeinden „‘nur‘ deutsches Gemüt“ für erforderlich hielt – eine ‚Lösung‘, die in der Wandervogelführerzeitung natürlich nur zähneknirschend zur Kenntnis gegeben wurde (vgl. Haberkorn 1916), wenngleich sie, wie am Argument von Gerlach gesehen, mit Lagarde vermittelbar schien. Ganz anders freilich sah man dies in der sich nun zunehmend als eigentliche ‚Führerzeitung‘ verstehenden, erstmals im Dezember 1914 erschienenen und seit Juni 1915 von Knud Ahlborn redigierten Zeitschrift Freideutsche Jugend. Dankwart Gerlach erhielt hier zwar gelegentlich noch die Chance zur Rechtfertigung (vgl. Gerlach 1916f.), etwa gegenüber Max Hodann (1916a), auch gegenüber der von Georg Schmidt (1916b) betriebenen Infragestellung des Führungsanspruchs der Wandervogelführerzeitung (vgl. Gerlach 1916g). Aber angesichts des von Schmidt gegenüber Gerlach noch einmal in Erinnerung gerufenenen Fakts, „daß sich eine sehr große Zahl von Führern ablehnend gegen seine Zeitung“ verhalte und ihn gebeten habe, „den Untertitel seiner Zeitschrift als einer Zeitung der Wandervogelführer zu streichen“ (Schmidt 1916c: 376), war natürlich eine wichtige Weichenstellung erfolgt. Sie reflektierte auch auf den Beschluß einer Führerbesprechung in Jena im April 1916, von einer „Besprechung der Rassenfrage“ abzusehen, weil es „für das Gemeinsschaftsleben der F(reideutschen) J(ugend) eine selbstverständliche Bedingung sei, daß alle ihre Mitglieder – welcher Konfession oder welcher Rasse sie angehören – einander Achtung und Vertrauen entgegenbringen.“ (zit. n. Kindt 1968: 582) Vor diesem Hintergrund wird auch der Beschluß verständlich, über die Aufnahme des Greifenbundes – noch – nicht zu entscheiden, zumal im Fall eines positiven Entscheids, wie das Protokoll notiert, die Gefahr bestand, daß in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit „‚freideutsch‘ und ‚antisemitisch‘ gleichgesetzt werden“ (ebd.) würden. Dem damit gesetzten Rahmen gehorchten auch die Folgebeiträge zur ‚Judenfrage‘ in der Freideutsche Jugend, die zumeist auf sehr hohem Niveau und auch unter Einbezug der maßgebenden universitären Prominenz (vgl. etwa Natorp 1917) abgehandelt wurden sowie in der Regel zu dem Ergebnis kamen, daß ein genereller Ausschluß von Juden der Vernunft ebenso wie dem Geist der Meißnerformel widersprach (vgl. u.a. Loose 1917; Klauber 1917; Zander 1917; Pohlmann 1917; Messer 1917; Hasselblatt-Paul/Hasselblatt 1917; Schulz 1917).

Fast folgerichtig war im Rücken dieser auch nach Kriegsende noch – teilweise unter Rückgriff auf posthum zum Abdruck gebrachte Beiträge (vgl. Fürst 1920) – fortgesetzten Debatte (vgl. Gron 1920) das wieder zunehmende Interesse an der Meißnerformel. Die Judenfrage schien nun für viele ein durchaus realistisches Exempel zu geben für die Gefahr, daß die Jugendbewegung im Begriff stünde, „auf den alten Parteischwindel des allein selig machenden Bekenntnisses“ zu verfallen, anstatt am Ziel einer „Erziehungsgemeinschaft“ festzuhalten, die sich auf die „Suche nach dem neuen Menschen“ (Hodann 1915: 576) begab. Entsprechend wurde die Marburger Kompromißformel, die noch im April 1916 in Jena ihrer Substanz nach bestätigt worden war (vgl. Kindt 1968: 582), im Juni 1916 auf einer Vertretertagung in Göttingen zugunsten einer Formulierung preisgegeben, die wieder dem Geist der Meißnerformel nahestand. Dies geschah durch Fortlassung der noch in Jena eingebrachten, wenig später aber „scharf kritisierten“ (Lemke 1916: 590) Formulierung, wonach die Freideutsche Jugend „nach eigener Bestimmung sich die Werte aneignen (will), welche die Älteren erworben und überliefert haben“ (zit. n. Kindt 1968: 582). Ab da an und gleichsam begleitend zu dem Kollaps der Werte der Erwachsenenkultur, für die Krieg wie Kriegsverlauf zunehmend Zeugnis ablegten, begann der Versuch der Regeneration der Jugendbewegung als das, was sie ihrem Anspruch nach hatte sein wollen: eine durch kulturkritische Motive angeleitete Selbsterziehungsgemeinschaft. Daß ihr das nicht gelang, zeigte die weitere Entwicklung.

3. Ausblick

Das Fazit, das aus dem im Vorhergehenden in Erinnerung Gerufenen zu ziehen wäre, besteht zunächst nur darin, hellhörig zu werden, wenn man hört, daß sich unter der Regie von Neonazis rechte Trupps zur Sonnenwendfeier in einem Dorf bei Celle treffen (Der Spiegel Nr. 32/2000: 25) oder wenn man via Internet über die Zielsetzung einer Allgermanischen Heidnischen Front belehrt wird, die „alle germanischen Völker und Stämme in einem ‚Großgermanischen Reich‘ vereinen (will)“ und die dabei „zu einer umfassenden Jugendbewegung zu werden“ (zit. n. Der Spiegel Nr. 38/2000: 136) beabsichtigt. Denn wenn man Sprangers These zugrundelegt, müßte man derartige Formeln eigentlich als a-thematisch beiseitesetzen und den Autoren der Internetnotiz eine völlig unzulässige Inanspruchnahme des Ausdrucks Jugendbewegung bescheinigen, zumal offenkundig nicht daran gedacht ist, das ‚Autonomiestreben‘ der Jugend zu beachten. Wenn man allerdings die historischen Quellen in ihrer ganzen Breite konsultiert, kommt man nicht an der Notwendigkeit vorbei, die Inanspruchnahme des Ausdrucks Jugendbewegung in der o.a. Internetnotiz im Hinblick darauf zu diskutieren, ob hier nicht doch ein gewisses begriffliches Recht gegeben ist. Dies freilich wäre einigermaßen verheerend. Denn man könnte sich dann nicht mehr beruhigen mit der Rückbesinnung auf eine vormals viel bessere Welt. Sondern man stünde vor der Wiederkehr der schon einmal ganz falschen Option – und hätte sich ganz neu zu fragen, warum ihre Suggestion, ungeachtet der schrecklichen Folgen, die sie in sich barg, erneut zu wirken vermag.

Am Ende stünde möglicherweise, daß die hier in erster Linie zuständige Wissenschaft, die Sozialpädagogik, einer Konzeption von Jugendarbeit zuzuarbeiten hätte, die sich weniger dem Streben der Jugend nach – falsch verstandener – ‚Emanzipation‘ fügt als dem des Unterbindens eines falsch verstandenen und durch die Wirkung von Videospielen noch um den Faktor ‚Gewalttätigkeit‘ bereicherten Strebens nach Herrenmenschentum[38] im Rahmen einer durch Gruppenrituale noch verstärkten Gegenwelt. Wie dies im einzelnen geschehen könnte, liegt außerhalb des hier zu behandelnden Themas. Eines aber sollte nun außer Frage stehen: Neonazistische Jugendliche beeeindruckt man nicht mit der ‚Moralkeule‘ Jugendbewegung und der Rückerinnerung an die angeblich so hehren Motive, denen sie folgte. Eher schon dürfte man sie beeindrucken, wenn man für Aufklärung mittels historischer Forschung Sorge trägt und aufgrund der daraus zu entwickelnden pädagogischen Maßgaben – etwa in der Logik eines ‚Null-Toleranz-Konzeptes‘ – ihr Selbstmißverständnis untergräbt, in ihrem Handeln bezeuge sich die Wiedergeburt einer durchaus doch ehrenwerten Variante einer früher weitverbreiteten Strömung innerhalb der Jugendbewegung, der niemand sonst Aufmerksamkeit zollte. Dem ist nicht so: Die Aufmerksamkeit des Faches ist wieder da, und zwar mit der Folge, daß sich die Abscheu gegenüber neonazistischen Gesinnungen, von der einleitend die Rede war, besser als je zuvor argumentativ begründen läßt. Dies sollte unter Verweis auf eine Historie geschehen, für die sich die Denkfigur der Kontinuität sehr viel besser zu eignen scheint als die des ‚Bruchs‘.

Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin / Dresden

Text: Dieser über zwanzig Jahre alte Text steht für den Beginn meiner Auseinandersetzung mit der (Neuen) Rechten, als deren (vorläufiger?) Abschluss mein in Herstellung befindliches Buch „Die AfD und ihr Think Tank im Sog von Trumps & Putins Untergang. Eine Analyse mit Denk- und Stilmitteln Nietzsches“ (Beltz Juventa, i. V.) gelten kann. Er fand zwar, weil es sich bei diesem Buch nicht um eine Aufsatzsammlung handelt, keine Aufnahme in diesen Band. Aber die in ihm dominierende Argumentationslinie ist hier bereits angelegt.

Bild oben: Gruppe des Wandervogels aus Berlin, 1930, Bundesarchiv, Bild 183-R24553 / CC-BY-SA 3.0

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[1] Zuerst erschienen in Neue Sammlung (Klett-Cotta Friedrich) 41 (2001), S. 463-487.
[2] Allein im ersten Halbjahr 2000 registrierte die Polizei 5.223 antisemitische, fremdenfeindliche oder rechtsextremistische Straftaten, ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr um fast 10 %. Ein Vergleich der Zahlen nach einzelnen Bundesländern ergibt nach dem Verfassungsschutzbericht 1999, jeweils auf 100.000 Einwohner pro Bundesland bezogen, die Rangordnung: Sachsen-Anhalt (3,0), Mecklenburg-Vorpommern (2,6), Brandenburg (2,4), Thüringen (2,0), Sachsen (1,9), Hamburg (1,4), Niedersachsen (1,0), Berlin (0,9), Schleswig-Holstein und Bremen (0,9), Baden-Württemberg  und Rheinland-Pfalz (0,6), Nordrhein-Westfalen und Bayern (0,5), Hessen (0,4) sowie Saarland (0,2) (zit. n. Der Spiegel Nr. 32/2000: 25).
[3] Winnecken 1991, S. 29
[4] Spranger 1950, S. 322
[5] Herrmann 1991a, S. 34
[6] ebd., S. 37. Herrmann hatte bereits einige Jahre zuvor ausgewählte Passagen in der Zeitschrift Junge Menschen vom Oktober 1921, die erneut die Rede auf die Notwendigkeit ‚neuer Menschen‘ sowie einer ‚neuen Gesellschaft‘ brachten (vgl. Herrmann 1987, S. 28 f.), als gleichsam unzeitgemäß verworfen.
[7] Gründel 1932, S. 20
[8] Herrmann 1991a, S. 37 f.
[9] Schmid: „Davon kann überhaupt keine Rede sein. Natürlich gab es auch hier später zwei Gruppen, die sich getrennt haben. Die eine ging zu den rechtsradikalen und andere zu der linksradikalen Seite. Aber wenn man daraus eine antisemitische Haltung und damit eine Wegbereitung für den Nationalsozialismus schließen will, so widerspricht das völlig den Tatsachen. Es gab nicht nur Juden in den verschiedenen Bünden des Wandervogels, es gab auch einen eigenen jüdischen Jugendbund.“ (zit. n. Neuloh 1982, S. 52)
[10] J. Müller 1971, S. 88
[11] Vergleichbar fragwürdig ist es, wenn ein sich selbst als ‚rechtsstehend‘ einordnender Wandervogel des Jahrgangs 1896, der die Weigerung „vieler alter Wandervögel“ (zit. n. J. Müller 1971, S. 187) zu begründen sucht, nach dem Krieg dem – als richtungslos empfundenen –  Kronacher Bund beizutreten, mit den Worten gelobt wird: „Unsere Quelle (…) besticht durch ihre Ausführlichkeit, Offenheit und Selbstkritik aus der Rückschau“ (ebd., S. 358). Denn dieses Lob steht in einem eigentümlichen Kontrast zu dem Umstand, daß das tatsächlich Mitgeteilte („Eingeständnis einer gewissen Genugtung über die Ermordung Liebknechts und Rosa Luxemburgs und eines gewissen Antisemitismus“; ebd.) nur in einem sehr unspezifischen Klammerausdruck mit wenigen Stichworten dargeboten wird, die in ihrer Brisanz völlig undiskutiert bleiben.
[12] Wangelin 1970, S. 70 f.
[13] Ausgehend von den wenigen Abonnenten meinte Jakob Müller davon sprechen zu dürfen, daß es sich bei den völkischen Gruppen wenn schon nicht um eine „verschwindende“, so jedenfalls doch um eine „relativ kleine Minderheit“ (Müller 1971, S. 79) gehandelt habe. In bagatellisierender Absicht war dies allerdings offenbar nicht gemeint: Müller wollte einen „im Vergleich zu ihrer Kleinheit grosse(n) Einfluss der völkische(n) Gruppe in den Jahren 1913 und 1914“ (ebd., S. 80) nicht in Abrede stellen – und dachte dabei vor allem an die Frankfurter Erklärung des Wandervogel e.V. zur ‚Judenfrage‘ (s.u.). Die Frage bleibt dann allerdings, woraus sich dieser – kurzfristige? – große Einfluss erklärt, wenn nicht aus einer langfristigen Übereinstimmung weltanschaulicher Optionenen…
[14] Winnecken 1991; Trefz 1999, S. 32 ff.)
[15] Vgl. Niemeyer 2001. Vor dem Hintergrund dieses Forschungsdesiderats berührt es eigentümlich, daß, zur anderen Seite hin, auch die Literatur zur jüdischen Jugendbewegung nach wie vor „ein eher ‚stiefmütterliche()s Dasein‘ (fristet)“ (Bergbauer 2000, S. 23).
[16] C. W. Müller 1998, S. 19
[17] Vgl. Geissler 1963. Tatsächlich schien diese Frage auch deswegen schon naheliegend, weil man für die Nachkriegsepoche gleichfalls hinreichend Anlässe geltend machen konnte, einer ‚Emanzipation der Jugend‘ das Wort zu reden. Wie sehr dabei allerdings mitunter ein verklärender Blick auf die vermeintlich gute alte Jugendbewegung das Verständnis für die zeitbezogenen Ausdrucksformen jugendlichen Selbstverständnisses behinderte, möge das folgende Beispiel zeigen: Ende der 50er Jahre gratulierte der zuständige Redakteur einer westdeutschen Heimatzeitung einer achtundsiebzigjährigen Mitbürgerin zu ihrem Geburtstag, nicht ohne als besonders verdienstvoll im Blick auf ihre Verdienste um Stadt und Staat ihre frühere Mitwirkung im Jungdeutschen Orden herauszustellen. Nur eine Woche später konnte man in derselben Zeitung eine Glosse lesen über einen „flotten Burschen (…), der vermutlich mit seinen Blue Jeans auch nachts ins Bett geht“ und der verzückt den „fernen Rhythmen“ lauschte, die seinem Kofferradio zu entnehmen waren. Der Schlußsatz dieser Glosse war dann in jeder Hinsicht entlarvend: „Während die Hand den Apparat fest ans Ohr preßte, zuckte sein ganzer Körper. Wie schön muß doch Jazz, gemischt mit Straßenlärm, klingen! Oder darf er vielleicht zu Hause nicht… Armes, unverstandenes Jungchen!“ (zit. n. Schaumburger Zeitung 10/1959) Daß sich angesichts der gesamtgesellschaftlichen Konstellation der Adenauerzeit, die sich in dieser Darstellungsform spiegelt, die von Spranger wie Herrmann nahegelegte These eines ‚Bruchs‘ zwischen präfaschistischer Jugendbewegungsphase und nationalsozialistischer Indienstnahme der Jugend kaum problematisiert wurde, wird nicht überraschen.
[18] Vgl. J. Müller 1971, S. 338
[19] Berg 1991, S. 133; ähnlich Herrmann 1991b, S. 169 oder der bekannte SPD-Politiker Carlo Schmid in einem Zeitzeugeninterview (vgl. Neuloh 1982, S. 52), aus dem zugleich allerdings auch hervorgeht, „daß die SPD vor dem Ersten Weltkrieg den Wandervogel ablehnte, weil er ihr zu patriotisch war.“ (ebd., S. 53)
[20] Berg 1991, S. 134
[21] Im folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck bei Mogge/Reulecke 1988
[22] Nicht umsonst war es mit Ernst Keil ein Vetreter des Österreichischen Wandervogels, der auf dem Hohen Meißer im Interesse der angeblich bedrohten Deutschösterreicher zu Grenzlandfahrten aufrief und seine Rede „‘vor der verblüfften Menge‘ mit dem Ausruf ‚Waffen hoch!‘ (‚Reicher Beifall‘, laut Protokoll)“ (zit. n. Ursin/Thums 1961: 315) beschloß. Damit setzte er einen Nachklang zu seinem im ersten Heft der österreichischen Bundeszeitung Fahrend Volk gegebenen Bekenntnis: „Der Wandervogel ist durch und durch national.“ (ebd.: 298) Übrigens: In diesem Kontext gelesen, kann man das Anliegen Keils wohl kaum – wie Werner Kindt in seiner Quellenedition gemütlich anmerkte – dahingehend umschreiben, daß es ihm um die Position eines Deutschösterreichers ging, „der die Gefahr des Panslavismus schilderte“ (Kindt 1968: 502). Zumindest hätte es nahegelegen, Wyneken Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der in seiner Rede auf dem Hohen Meißner u.a. ausführte, daß es ihm unmöglich sei, „im Zeitraum weniger Minuten einmal demjenigen zuzujubeln, der ruft: ‚Die Waffen hoch!‘ und der euch zum Waffengange mit einem Nachbarvolke anspornen will, um dann gleich darauf zu singen: ‚Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt‘.“ (Wyneken 1913: 502 f.) Daß Wynken hiermit „in polemischer Weise“ (Ursin/Thums 1961: 315) auf Keil reagiert hatte, wird man wohl kaum sagen können, zumal wenn man seinen Zusatz in Betracht zieht: „Wenn ich die leuchtenden Täler unseres Vaterlandes hier zu unsern Füßen ausgebreitet sehe, so kann ich nicht anders als wünschen: Möge nie der Tag erscheinen, wo des Krieges Horden sie durchtoben. Und möge auch nie der Tag erscheinen, wo wir gezwungen sind, den Krieg in die Täler eines fremden Volkes zu tragen.“ (Wyneken 1913a: 502)
[23] Bude 2000, S. 567
[24] Konrad 2000, S. 15
[25] Imendörffer 1914, S. 145. Übrigens ist es exakt diese Wendung, die im Wiederabdruck in der an sich als renommiert gerühmten Quellensammlung Werner Kindts (1968, S. 313) fortgelassen wurde, ebenso übrigens wie der Zusatz Imendörffers, Bernfeld erhebe, seiner jüdischen Herkunft wegen, „wohl selbst nicht den Anspruch, als Deutscher zu gelten“ (Imendörffer 1914, S. 145). Auffällig sind auch Kindts Auslassungen im Nachdruck eines – offenbar von Karl Sonntag stammenden – Aufsatzes aus der Zeitschrift Der Weiße Ritter. Vorenthalten werden dem Leser nämlich ausgerechnet Sätze wie: „Dem Erdgeist der Heimat ist ebensowenig zu entrinnen wie dem Blutstrom, der von den Gebirgen Skandinaviens her durch die germanischen Völker in die Zeit stürzt.“ (Sonntag 1920/21, S. 184) Diese beiden Stichproben pars pro toto gelesen, müßte man schon recht naiv sein, wenn man dahinter nur einen Zufall vermutet, nicht aber einen weiteren Hinweis auf den Stand der Forschung, soweit sie noch durch die betrieben wurde, die der Jugendbewegung selbst entstammten…
[26] Messer 1920, S. 4
[27] zit. n. Groothoff 1914a, S. 68
[28] Lemke 1913, S. 498
[29] Messer 1914/15, S. 86
[30] Vgl. Röhrs 1980, S. 125; Sting 1998, S. 118 f.
[31] Vgl. Meier-Cronemeyer 1969, S. 19)
[32] In dieser Erklärung hieß es u.a.: „Mit Entschiedenheit weisen wir im besonderen die Anmaßung der Führerzeitung zurück, dem Wandervogel den Antisemitismus als eine ganz allgemein notwendige Gesinnung zu unterschieben“ (zit. n. Köhler 1914a: 5).
[33] Dies gilt auch für Wilhelm Zilius, der seiner durch Zeitzeugeninterviews aufgelockerten Darstellung das fragwürdige Resümee voranstellt, daß die Frage der Aufnahme oder Ablehnung von jüdischen Jugendlichen primär nach dem persönlichen Eindruck erfolgte, d.h. unter dem „Gesichtspunkt der Homogenität der WV-Gruppe gesehen werden muß.“ (Zilius 1982, S. 136)
[34] Lagarde hatte geschrieben: „Die Juden sind als Juden in jedem europäischen Staate Fremde, und als Fremde nichts andere als Träger der Verwesung.“ (Lagarde 1881: 256)
[35] Lagarde hatte geschrieben: „Wir werden (…) das Judenthum ganz gewiß nicht durch irgendwelche Verfolgung, sondern nur dadurch überwinden, daß wir so lebendig wie möglich deutsch und evangelisch sind.“ (Lagarde 1881: 256)
[36] Schon Richard Wagner hatte, als ihm Lagarde im Januar 1881 den von Wilker ins Zentrum gerückten Text schickte, moniert, „daß man nicht wisse, ob er für eine Sache sei oder nicht.“ (zit. n. Wagner 1976: 672)
[37] Möglicherweise war es dieser Hintergrund, der Adalbert Luntowski 1918 veranlaßte, sich das Pseudonym Reinwald zuzulegen.
[38] So erzählte ein sechzehnjähriger Gymnasiast aus Süddeutschland, der sich seit seinem elften Lebensjahr zu den  Rechten zählt: „Ich will größer sein als die Alltagsmenschen, ein Herrenmensch. Daß es in Ostdeutschland so viele Rechte gibt, finde ich klasse. Da sieht man, daß die Linken dort die Menschen nicht brechen konnten.“ (zit. n. Der Spiegel Nr. 32/2000: 27)