Die Interessenvertretung der Deutschlehrkräfte fordert in ihrer Paderborner Erklärung, dass Holocaust-Literatur im Deutschunterricht verpflichtend behandelt werden müsse. Damit will sie dem stetigen Rückgang des Wissen über die Shoah begegnen. Bei genauerer Betrachtung bleibt jedoch fraglich, wie auch dem mangelnden Wissen über Antisemitismus begegnet werden kann.
Von Pascal Beck
Zuerst erschienen in: Jungle World v. 5.1.2023
Ende Dezember forderte der Fachverband Deutsch im Deutschen Germanistenverband, die Interessenvertretung der Deutschlehrkräfte, Holocaust-Literatur in allen Schulformen verpflichtend in die Lehrpläne für das Fach Deutsch aufzunehmen. Die Schule sei der einzige »Sozialraum«, den »alle Menschen durchlaufen«, weshalb dessen »Beiträge zu einer modernen Erinnerungskultur nicht zu überschätzen« seien. »Dringlichkeit und Eile« seien geboten, »weil zahlreiche erschreckende Ereignisse und Geschehnisse, nicht erst seit der Jahrtausendwende, die Gefahren von Verdrängen und Vergessen in bedrohlicher Deutlichkeit dokumentieren«, heißt es in der Paderborner Erklärung. Konkrete Beispiele werden nicht genannt.
Bei einer qualitativen Studie zu Antisemitismus an Schulen wurden in den Jahren 2017 bis 2019 an 171 Schulen in ganz Deutschland Interviews mit jüdischen Schülern, ihren Eltern sowie mit jüdischen und nichtjüdischen Lehrkräften geführt. Die Ergebnisse zeigen, dass sich der Antisemitismus als Problem an den Schulen verfestigt hat – unter anderem weil seine Manifestationen bei den Schülern häufig von Lehrern bagatellisiert würden. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat bereits 2021 beklagt, dass der Antisemitismus an den deutschen Schulen wächst. Einer Befragung der Körber-Stiftung zufolge haben vier von zehn Schülern nichts von Auschwitz gehört und eine repräsentative Studie von CNN hat gezeigt, dass das Wissen über die nationalsozialistische Verfolgung der Juden schwindet.
Die Paderborner Erklärung weist darauf hin, dass mit dem Ende der Zeitzeugenschaft des Holocaust eine verbindliche »Verankerung« der Erinnerung im schulischen Bildungsplan nötig werde. Primo Levi schrieb einst, dass das »reichhaltigste Material für eine Rekonstruktion der Wahrheit der Konzentrationslager die Erinnerungen der Überlebenden sind«. In den Berichten der Überlebenden äußert sich der Wunsch, die Deutung der Verbrechen nicht den Deutschen zu überlassen. Das lag besonders dem Schriftsteller Jean Améry am Herzen. Seine Erfahrungen in den nationalsozialistischen Lagern verarbeitete Améry in seiner 1966 veröffentlichten Essaysammlung »Jenseits von Schuld und Sühne«. Im Vorwort zur Erstausgabe macht er deutlich, dass er sich primär an die Deutschen richtet, die sich »in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht oder nicht mehr betroffen fühlen«.
Als Opfer sträubt sich Améry gegen die Abstraktion und insistiert auf der konkreten Erfahrung, welche Zeugnisse wie die seinen vermitteln sollen. Trotz ihres subjektiven Gehalts ist solche Erfahrung von objektiver Bedeutung, weil sie die Verbrechen der Deutschen buchstäblich verkörpert. Améry schrieb hierzu in seinem Vorwort: »Wo das ›ich‹ hätte vermieden werden sollen, erwies es sich als der einzig brauchbare Ansatzpunkt.« Die Auseinandersetzung mit Texten und Biographien ist eine wichtige Strategie, um der Depersonalisierung entgegenzuwirken, die die Deutschen den Juden antaten. Gleichzeitig kann so der Umfang der Verbrechen auf weit eindrucksvollere Weise vermittelt werden als durch kalte Zahlen, Fakten und Quellen.
Doch gerade darin liegt auch ein Problem: Seit die Personalisierung des Gedenkens in der sogenannten Holocaust Education angekommen ist, fällt man dem Glauben anheim, dass sich mit den Opfern auseinanderzusetzen automatisch einen Erkenntnisgewinn über Antisemitismus mit sich brächte. Amérys Texte sind in dieser Hinsicht aufschlussreich. In seinen Erfahrungen drückt sich die Vernichtungsdrohung aus, die dem Antisemitismus inhärent ist. Die dahinterliegenden Motive hingegen bleiben ungewiss; sie aufzuspüren, darf von Schriftstellern wie Améry auch nicht erwartet werden. Die projektive Scheinrealität der Antisemiten gebietet es, sich mit den Tätern und den gesellschaftlichen Strukturen auseinanderzusetzen, wegen derer sie sich für den Antisemitismus entschieden haben. Dann erst kann auch ein Begriff von Antisemitismus entwickelt werden. Es muss vermittelt werden, dass, wie und warum der Antisemitismus die Shoah überdauert hat. Ohne diese Ergänzung droht die Auseinandersetzung mit Holocaust-Literatur zur bloßen oral history zu verkommen.
Solange Geschichtswissenschaft reine Quellenarbeit betreibt, wird sie dem Nationalsozialismus nicht gerecht. Diese Quellen bleiben Historie, reine Illustration, wenn man den Antisemitismus nicht als Kernelement des Nationalsozialismus begreift, nicht nach seinen gesellschaftlichen Gründen und seiner psychischen Funktion fragt und damit dessen Voraussetzungen nicht als weiterhin gegeben erkennt. Insofern ist es durchaus ein wichtiger Schritt, die Beschäftigung mit der Shoah aus ihrer isolierten Stellung innerhalb der Geschichtswissenschaften zu lösen und auf andere Disziplinen und Schulfächer zu erweitern. Fraglich bleibt indes, ob allein damit bereits mehr Erkenntnis gewonnen werden kann.
Ein genauerer Blick in die Paderborner Erklärung macht diesbezüglich wenig Hoffnung. Kein einziges Mal wird darin der Antisemitismus erwähnt. Stattdessen bemüht man die »multidirektionale Erinnerung«. Dieser von Michael Rothberg mittlerweile auch in Deutschland eingeführte Terminus stellt die Verflechtung von Gewaltgeschichten in den Vordergrund, um einer »Opferkonkurrenz« vorzubeugen und von Rassismus betroffene Menschen in den westlichen Erinnerungsdiskurs zu integrieren, wobei die Spezifika des Judenhasses auf der Strecke bleiben. Weiter heißt es in der Paderborner Erklärung, dass »die Vielgestaltigkeit von Erfahrungen einer heterogenen Schüler*innenschaft zu berücksichtigen« sei und »die Erinnerung an den Holocaust, wie auch anderer Genozide, in einer sich wandelnden Gesellschaft wach und relevant« gehalten werden müsse.
Da die Erklärung insgesamt sehr vage formuliert ist, bleiben nur Mutmaßungen – in der Hoffnung, dass diese sich nicht bewahrheiten. Doch die Befürchtung liegt nahe, dass es den Verfassern gar nicht wirklich um die Erinnerung an die Shoah, ergo den Kampf gegen den Antisemitismus geht. Gerade der Verweis auf die »Vielgestaltigkeit von Erfahrungen einer heterogenen Schüler*innenschaft« hat den schlechten Beigeschmack, dass sich Kinder mit Migrationshintergrund nicht für die Shoah interessieren könnten, weil sie keinen Bezug zur kulturellen Geschichte ihrer Familie habe. Problematisch daran sind gleich drei Punkte. Erstens würde das bedeuten, dass Antisemitismus ein national deutsches Problem sei. Zweitens essentialisiert es eben jene Kinder und erklärt sie gewissermaßen zu ewig Fremden in der deutschen Gesellschaft. Warum muss davon ausgegangen werden, dass Kinder, deren Eltern oder Großeltern nicht in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind, ein stärkeres Interesse an der Geschichte derer Herkunftsländer haben als an der Geschichte des Landes, in dem sie selbst geboren oder aufgewachsen sind, zumindest leben? Und drittens wird die Shoah damit einmal mehr historisiert und relativiert.
Holocaust Education geht so in einer allgemeinen Menschenrechts- oder auch Demokratiepädagogik auf; die Shoah wird dann lediglich zu einem Menschenrechtsverbrechen unter vielen. Der Antisemitismus bliebe damit ein unbekannter und inhaltsleerer Begriff, der allerhöchstens als Unterkategorie des Rassismus zugelassen ist. Solcher Verharmlosung hätten Améry und Levi erbittert widersprochen. Für Améry ist jeder Jude ein »Katastrophenjude«, einer, der nur auf die nächste Katastrophe wartet. Er ist ein »Toter auf Urlaub«, ein »zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte«. Und Levi schrieb zwar, dass die Überlebenden das reichhaltigste Material liefern und somit Zeugnis für die »Untergegangenen« ablegen können. Er ergänzte dies jedoch um einen wesentlichen Aspekt: »Sie sind die Regel, wir die Ausnahme (…) denn die Lager sind Vernichtungslager, das darf man nicht vergessen.« Als hätte er Versuche wie den Rothbergs vorausgesehen, hatte Améry mit düsterem Blick auf die Zukunft geschrieben: »Alles wird untergehen in einem summarischen ›Jahrhundert der Barbarei‹.«
Wer keinen Begriff vom Antisemitismus hat, wird auch keinen von Auschwitz haben. Saul Friedländer hat den wichtigen Begriff des »Erlösungsantisemitismus« geprägt. Es gilt, diesen wieder in den Vordergrund zu stellen, die Spezifika zu betonen, die ihn vom Rassismus unterscheiden, und herauszuarbeiten, wovon sich die Antisemiten erlösen wollen. Eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus, die seine Verschiedenheit vom Rassismus und seine Beziehungslosigkeit zum Kolonialismus übergeht, kann nicht seiner Bekämpfung dienen. Die Rede vom »heterogenen Erinnern« wird dann zur Ausrede.
Wie wichtig es wäre, einen Begriff vom Antisemitismus zu entwickeln, hat sich beispielsweise im August des vergangenen Jahres gezeigt. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz warf Mahmud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Israel vor, einen »Holocaust« an der palästinensischen Bevölkerung zu begehen. Zwar echauffierte sich Scholz später und wies den Vergleich zurück. Während der Pressekonferenz selbst soll er lediglich »sichtlich verärgert« gewesen sein, blieb jedoch stumm. Für eine direkte Konfrontation mit Abbas schien die Verärgerung indes nicht genügt zu haben.
Bild oben: (c) Mountain / CC BY-SA 3.0