„Was Hitler tut, das wird für uns legal dadurch, daß er es tut!“

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Als die Nazis an die Macht kamen, am Beispiel der Stadt Hameln

Von Bernhard Gelderblom

Lange hatte Reichspräsident Hindenburg es abgelehnt, den „böhmischen Gefreiten“ Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Am 30. Januar 1933 war es schließlich doch so weit. Der gescheiterte Reichskanzler von Papen, der Hindenburgs Vertrauen genoss, meinte in totaler Verblendung, einen Reichskanzler Hitler „einrahmen“, d.h. unter seine Kuratel stellen zu können. Mit der Ernennung Hitlers hatten die Nationalsozialisten die entscheidende Hürdauf dem Weg zur Macht genommen. Zwei Tage später löste Hindenburg auf Drängen Hitlers den Reichstag auf und kündigte Neuwahlen für den 5. März an. Bis zu den Wahlen konnte Hitler nun mit „Notverordnungen“ regieren, ohne Rücksicht auf den Reichstag nehmen zu müssen. Von Papens arroganter Ausspruch, man habe Hitler bloß „engagiert“, um ihn bald wieder fallen lassen zu können, erwies sich als krasse Fehleinschätzung. Die NSDAP sorgte mit Radikalität und Gewalt für eine revolutionäre Dynamik, die Deutschland innerhalb weniger Monate fundamental veränderte. Ihr kam dabei zugute, dass sie mit der SA eine gewaltbereite Truppe in der Stärke von über 400.000 Mann zur Verfügung hatte. Günstig für eine Umwälzung von Staat und Gesellschaft wirkte sich aber auch aus, dass im Bürgertum eine tiefsitzende, irrationale Furcht vor einer kommunistischen Machtübernahme herrschte.

Die sog. „Machtergreifung“ wurde auch in Hameln groß gefeiert. Wie am Abend zuvor in Berlin veranstalteten SA und Stahlhelm am 31. Januar einen Fackelzug durch die Stadt. Laut Deister- und Weserzeitung (Dewezet 1.2.1933) war der 30. Januar für viele Hamelner ein Tag nationaler Hoffnung:

„In der Bäckerstraße säumt die Menge zu beiden Seiten die Bürgersteige, in der Osterstraße drängen sich viele hundert Menschen vom Rathaus bis zur Garnisonkirche, am alten Exerzierplatz (= heute Bürgergarten) herrscht ein gewaltiges Drängen und Laufen. … Kurz nach 20 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung. …

Hübsch sieht sich in den engen Straßen unserer Altstadt so ein Fackelzug an. … Hier und da tut sich ein Flügel auf und jemand grüßt mit ‚Front Heil‘ oder dem Hitlerruf herab.“

In seiner Ansprache redete NSDAP-Kreisleiter Erich Teich Klartext:

„Jetzt sind wir oben und wir werden oben bleiben […]. Und wenn unsere Gegner ankündigen, daß sie argwöhnisch darüber wachen wollen, daß die Maßnahmen der Regierung Hitler sich im Rahmen des Legalen halten, so rufen wir ihnen zu: Was Hitler tut, das wird für uns legal dadurch, daß er es tut!“

Am 27. Februar verübte der junge Holländer Marinus van der Lubbe einen Brandanschlag auf den Reichstag. Er wollte ein Fanal gegen Hitler setzen. Die NSDAP deutete das sofort als kommunistischen Aufstandsversuch. Am 28. Februar 1933 erschienen die meisten Zeitungen, darunter die Dewezet, mit der Schlagzeile: „Kommunisten zünden den Reichstag an“. Goebbels notierte in sein Tagebuch: „Alles strahlt“. Am Tag nach dem Anschlag unterschrieb Hindenburg die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“. Mit ihr wurden wesentliche Grundrechte der Verfassung außer Kraft gesetzt. Der Weg für die Verfolgung der politischen Gegner war frei.

Im Vorfeld der Wahlen holte die NSDAP den Reichstagsabgeordneten Karwahne nach Hameln. Ein Auszug aus seiner Rede als Beleg für eine Sprache im Zeichen der Gewalt:

„Der Nationalsozialismus hat […] sich die Niederringung des völkermordenden Marxismus auf seine Fahne geschrieben. […] Der Nationalsozialismus will keinem der irregeleiteten deutschen Arbeiter ein Haar krümmen; aber die internationalen Verführer, die die Brandfackel in den Reichstag warfen, werden am Reichstagsportal aufgehängt werden.“ (Dewezet 3.3.1933)

Der kommissarische preußische Innenminister Göring setzte eine vor allem aus SA gebildete „Hilfspolizei“ ein. Diese Maßnahme kann in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzt werden. Die preußische Polizei, bisher ein Bollwerk gegen Terror von rechts wie links, wurde zu einem willigen Instrument der Partei. Jedem Schutzpolizisten wurde nun ein SA-Mann an die Seite gestellt, der mit einer Schusswaffe ausgestattet war. Die Hilfspolizei ging sogleich mit Hausdurchsuchungen und Festnahmen gegen KPD-Mitglieder vor. Zehntausende Männer wurden in improvisierte KZs verschleppt und brutal misshandelt. Angeblich dienten die Festnahmen dazu, „Maßnahmen vorzubeugen, die etwa von der KPD angestiftet werden könnten“.

Die Hamelner KPD war mit 108 Mitgliedern zahlenmäßig schwach und von der Brutalität des Vorgehens gegen sie überrascht. Erste Verhaftungen gab es schon am 28. Februar. Karl Hölscher, KPD-Mitglied und Stadtrat, berichtet:

„Den Tag nach dem Reichstagsbrand bin ich als erster hier in Hameln verhaftet worden. Wir wurden […] zum Getreidespeicher (= der Wesermühlen) gebracht und dort von der SA zusammengeschlagen. […]. Als wir im Rieselspeicher zusammengeschlagen wurden, da haben mehrere von den SA-Männern gerufen: ‚Schmeißt die Hunde doch in den Hafen rein!‘ und erst als die Arbeiter, die dort auf der Mühle gearbeitet haben, an die Fenster klopften und gesagt haben, die sollten uns in Ruhe lassen, da hat man uns der Polizei wieder übergeben und abgeführt ins Gefängnis.“

Der Aufenthalt in den Händen der Hamelner SA bedeutete eine Gefahr für Leib und Leben. Tage später schaffte die SA die Männer ins Hamelner Gefängnis am Münsterwall (= heute Hotel Stadt Hameln), das rechtswidrig Hafträume zur Verfügung stellte. Dort mussten die Männer wenigstens nicht um ihr Leben fürchten, blieben aber im Ungewissen, wie lange ihre Festnahme dauern würde. Einzelne wurden nach drei Wochen entlassen, andere – wie Karl Hölscher – im Mai 1933, weitere in das nahe KZ Moringen verschleppt.

Auf Reichsebene erzielte die NSDAP bei der Reichstagswahl knapp 44 Prozent der Stimmen, in Hameln 46,2 Prozent – angesichts der Tatsache, dass die SA die Straße beherrschte, eigentlich enttäuschend. Es fällt auf, dass die Hamelner NSDAP bei allen Wahlen seit 1928 deutlich über Reichsdurchschnitt lag. Bei den Wahlen vom 31. Juli 1932 machte der Unterschied 8 Prozent aus. So enttäuschend das Ergebnis für die Hamelner NSDAP war, so laut feierte sie ihren „Triumph“. Unter starker Teilnahme der Bevölkerung marschierten SA, SS, HJ, Stahlhelm und Polizei (!) am 8. März vor dem Hochzeitshaus auf. An dem Gebäude, das damals als Rathaus diente, hatten sie u.a. die Hakenkreuzfahne aufgezogen. Die Demonstranten forderten die Übernahme der politischen Macht im Rathaus. Dort war mit Oberbürgermeister Dr. Scharnow ein Bürgerlicher im Amt. „Aufmärsche“ wie dieser waren nicht spontan, sondern organisierte Inszenierungen, die gleichzeitig in vielen Städten stattfanden. Sie sollten einschüchtern und die Macht der Straße demonstrieren.

Mit Gewalt einerseits und mit riesigen feierlichen Inszenierungen andererseits gelang es der NS-Führung in den Wochen des März und April 1933, die errungene Machtposition weiter auszubauen, um Staat und Gesellschaft grundlegend zu verändern.

Die Kommunalwahl vom 12. März 1933 brachte der NSDAP im Hamelner Stadtparlament die absolute Mehrheit. Unmittelbar danach schlugen die Nationalsozialisten zu. Haussuchungen der „Hilfspolizei“ richteten sich nun vor allem gegen sozialdemokratische und gewerkschaftliche Einrichtungen. Redaktion und Druckerei der sozialdemokratischen „Volksstimme“ in der Heiliggeiststraße, die Allgemeine Ortskrankenkasse am Wilhelmsplatz und die Verkaufsstellen des Konsums in der Bäcker- und der Deisterstraße wurden durchsucht. Mehrfach wurde auch das frühere „Heimkehrerlager“ am Brössel heimgesucht, das mit den Jahren eine Hochburg von SPD und KPD geworden war. Die Jagd auf die Kommunisten ging unvermindert weiter. Das erhoffte Ergebnis, Waffen zur Durchführung eines Aufstandes zu finden, hatten die Haussuchungen nicht. Stand 7. April hatten „Hilfspolizei“ und Schutzpolizei insgesamt 57 Personen aus Hameln und dem Kreis Hameln-Pyrmont in „Schutzhaft“ genommen.

Die Eröffnung des neuen Reichstages am 21. März inszenierte der gerade ins Amt gekommene Propagandaminister Goebbels in Gestalt einer riesigen Feier in der Garnisonkirche in Potsdam. Sie sollte der Vereinigung des konservativ bürgerlichen Lagers mit der Partei des Reichskanzlers Hitler bildhaften Ausdruck verleihen und nationale Gemeinschaftsgefühle wecken. Die Fotografie von der ehrerbietigen Verbeugung des im Frack gekleideten „Führers“ vor dem greisen Reichspräsidenten Hindenburg wurde zur Ikone dieses Schauspiels. Für das Bürgertum war die Feier der Beweis, dass ein Hitler unter einem Reichspräsidenten Hindenburg nichts Schlimmes anrichten könne. Der Tag von Potsdam wurde „reichsweit“ und also auch in Hameln groß begangen. Die Behörden hielten ihre Büros geschlossen, in den Schulen und sogar im Gefängnis am Münsterwall fanden Feierstunden statt. Die Einwohnerschaft wurde aufgefordert, die „nationalen Fahnen“ zu flaggen.

Die Hamelner Garnison trat um 11.40 Uhr auf dem Hof der Scharnhorstkaserne zum Feldgottesdienst an. Der Standortälteste Major Koch beschwor das „neue Deutschland“:

„Möge der Geist von Potsdam Symbol und Richtung für das neue Deutschland sein. Die Trennmauern zwischen Staat und Ständen sind gefallen. Das nationale Deutschland hat sich erhoben. Deutschland ist erwacht.“ (Dewezet vom 22. März 1933)

Während des Feldgottesdienstes wurde der Kasernenhof für das Hamelner Publikum freigegeben. Senior Hans Kittel, Pastor am Münster St. Bonifatius, begrüßte das „Dritte Reich“ mit den Worten:

„Heute wird für viele geerntet, um was die Söhne und Väter unseres Volkes gerungen und geblutet, wofür sie ihr Leben hingegeben haben. Was ihnen im Leben und Sterben vor Augen stand als heiliges Kampftum und herrlicher Siegpreis, ist nichts anderes gewesen als ein neues Deutschland, ein neues Reich voll Einigkeit und Recht und Freiheit.“

Das lutherische Landeskirchenamt in Hannover hatte gegen dieses Engagement eines Geistlichen nichts einzuwenden. Eine nationalsozialistische Gesinnung war unter Protestanten weit verbreitet.  Am Abend folgte ein riesiger Fackelzug von SA und Stahlhelm durch die Stadt, an dem sich die Kriegervereine, die Deutschen Turner, sämtliche Gesangsvereine, die freiwillige Feuerwehr und Schülerabordnungen der Hamelner Schulen beteiligten. Den Abschluss bildete ein Konzert der Stadtkapelle im Monopolsaal. Noch am selben Tag verkündete die Regierung eine Verordnung zur „Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung“. Mit dem beliebig dehnbaren „Heimtücke“-Paragraphen konnte jede Kritik an der Regierung mit Gefängnis bestraft werden, war die Tür zum „Gesinnungsterror“ und zur Denunziation weit geöffnet. Zwei Tage später verabschiedete der Reichstag das „Ermächtigungsgesetz“, das der Regierung das Recht verlieh, eigenmächtig Gesetze zu erlassen.

Bereits wenige Tage nach den Reichstagswahlen hatten in Hameln offene antijüdische Ausschreitungen begonnen. Fensterscheiben mehrerer jüdischer Geschäfte und Privathäuser wurden eingeschlagen; es gab einen Brandanschlag auf die Synagoge. Ein Gipfel an Brutalität war am 16. März erreicht, als SA-Leute mit einem Galgen, den sie auf einen Handwagen montiert hatten, vor ein jüdisches Kaufhaus zogen. Solche Ausschreitungen gingen auf die SA zurück; sie geschahen auch andernorts. Um dem Druck von unten nachzugeben und ihn gleichzeitig unter Kontrolle zu bringen, organisierte die NSDAP am 1. April einen „reichsweiten“ Boykotttag. Der Tag wurde in Hameln publizistisch mit einem ganzseitigen Aufruf in der Deister- und Weserzeitung eingeleitet. Der Boykott diene, so heißt es im Aufruf, der „Abwehr der jüdischen Hetze im Auslande. […] Ein Deutscher, der trotzdem noch beim Juden kauft, begeht Volksverrat.“ Der Aufruf nannte 29 Namen von Geschäften, Ärzten und Rechtsanwälten und gab auch deren Adressen an.

Juden lebten seit 800 Jahren in Hameln. Seit den mörderischen Pogromen zur Zeit der Pest im 14. Jahrhundert hatte es derartige Ausschreitungen in Hameln nicht mehr gegeben. Die Ereignisse hatten in Hameln den Charakter eines Pogroms. Sie fanden in aller Öffentlichkeit statt und wurden von der städtischen Verwaltung und der Polizei tatenlos hingenommen. Die Erklärung für die Heftigkeit der Ausschreitungen liegt im Radikalismus der Hamelner SA (Selbstbezeichnung „Mördersturm“) begründet, die sich in wilden Aktionen gegen „Linke“ und Juden ihr Betätigungsfeld suchte. Die Hamelner Juden waren geachtete Bürger und als Geschäftsleute aus der Stadt nicht wegzudenken. Was an Zugehörigkeit zu „deutscher Kultur“ über Jahrhunderte aufgebaut war, wurde buchstäblich an einem Tag hinweggefegt. Für die jüdischen Menschen war es eine verstörende, ja zerstörende Erfahrung eines tiefen Risses in der eigenen Biographie, eines Zusammenbruchs des Gefühls von Sicherheit in der selbstverständlichen Annahme, einer zivilisierten Gesellschaft anzugehören. Viele Hamelner Juden stellten sich nun innerlich darauf ein, Deutschland zu verlassen. Hinter geschlossenen Türen mögen sich Hamelner Bürger wegen dieses Zivilisationsbruchs geschämt haben; andere werden offen ihrer Schadenfreude Ausdruck gegeben haben. Öffentlichen Protest gab es jedenfalls keinen, bezeichnenderweise auch nicht von Seiten der Kirchen, die als einzige ihre Selbstständigkeit noch bewahrt hatten, aber selbst von einem religiösen Hass auf die Juden nicht frei waren. Die Boykottmaßnahmen gegen die jüdischen Geschäfte wurden in schwächerer Form Alltag. Bürger wurden von Hitlerjungen beim Betreten jüdischer Geschäfte fotografiert, Fotos mit Namen von Käufern in den sogenannten „Stürmerkästen“ veröffentlicht. Bereits 1934 hatte ein Großteil der Hamelner jüdischen Geschäftsleute aufgegeben.

Im April/Mai 1933 überschlugen sich die Ereignisse. Die Nationalsozialisten legten ein unglaubliches Tempo vor. Zeit zum Luftholen, zum Nachdenken gab es nicht. Sollte noch jemand Hitler skeptisch gegenüberstehen – er wurde überrumpelt. Es ging Schlag auf Schlag:

  • Am 20. April 1933, anlässlich seines Geburtstags, verlieh die Stadt Hitler die Ehrenbürgerwürde.
  • Am 7. Mai 1933 pflanzte die „Hitlerjugend“ am Münsterkirchhof eine „Hitler-Eiche“.
  • Am 10. Mai wurden die ersten Straßen und Plätze umbenannt:
    • die Deisterallee zur Adolf-Hitler-Allee
    • das Gelände vor dem Stadtkrankenhaus zum Schlageter-Platz
    • den Platz zwischen Münster und Weserbrücke zum Horst-Wessel-Platz

 

Hitler war gerade zwei Monate im Amt! Und schon richtete sich das „Dritte Reich“ auf Ewigkeit ein. Jede Ratssitzung gestaltete sich zu einer Feier der lokalen Machtübernahme, an deren Ende stehend das Horst-Wessel-Lied gesungen wurde. Dass das alles reine Symbolpolitik, bloßer Aktionismus, war, störte niemanden.

Natürlich geschah das Alles „reichsweit“, waren die „Aktionen“ zentral gesteuert. Das gilt auch für die Feier des 1. Mai. An diesem Tag sollten die Einwohner Hamelns wieder einmal die Häuser beflaggen. Wieder einmal sollte ein Fest alles in den Schatten stellen, was es bisher gegeben hatte. Der „Führer“ hatte den „Kampftag“ der Arbeiterbewegung zum gesetzlichen Feiertag, zum „Tag der nationalen Arbeit“ der „Volksgemeinschaft aus Arbeitern, Bauern und Akademikern“ erhoben. Einen Tag später, am 2. Mai, vernichteten die Nationalsozialisten alle Einrichtungen, die sich die Arbeiterschaft in Hameln aufgebaut hatte: die Gewerkschaften, die „Arbeiterwohlfahrt“ (AWO), die Tageszeitung „Niedersächsischen Volksstimme“, die Konsum- und Spargenossenschaft sowie zahlreiche Sport- und Kulturvereine. Im Verlagshaus der „Volksstimme“ in der Heiliggeiststraße (heute „Rosa-Helfers-Haus“) wurde fortan die Niedersächsische Tageszeitung (NTZ) gedruckt, die sich als „Kampfblatt für den Nationalsozialismus“ verstand. Was nicht zerschlagen wurde, wurde „gleichgeschaltet“ und unter nationalsozialistischer Leitung weitergeführt. Das gilt für die Konsum- und Spargenossenschaft, obwohl der Hamelner Einzelhandel ihre Auflösung energisch forderte. Die NSDAP eignete sich damals zahlreiche Grundstücke und Vermögenswerte an. Wichtigstes Projekt war die Übernahme der Stadtverwaltung. Die NSDAP hatte die bisherige Verwaltung stets als korrupt diffamiert. Die Übernahme der Verwaltung wäre nun die erste Nagelprobe, wieweit sich die Partei in dieser Aufgabe bewähren würde. Seit der Bürgervorsteherwahl vom 12. März besaß die NSDAP zwar die absolute Mehrheit im Rat. Sie hatte es aber mit einer Stadtverwaltung zu tun, die aus der Weimarer Zeit stammte. An ihrer Spitze stand mit Oberbürgermeister Dr. Scharnow (DVP) ein Bürgerlicher, dessen Amtszeit noch nicht beendet war. Seit der Machtübertragung auf Hitler stellte sich Scharnow auf die Seite der neuen Machthaber. Ohnehin gab es zwischen Konservativen und Nationalsozialisten breite Interessensidentitäten.

Dann kam Donnerstag, der 27. April, früher Morgen: Die Sirenen in der Stadt heulen. „Erregte“ Bürger sammeln sich vor dem Hochzeitshaus. Die Ratsfraktion der NSDAP tagt. Sie beschließt, Scharnows Amtsenthebung und ein Disziplinarverfahren einzuleiten.  Als Scharnow gegen 8.15 Uhr im Rathaus eintrifft, poltert die gesamte NSDAP-Fraktion in sein Dienstzimmer und konfrontiert ihn mit dem Beschluss. Dem überrumpelten Manne bleibt nichts anderes übrig, als zu erklären, er werde seine Beurlaubung beantragen. Als kommissarischer Oberbürgermeister und Chef der Polizei fungierte nun Hauptmann Scheller. Nach diesem ersten Streich setzt die Fraktion einen Ausschuss ein, der die angebliche Korruption in der Stadtverwaltung „seit 1919“ untersuchen soll. Zur Beschaffung von Belastungsmaterial entbindet Scheller „alle Beamten und Angestellten von ihrer Schweigepflicht“. Wer wollte, konnte jetzt auf Kosten des politischen oder persönlichen Gegners Karriere machen. Sechs Beamte werden sofort in „Schutzhaft“ genommen, zwölf weitere beurlaubt und eine Reihe „marxistischer“ Arbeiter und Angestellter entlassen. Die Männer werden festgenommen und – eskortiert von SA und Polizei – durch die Bäckerstraße zum Gefängnis am Münsterwall geführt, ein Akt besonderer Brutalität. Unter den Festgenommenen war Stadtbauobersekretär Walter Scheumann. Er schreibt 1955  in seinem Antrag auf Wiedergutmachung:

„Nachdem das Nazikommando glaubte, genügend politische Gegner … im Rathaus zusammengetrieben zu haben, wurden wir Verhafteten […] gezwungen, einzeln durch das Hauptportal zu treten. Wir mußten uns in Reihen zu je 4 Mann aufstellen.  Inzwischen johlte, schrie und schimpfte der Mob. Unter dem Geläute sämtlicher Glocken setzte sich dann der traurige Zug angesehener Männer in Marsch, voran ging eine Horde dunkler ‚Ehrenmänner‘ der SA, seitlich rechts und links waren wir von einem starken Aufgebot von Polizisten eskortiert. Man führte uns durch die Straßen der Stadt unter fortwährendem Geläut der Sturmglocken. Die Bürgersteige […] waren überfüllt von unruhigen, schlimmen Elementen, die bis zur Weißglut aufgestachelt waren.[…]. Unter solchen beschämenden Umständen erreichten wir den Gefängnishof. […] Meine Nerven waren am Ende, es ist mir nach dem Erlebten nie mehr gelungen, die alte Spannkraft wieder zu gewinnen.“

Derartiges „Spießroutenlaufen“ veranstaltete die Hamelner NSDAP noch mehrmals. Am 18. Juni trieb sie 22 SPD-Männer – teilweise in Ketten – durch die Straßen. Darunter war Arno Reichard, Redakteur der „Volksstimme“, der den Nationalsozialisten besonders verhasst war. Er musste ein Schild mit der Aufschrift tragen „Auch ich habe von Arbeitergroschen gelebt.“ Später traf es den Bauunternehmer Köberle.

Für die Hamelner NSDAP war es eine riesige Blamage, als der Regierungspräsident in Hannover sich weigerte, Scharnow zu entlassen. Die Regierung hatte ein Interesse an einer funktionierenden Verwaltung und scheute Kosten durch vorzeitige Pensionierungen. Ein Ermittlungsverfahren, in dem die Regierung die Vorwürfe gegen Scharnow (politische Unzuverlässigkeit, persönliche Vorteilsnahme im Amt) prüfte, zog sich länger hin. Erst am 11. Juli 1933 teilte sie Scharnow schließlich mit, dass man von einer Wiedereinsetzung in sein Amt absehen müsse. Um die Entfernung Beamten des mittleren Dienstes zu rechtfertigen, fertigte ließ Scheller Dossiers anfertigen. Die häufigsten Vorwürfe waren „antinationales“ Verhalten, „gehässiges Auftreten“ gegenüber der NSDAP, politische Unzuverlässigkeit, Sympathie für oder gar Mitgliedschaft in der SPD und persönliche Vorteilsnahme. Im Falle des Stadtinspektors Tegtmeyer wurde festgehalten: „Verkehrt heute noch mit Personen des fr. (= früheren) Reichsbanners, der SPD, des Konsums und veranstaltet Trinkgelage.“ Polizeihauptwachtmeister Döring sei gegen Anhänger der „nationalen Bewegung“ besonders „gehässig“ aufgetreten. Die Regierung in Hannover sandte die Dossiers als „äußerst mangelhaft bearbeitet und begründet“ zurück. Oberbürgermeister Scheller schickte sie erneut nach Hannover, teilweise mit der Bemerkung versehen:

„Es genüge, wenn Nationalsozialisten ausgesagt hätten, es handele sich bei den Betreffenden um unzuverlässige Personen, die ausgemerzt werden müssten. Es sei unter ihrer Würde, darüber Beweise beizubringen.“

Für zehn Betroffene musste die Stadt schon am 22. Mai 1933 die Beurlaubung rückgängig machen. Am Ende wurden nachweislich drei Beamte entlassen, die Polizeihauptwachtmeister Döring und Hage sowie der Leiter des Wohlfahrtsamtes Tegtmeyer. Über den Verbleib der Angehörigen des unteren Dienstes fehlen Unterlagen. Beim Versuch, eine konstruktive Lokalpolitik zu machen, scheiterten die Hamelner Nationalsozialisten zunächst kläglich. In der frühen Phase der „Machtergreifung“ drängten sich fanatische Kräfte nach vorn, deren Handeln von einer erschreckenden Brutalität und Rohheit einerseits und einem totalen Dilettantismus in Fragen der Verwaltung andererseits gekennzeichnet war. Oberbürgermeister Scheller blieb nur bis Dezember 1933 im Amt. Die Regierung in Hannover warf ihm mangelnde Sachkenntnis vor. Er bleibe auch „nicht immer bei der Wahrheit“. Mit Oberbürgermeister Detlef Schmidt und Stadtrat Dr. Hans Krüger (seit 1936) schickte die Regierung erfahrene Verwaltungsbeamte nach Hameln, welche die verbrecherische NS-Politik effektiv und bürokratisch korrekt umsetzten.

Bernhard Gelderblom, Jg. 1943, ist Lehrer im Ruhestand und forscht seit 40 Jahren zu Lokal- und Regionalgeschichte (Juden, NS-Zeit mit Zwangsarbeit, Zuchthaus, Reichserntedankfest am Bückeberg) und engagiert sich intensiv in der Erinnerungsarbeit.

Zuerst erschienen in der Schaumburger Zeitung, Jg. 261, Nr. 18 (21. Januar 2023), Nr. 19 (28. Januar 2023) sowie Nr. 20 (4. Februar 2023), jeweils Rubrik Feierabend. Der Nachdruck des redaktionell leicht bearbeiteten Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors, des Verlegers Hans Niemeyer sowie des Verlags der DEWEZET, Hameln.

Bild oben: SA, SS, HJ, Stahlhelm und Polizei marschierten vor dem Hochzeitshaus auf. © Stadtarchiv Hameln