„Russisches Jerusalem“ wurde Berditschew/Berdytschiw genannt, weil Juden lange die Mehrheit der Einwohner stellten. Das 20. Jahrhundert brachte Gewaltexzesse und Vernichtung, zunächst durch Bürgerkrieg und Revolution, dann durch die Deutschen. Die ermordeten hier mehr Menschen als in Babij Jar.
Von Robert Schlickewitz
Deutschland, das sich gern „Land der Dichter und Denker“ nennt, verfügt über eine weit zurückreichende, breitgefächerte Lexikontradition, die geradewegs dazu einlädt, Studien zu spezifischen Themen über einen längeren Zeitraum hinweg vorzunehmen. Referenzmaterial aus deutschsprachigen, jedoch nicht deutschgeprägten (!), Ländern steht ebenfalls zur Verfügung — in Form von Enzyklopädien aus der benachbarten Schweiz, und, in geringerem Maße, aus Österreich.
Die, für sich betrachtet, arg nüchtern wirkenden Lexikoneinträge zum „russischen Jerusalem“ Berditschew/Berdytschiw werden ergänzt durch Auszüge aus drei aktuellen Ukraine-Reiseführern, durch eine eigens zusammengestellte jüdische Stadtgeschichte, ein Verzeichnis prominenter Söhne und Töchter der Stadt sowie ein kommentiertes Literaturverzeichnis. Ein Fazit fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusammen.
Geografie:
Berditschew/Berdytschiw liegt etwa 150 km südwestlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew und ca. auf halber Höhe zwischen Schytomyr/Zhitomyr und Winnyzja/Vinnycja, in der Landschaft Wolhynien, vis-à-vis der Wolhynisch-Podolischen Platte.
Stadtgeschichte:
Die wechselnden Besitzverhältnisse des Stadtterritoriums im Verlaufe der Zeiten geben einen Eindruck von der Unruhe wieder, der die Berditschewer/Berdytschiwer Bevölkerung besonders ab dem 20. Jahrhundert unterworfen war und die ihr eine hohe Anpassungsbereitschaft abverlangte:
1430-1569: Großfürstentum Litauen
1569-1793: Polnisch-Litauische Union
1793-1917: Russisches Zarenreich
1917-1918: Ukrainische Volksrepublik
1918: Ukrainischer Staat
1918-1919: Direktorat Ukraine
1919-1920: Sowjetukraine
1920: Zweite Polnische Republik
1920-1922: Sowjetukraine
1922-1941: Sowjetunion
1941-1944: Deutsches Reich
1944-1991: Sowjetunion
1991-heute: Ukraine
Zu all dem kommen noch verheerende Überfälle und Plünderungen mit hohen Verlustzahlen hinzu, die B./B. im 15. Jahrhundert durch Tataren und im 17. Jahrhundert durch Kosaken unter Bogdan Chmelnizkij erlebte.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts zählte die Stadtbevölkerung knapp 5000 Bürger, die zumeist in Holzhäusern lebten. Noch 1846 wies B./B. lediglich 69 Gebäude in Ziegelbauweise auf. Als der prominente französische Schriftsteller Honoré de Balzac die Stadt wenige Jahre später aufsuchte, hielt er fest, dass sich Berditschew/Berdytschiw ohne Berücksichtigung irgendwelcher städteplanerischer Aspekte entwickelt haben müsse und, dass zahlreiche Häuser ausgesprochen schief stünden.
Die wirtschaftliche Blüte B.s/B.s begann im 18. Jahrhundert, nachdem die Magnatenfamilie Radziwiłł den Stadtbewohnern gestattet hatte, bis zu zehn Messen pro Jahr abzuhalten. Der Boom hielt so lange an, wie das Bankwesen ebenfalls in der Stadt untergebracht war. Strukturveränderungen und eine darauf reagierende Politik veranlassten, diese Banken nach 1850 in die Hafenstadt Odessa zu verlegen.
Juden, die seit Ende des 16. Jahrhunderts in Berditschew/Berdytschiw lebten, stellten bereits 1789 drei Viertel der Bürger. Sie handelten mit Spirituosen, vermieteten Wohnraum, arbeiteten als Händler oder Handwerker, standen in Büro- bzw. Kanzleidiensten, oder sie waren ohne Beschäftigung.
Einigen Juden hatte die Familie Radziwiłł gewisse Privilegien eingeräumt, die es ihnen ermöglichten in bestimmten Erwerbszweigen Monopole zu schaffen. Dies betraf z.B. den Handel mit Textilien.
Noch vor Einsetzen der angedeuteten wirtschaftlichen Flaute entstanden in B./B. einige höchst erfolgreich operierende jüdische Handelsgesellschaften, die zum Teil auch international tätig waren.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Stadt Zentrum der Chassiden, nachdem sich dort einige besonders angesehene Lehrer und Rabbiner angesiedelt hatten, darunter Lieber der Große, Joseph der Harif und Tzadik Levi Yitzhak von Berditschew.
Eine derartige Konzentration intellektuell-religiösen Geistes an einem Ort führte dazu, dass B./B. zum Hintergrund von berühmten Streitgesprächen zwischen führenden Persönlichkeiten unterschiedlicher Richtungen, zum Beispiel zwischen Chassiden und Mitnagdim, wurde. Auch spielte Berditschew/Berdytschiw ab dem ersten Drittel des 19. Jh. eine wichtige Rolle in der jüdischen Aufklärung.
1847 lebten 23 160 Juden in der Stadt und 1861 bereits 46 683. Durch diesen Zuwachs wurde B./B. zu der Stadt mit dem höchsten, oder zweithöchsten, Anteil Juden in einer ukrainischen/russischen Stadt. Hier sind sich die unterschiedlichen Quellen nicht einig, bzw. nicht klar in ihrer Aussage.
Die Mai-Gesetze des Jahres 1882 sowie andere Maßnahmen der russischen Regierung führten zu einem Bevölkerungsrückgang. 1897 waren von den 53 728 Bürgern noch 41 617 (≈ 80 %) jüdisch.
Im Gegensatz zu den sie umgebenden Slawen (Polen, Ukrainern, Russen etc.), Rumänen und Deutschen wiesen die Juden der Stadt einen besonders hohen Anteil an des Lesens und Schreibens Kundigen auf. Die Alphabetisierungsrate bei den jüdischen Männern betrug 58% und bei ihren Frauen 32%.
Um 1900 zählte man in Berditschew/Berdytschiw gegen 80 Synagogen bzw. Toraschulen. Zudem erfreute sich die Stadt regionenübergreifend hoher Beliebtheit wegen ihrer besonders talentierten und gut ausgebildeten Kantoren.
Bis zum Ersten Weltkrieg hielten sich Geburtenzuwachs und Verluste durch Ab- und Auswanderung in etwa die Waage.
Der fähige Berditschewer Bürgermeister David Petrovsky vermochte lange Zeit über durch geschicktes Verhandeln besonders gewalttätige Pogrome von der Stadt fernzuhalten und damit Leben zu retten, denn nicht erst ab 1905 war die allgemeine Stimmung im Zarenreich mit der eines Pulverfasses in der Nähe einer entzündeten Lunte vergleichbar.
Für die Juden brachte die sich ab Anfang der 1920er allmählich etablierende Sowjetmacht anfangs tatsächlich gewisse Erleichterungen mit sich, etwa in Form einer offiziellen Anerkennung des Jiddischen als zugelassene Verkehrssprache und ab 1924 sogar als Gerichtssprache. Jedoch begannen die Sowjetbehörden im Zuge ihrer religionsfeindlichen Politik in der zweiten Hälfte der 1930er sämtliche Synagogen, jüdische Schulen und Kultureinrichtungen zu schließen.
1926 betrug der Anteil der Juden an der Stadtbevölkerung 55,6 %.
Die deutsche Besetzung Berditschews/Berdytschiws begann am 7. Juli 1941 und sollte bis zum 5. Januar 1944 dauern.
Noch im Juli 1941 bezog auch eine SS-Einheit in der Stadt Stellung. Ihre Aufgabe bestand, wie in anderen osteuropäischen Städten unter deutscher Besatzung, in der Vernichtung der örtlichen Juden. Der erste Schritt hierzu bestand in der Schaffung eines ausreichend großen Ghettos in einem der Stadtteile.
Deutsche brauchten für ihre Mordaktionen gewöhnlich einen scheinbar plausiblen Vorwand. In B./B. war der rasch gefunden. Irgendwer habe aufrührerische Flugblätter und Pamphlete verteilt, hieß es, und da die Täter nicht hatten ergriffen werden können, sollten die Juden büßen. Deutsche erschossen kurzerhand 1303 Juden im Alter von 12 Jahren aufwärts, darunter 875 weibliche. Und so ging es weiter, bis alle Ghettoinsassen getötet waren. Bereits am 5. Oktober 1941 konnte das Areal mangels Belegung geschlossen werden.
Augenzeugen berichteten später, dass den Deutschen, SS und Polizeibataillonen, ukrainische Hilfspolizisten geholfen hatten, auch etwa beim Erschießen von flüchtenden Juden. Die Gruben, in denen die Juden verscharrt wurden, mussten sowjetische Kriegsgefangene ausheben; auch sie wurden nach Beendigung der Aktion hingerichtet.
Frühe Schätzungen gingen von 20 – 30 Tausend jüdischen Opfern der Deutschen in Berditschew/Berdytschiw aus. Im Jahre 1973 erschien ein Bericht in ukrainischer Sprache, der bis heute für authentisch gehalten wird; er gibt die Zahl der gewaltsam Getöteten mit 38 536 an.
Der in B./B. geborene sowjetische Schriftsteller Wassilij Grossman, dessen Mutter zu den in der Stadt Ermordeten gehört hatte, beschrieb gemeinsam mit seinem Kollegen Ilya Ehrenburg die Ereignisse in „Das schwarze Buch der sowjetischen Juden“ („Чёрная Книга“/“Dos shvartse bukh“/“The complete Black Book of Russian Jewry“). Das Werk durfte aber in der Sowjetunion nicht erscheinen. Heute befindet sich sein Originalmanuskript im Yad-Vashem-Archiv in Jerusalem. Grossman griff das Thema 1959 in veränderter Form erneut in „Жизнь и судьба“ („Leben und Schicksal“) auf, konnte den Roman aber erst 1980 veröffentlichen.
Der Anteil der Juden an der Bevölkerung von Berditschew/Berdytschiw konnte bis 1972, hauptsächlich durch Zuzug, wieder einen Anteil von ca. 20 % erreichen, fiel aber 2001 auf rund 1 % zurück und es erscheint gegenwärtig unwahrscheinlich, dass er sich je erholen wird.
Prominente Berditschewer/Berdytschiwer:
Israel Back (Israel Drucker; 1797-1874), Verleger und einer der Pioniere des Buchdrucks in Palästina.
Stempenyu (Iosif Druker; 1822-1879), Klezmer-Violinvirtuose.
Pedotser (A. M. Cholodenko; 1828-1902), Klezmer-Violinvirtuose.
Ignaz von Ephrussi (1829-1899), griechisch-jüdischer Bankier und Kunstsammler.
Jehoschua Mordechai Lifschitz (1829-1878), Lexikograph („Vater der jiddischen Lexikographie“) und Theoretiker der jiddischen Bewegung der Haskala-Epoche.
Abraham Goldfaden (1840-1908), der „Vater“ des modernen jüdischen Theaters.
Abraham Alter Fiszzon (Abraham Fischson; um 1845-1922), Schauspieler, Theaterleiter in Russland und Polen.
Osip Michailowitsch Lerner (Yosef Yehuda Lerner; 1847-1907), jüdischer Intellektueller, Autor und Kritiker, der gegen Lebensende konvertierte und ein antijüdisches Buch verfasste.
Israel Grodner (um 1848-1887), Pionier der jiddischen Theaterkunst.
Joseph Conrad (1857-1924), polnisch-britischer (nichtjüdischer) Schriftsteller.
Boris Sidis (1867-1923), ukrainisch-US-amerikanischer Psychologe, Mediziner, Psychiater, Philosoph.
Lipa Feingold (1878-1945), amerikanischer Liedertextdichter, Pianist und Komponist.
Noah Pryłucki (Noah Prilutski; 1882-1941), jiddischer Philologe, Jurist, polnischer Politiker.
Der Nister (Pinchus Kahanowitsch; 1884-1950), jiddischer Autor, Philosoph, Kritiker, Übersetzer.
David Petrovsky (1886-1937), legendärer Berditschewer/Berdytschiwer Bürgermeister, Vorstand und Mitglied mehrerer jüdischer Verbände, später sowjetischer Bildungspolitiker; fiel gemeinsam mit seiner Frau den stalinistischen „Säuberungen“ zum Opfer.
Wolodymyr Finkelstein (1896-1937), ukrainischer/sowjetischer Elektrochemiker, wurde ebenfalls im Verlaufe der „Säuberungen“ erschossen.
Jakow Abramowitsch Kornfeld (1896-1962), sowjetischer Architekt und Hochschullehrer.
Regina Horowitz (1899/1900-1984), ukrainisch-russische Pianistin und Hochschullehrerin.
Raquel Lieberman (1900-1935), Prostituierte, die bei der Zerschlagung eines mafiösen Zuhälterkonsortiums in Argentinien eine wesentliche Rolle spielte und dadurch zum Mythos wurde.
Vladimir Horowitz (1903-1989), Pianist und Komponist; sein Geburtsort gilt als umstritten, entweder B./B. oder Kiew.
Wassili Grossman (1905-1964), sowjetrussischer Schriftsteller und Journalist.
Felix Lembersky (1913-1970), Maler, Künstler, Bühnenbildner, Pädagoge.
Wladimir Sak (W. Zak; 1913-1994), ukrainischer Schachspieler, Trainer der sowjetischen Schachschule.
John Demjanjuk (1920-2012), US-amerikanischer Staatsbürger ukrainischer Abstammung, der als ehemaliger Gehilfe der deutschen Vollstrecker des Zweiten Weltkriegs mehrfach wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht stand. Demjanjuk war nach jahrzehntelangem, hochnotpeinlichem, internationalen Geplänkel, wer denn nun für seine Verurteilung zuständig sei, schließlich zu lebenslanger Haft verurteilt worden und in Haft in Bayern verstorben. Sein Geburtsort liegt in der Nähe von B./B.
Im Folgenden wird untersucht, wie allgemeine deutsche Nachschlagewerke über Berditschew/Berdytschiw informierten, vor und nach der Shoah.
Die untersuchten Lexiken:
Deutschschweizer legten bereits im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts Nachschlagewerke auf, während Deutsche und Österreicher paar Jahrzehnte länger brauchten, ehe auch sie ihre ersten Enzyklopädien präsentierten. In Deutschland waren die bedeutendsten Enzyklopädien des 19. und 20. Jahrhunderts die der Häuser Pierer, Brockhaus, Meyer, Herder, sowie VEB Bibliographisches Institut und Bertelsmann. Daneben existierte noch eine Reihe kleinerer Editionen anderer Herausgeber. Den „Brockhaus“, „Meyer“, „Herder“, „Bertelsmann“ und die DDR-Enzyklopädien gab es in großen mehrbändigen Ausgaben und in kleineren, ein- bis vierbändigen, „Volksausgaben“.
Obwohl Berditschew/Berdytschiw eher eine kleinere Stadt war (und geblieben ist), widmeten sich ihr allgemeine deutschsprachige Nachschlagewerke bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts in fortgesetzter Folge.
Berditschew/Berdytschiw im deutschsprachigen Lexikon:
[Die Einträge werden vollständig und in chronologischer Reihenfolge wiedergegeben. Heute unübliche Abkürzungen wurden ausgeschrieben. Hervorhebungen entsprechen den Originalen.]
Berdyczew, Stadt im russ. Gouvernement Volhynien, 18 000 Einwohner, meistens Juden; bedeutender Handel, wöchentliche Messe vom 15. August an.
(Herders Conversations-Lexikon. Erste Auflage. Freiburg im Breisgau 1854.)
Berditschew, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kiew, Eisenbahnstation; 4 Kirchen, 5 Synagogen; Theater, Börse und Kaufhof; Fabriken; Handel mit Leder, Honig und Wachs, Wein, Getreide, Tabak, Rindvieh und Pferden; mehrere große Jahrmärkte jährlich, worunter der Anfangs Juni stattfindende Pferdemarkt bedeutend; 1871: 53 787 Einwohner, meist Juden.
(Pierers Universal-Conversations-Lexikon. Sechste Auflage. Oberhausen und Leipzig 1875.)
Berdyczew (–ditschew), Stadt im russ. Gouvernement Volhynien, 52 800 Einwohner, meistens Juden; bedeutender Handel, wöchentliche Messe vom 15. August an.
(Herders Conversations-Lexikon. Zweite Auflage. Freiburg im Breisgau 1876.)
Berditschew, Stadt im russ. Gouvern. Kiew 77 223 Einwohner, meist Juden.
(Meyers kleines Konversations-Lexikon. Fünfte Auflage. Leipzig und Wien 1892.)
Berditschew, (Stadt) im russ. Gouv. Kiew, am Gnilopiat, 78 287 Einwohner. Eisenbahn. Handel. Messen.
Universal-Konversations-Lexikon. (Hg.) Joseph Kürschner. Berlin, Eisenach, Leipzig o. J. [1894/5?])
Berditschew, Stadt im russ. Gouvernement Kiew, an der Gnilopjat, hat meist hölzerne Häuser, ein großes katholisches Karmeliterkloster mit einer Buchdruckerei, der ältesten des Landes, und (1889) 78 287 Einwohner (zum großen Teil Juden), die rege Industrie und bedeutenden Handel treiben. Die vier jährlich stattfindenden Märkte, auf denen Pferde, Vieh, Manufakturwaren und etwas Getreide verkauft werden, haben nur für die Umgegend Bedeutung. Der Gesamtumsatz des Handels wird auf über 40 Mill. Rubel geschätzt.
(Meyers Konversations-Lexikon. Fünfte Auflage. Leipzig und Wien 1897.)
Berditschew (Berdyczew). 1) Kreis im Westen des russischen Gouvernements Kiew, hat 3411,1 qkm mit 280 302 Einwohnern. – 2) Kreisstadt im Kreis B., am Gnilopjat und an den Eisenbahnen Kasatin-Berditschew-Brest und Schitomir-Berditschew-Kalinowka, hat (1897) 53 728 Einwohner, darunter gegen 40 000 Israeliten, in Garnison die 5. Feldartilleriebrigade und das 4. Train-Cadre-Bataillon, 3 russische, 2 katholische, 1 evangelische Kirche, 5 Synagogen, 62 jüd. Bethäuser, 1 christl. und 1 jüd. Krankenhaus, 6 Schulen; Färbereien, Konfekt-, Band-, Tabakfabriken, Eisengießerei, Jahrmärkte. Die Hauptgegenstände des Handels sind Getreide, Vieh, Pferde. Im ehemaligen Karmeliterkloster (1627-1864) sind die Gerichte untergebracht. – B. wurde 1320 von Gedymin dem litauischen Fürsten Tyszkiewicz geschenkt. 1647 wurde das Kloster von Chmelnizkij geplündert; 1768 mußten sich hier die Konföderierten von Bar nach 25tägiger Belagerung ergeben. 1793 kam B. zu Rußland und ist seit 1845 Kreisstadt. Die Stadt war seit Anfang des 18. Jahrh. im Besitz der Familie Sawischa, kam dann an die Fürsten Radziwill und gehört jetzt den Grafen Tyszkiewicz. B. ist gegenwärtig der Mittelpunkt der jüd. Sekte der Chasidim (s. d.).
(Brockhaus Konversations-Lexikon, 14. Auflage. Leipzig, Berlin und Wien 1901.)
Berditschew, westruss. Kreisstadt, Gouvernement Kijew, am Gnilopjat (mit dem Teterew zum Dnjepr), einschließlich Garnison 53 728 Einwohner (3/4 Juden, besonders von der Sekte der Chasidim); in der Stadt Straßenbahn; Kommandantur der 5. Artillerie Brigade; Mittelpunkt des wolhynischen Handels (besonders Getreide und Vieh).
(Herders Konversations-Lexikon. Dritte Auflage. Freiburg im Breisgau 1902.)
Berditschew (…), Kreisstadt im russ. Gouv. Kiew, mit (1897) 53 728 Einw., meist Juden, wichtige Station der Südwestbahnen, hat bedeutenden Handel mit Getreide, Vieh, Gold- und Silberwaren etc.
(Meyers Kleines Konversations-Lexikon. Siebte Auflage. Leipzig und Wien 1910.)
Berdyczew, russ. Stadt, s. Berditschew.
Berditschew (Berdyczew), Handelsstadt in der Ukraine (Gouv. Kiew), (1910) 74 500 Einwohner (über 80 % Juden).
(Brockhaus Handbuch des Wissens in vier Bänden. Sechste Auflage. Leipzig 1922.)
Berditschew (ukrain. Berdytschiw), Kreishauptstadt im ukrain. Gouv. Kiew, (1920) 72 830 Einwohner (über 80 von Hundert Juden), an der Bahn Kasatin–Brest-Litowsk, nächst Kiew wichtigster Handelsplatz für Getreide und Vieh, hat Tabakindustrie.
(Meyers Lexikon. Siebte Auflage. Leipzig 1925.)
Berditschew, Hauptstadt des ukrain. Okrug Berditschew (8300 qkm, 725 500 Einwohner, 12 Rayons) der Sowjetunion, Bahnknoten westlich Kiew (…), 249 m über Meer, hat (1926) 51 440 Einwohner, besonders Juden, Lehrerbildungsanstalt, Gewerbeschule, lebhaften Getreide- und Viehhandel, Färbereien, Konfekt-, Band- und Tabakfabriken. B. spielte im Bürgerkrieg der Barer Konföderation eine Rolle (1768) und ist der Mittelpunkt der jüd. Sekte der Chasidim.
(Der Große Brockhaus. 15. Auflage. Leipzig 1929.)
Berditschew, ukrainische Stadt mit 51 000, überwiegend jüd. Einwohnern, Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks mit 8300 qkm und 726 000 Einwohnern.
(Jedermann Lexikon. Berlin-Grunewald 1929.)
Berditschew (…), Stadt im NW der Ukraine, (1931) 55 600 Einwohner; wichtig als Bahnknoten; starker Getreide-, Viehhandel.
(Meyers Kleines Lexikon. Neunte Auflage. Leipzig 1933.)
Berdi’tschew, Stadt in der West-Ukraine, 56 000 Einwohner (72 % Juden); landw. Maschinen, Getreide, Vieh, Zuckerrüben.
(Das Kluge Alphabet. Konversationslexikon in zehn Bänden. Berlin 1934.)
Berditschew, Hauptstadt des ukrain. Okrug (Bezirk) B., im Waldsteppengebiet südwestlich von Kijew, Bahnknoten; 55 600 Einwohner, davon 65 % Juden, 15 % Ukrainer; Leder-, Zucker- u. Textilindustrie, wichtiger Getreide- und Viehmarkt.
(Der Grosse Herder. Vierte Auflage. Freiburg im Breisgau 1935.)
Berditschew (…), sowjetruss. Stadt der Ukraine (…), (1933) 53 100 Einwohner; Getreide- und Viehhandel.
(Meyers Lexikon. Achte Auflage. Leipzig 1936.)
Berditschew, Stadt in der Ukraine, mit 53 000 Einwohnern, bes. Juden, westlich von Kiew; Getreide- und Viehhandel.
(Der Neue Brockhaus. Erste Auflage. Leipzig 1936)
Berditschew, Stadt in der Ukraine, Sowjetunion, mit 66 300 Einwohnern, bes. Juden, westlich von Kiew; Getreide- und Viehhandel.
(Der Neue Brockhaus. Zweite Auflage. Leipzig 1941.)
Berditschew, Hauptstadt des gleichnamigen ukrain. Okrug (Bezirks; 8300 qkm, 730 000 Einwohner) (28, 5° EL/50° NB), 66 000 Einwohner (1939). Getreide- und Viehhandel; Leder-, Zucker- und Textilindustrie.
(Schweizer Lexikon. Zürich 1945)
Berditschew, ukrain. Stadt (Gebiet Schitomir); Lederindustrie, Maschinenbau; 66 000 Einwohner (1939; bis 1941 2/3 Juden).
(Der Grosse Herder. Fünfte Auflage. Freiburg im Breisgau 1952)
Berditschew, ukrain. Stadt, >> Ossipewsk.
Ossipewsk, füher Berditschew, Stadt in der ukrain. Sowjetrepublik, westl. Kiew, mit (1950) etwa 72 000 Einw.; Eisenbahn- und Straßenknoten. O. hat Maschinenbau, Rohleder- und Pelzindustrie; in der Nähe bedeutender Torfabbau.
(Der Grosse Brockhaus. 16. Auflage. Wiesbaden 1955.)
Berditschew (…), alter Name der russ. Stadt >> Ossipewsk.
Ossipewsk, (…; früher Berditschew), ukrain. Stadt (Gebiet Schitomir), 66 000 Ew. (1939; bis 1941 ca. 70 % Juden). Maschinenbau, Leder-, Textil-, Zuckerindustrie.
(Quelle-Lexikon. Lizenzausgabe der SÜD-WEST Verlags- und Vertriebs-GmbH, München für den Kreis der Quelle-Bücherfreunde. Zürich 1959.)
Berditschew […]: Stadt im S der Oblast Shitomir (Ukrainische SSR); (1959) 53 000 Einwohner; Bahnknotenpunkt; Maschinenbau, Zentrum der Zuckerindustrie (Zuckerrübenanbaugebiet), Leder- und Schuhindustrie.
(Meyers Neues Lexikon. Leipzig/DDR 1961)
Berd’itschew, zeitweise Ossipewsk, Stadt in der Ukrain. SSR, mit (1959) 53 000 Ew.; Maschinenbau, Leder- und Holzindustrie.
(Der Neue Brockhaus. Dritte Auflage. Wiesbaden 1962.)
Berditschew, 1939-1958 Ossipewsk, Stadt im Gebiet Schitomir der Ukrain. SSR, mit (1965) 59 000 Einwohnern. B. hat bedeutende Nahrungsmittelindustrie (Zucker, Getränke, Mehl, Fleisch), Maschinenbau, Leder- und Schuhfabriken; in der Nähe wird bedeutender Torfabbau betrieben. – B. ist 1320 erstmals erwähnt, als es an Litauen kam. Das Schloß (16. Jahrh.) wurde 1627 Karmeliterkloster. In der Zeit der ukrainischen Aufstände hatte B. viel zu leiden; 1647 wurde es von Chmelnizkij eingenommen. Durch die zweite Teilung Polens kam B. 1793 zu Rußland.
(Brockhaus Enzyklopädie. 17. Aufl. Wiesbaden 1967.)
Berditschew, transliteriert: Berdičev […], sowjet. Stadt im Bereich der nördl. Dnjeprplatte, 45 km südl. von Schitomir, Gebiet Schitomir, Ukrain. SSR, 60 000 Einwohner (1968; 1939: 62 000, 1959: 53 000); pädagog. Hochschule, Maschinenbautechnikum, pädagog. und medizin. Fachschule; Chemie- und Werkzeugmaschinenbau, Leder-, Schuh-, Textil-, Möbel- und Nahrungsmittelindustrie (u. a. Zucker-, Malzfabrik, Brauerei); Bahnknotenpunkt. – Im 14. Jahrhundert gegründet.
(Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Neunte Auflage. Mannheim/Wien/Zürich 1971.)
Berditschew: Stadt im S der Oblast Shitomir (Ukrainische SSR); (1969) 61 000 Ew.; Maschinenbau, Leder- und Schuhindustrie; Zentrum der Zuckerindustrie.
(Meyers Neues Lexikon. Zweite Auflage. Leipzig/DDR 1972.)
Berditschew, Stadt in der Ukrain. SSR, südl. von Schitomir, 80 000 Ew.; Technikum; Nahrungsmittelindustrie, Zuckerraffinerie, Gerbereien, Pelzverarbeitung, Maschinenbau; Torfabbau; Bahnknotenpunkt.
(Grosses Modernes Lexikon. Bertelsmann – Gütersloh 1983)
Berditschew, Stadt im Gebiet Schitomir der Ukrain. SSR, (1980) 81 000 Ew.; Chemieanlagen- und Werkzeugmaschinenbau, Nahrungsmittelindustrie. – B. kam 1320 zu Litauen, wurde 1647 von B. Chmelnizkij eingenommen und ist seit der Zweiten Polnischen Teilung 1793 russisch.
(Brockhaus Enzyklopädie. 19. Aufl. Mannheim 1987)
In mehreren neueren Enzyklopädien wurde auf ein Stichwort Berditschew/Berdytschiw verzichtet:
— BI Universal-Lexikon (in fünf Bänden). 1. Aufl. VEB Bibliographisches Institut Leipzig/DDR 1988.
— Familienlexikon (in fünf Bänden). Isis Verlag AG Chur/Schweiz 1991.
— Brockhaus Universal Lexikon von A – Z in 26 Bänden. Sonderausgabe für die Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg. Leipzig und Mannheim 2003.
— ORF Das Lexikon für Österreich in 20 Bänden mit ausgewählten Beiträgen aus den ORF-Redaktionen. Dudenverlag Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich. Copyright Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim 2008.
Berditschew in modernen Reiseführern:
[Wiedergegeben werden lediglich einleitende, und solche Passagen, die sich auf das jüdische Berditschew beziehen]
Berdychiv (БЕРДИЧІВ)
This quaint country town marks the border between the leafy forests of Polissya and the vast fields of Podillya. The story of Berdychiv is the same sad story told by hundreds of similar western Ukrainian towns and villages – a town that was born from various religions and cultures, thrived under free enterprise, became a centre of wealth, culture, art and philosophy, and was systematically destroyed in the mayhem of the revolution, civil war, Stalinist repressions and then World War II.
Berdychiv officially appeared on the map in the 16th century while this part of Ukraine was under Lithuanian and Polish rule. With the influx of the Poles came Catholicism, and in 1627, a group of barefoot Carmelites completed a monastery that looks more like a castle – a factor that has helped it remain intact throughout Berdychiv’s turbulent history. The common symbiosis of Polish landowners with Jewish trading and banking was a recipe for success and, by 1861, Berdychiv boasted the second-largest Jewish population in the entire Russian Empire (Berdychiv was also the first city in Ukraine to conduct its city court proceedings in Yiddish)…
Berdychiv remained a prominent and influential town until the 20th century: business prospered and a liberal brand of Hasidism flourished among the religious community. Then the political upheaval of Russia saw numerous backlashes inflicted upon this and similar Jewish towns. Pre-revolution pogroms were followed by White Army massacres in the civil war – all focused on Berdychiv, a very Jewish target within easy reach of Kiev. Stalin continued his legacy of oppression, outlawing Yiddish and Jewish and arresting and executing Jewish intellectuals. The Nazis arrived in June 1941. Because of its majority Jewish population, the whole town of Berdychiv was fenced into a ghetto with its own extermination unit. Within three month, the Nazis had killed all of Berdychiv’s Jews and closed the camp. It is estimated that close to 39,000 people were shot.
If the tale of Berdychiv was somehow unique, there would probably be more visitors today. Recent years have seen an influx of Hasidic tourists, as well as some nostalgic Poles, but very few organized tours (except those with an expressly Jewish theme) take in Berdychiv.
Still, the town is close enough to Kiev for an easy visit, and while it is melancholic, it is completely different from anything you will experience in the bigger cities. For more information about the town, its history and Jewish heritage, see www.berdichev.org.
… What to see and do …
To get in touch with the small but resilient Jewish community, contact synagogue Shabad Lubavitch (Yanova 9; Tel. 0414 320 235) or the other synagogue (Soborna 9; Tel. 0414 322 062). To visit the very sombre site of the Berdychiv massacre and the mass grave, take a taxi or marshrutka No 104 out to the village of Ivanivka. Follow the dirt road into the forest about 300m, and the graves can be seen on the left, marked by a black obelisk. The atmospheric Jewish cemetery and Mausoleum of Levi Yitzhak is around 5km out of the town on the Zhytomyr road (vul Lenina); the only way to reach it is by taxi, and the entrance is near a petrol station…
(Andrew Evans. Bradt Travel Guide Ukraine. Vierte Auflage. Chesham, Bucks/UK 2013. S.166f)
Berdychiv.
Population 76 700
You’d never guess today that this sleepy town on the southern edge of Polissya was once an important intellectual centre and hotbed of Jewish culture. At the turn of the 19th century, Berdychiv’s population was more than 80% Jewish. The Nazis took care of that, murdering just about every one of the city’s 39 000 Jews and burying them in mass graves on the town’s outskirts.
These days Berdychiv’s Jewish community numbers only several hundred, but the city remains an important pilgrimage site for followers of revered Hasidic master Levi Yitzhak (1740-1810), who is buried in the town’s remarkable Jewish cemetery. Berdychiv also has links to two great 19th-century literary figures: Joseph Conrad was born in Berdychiv (1857), and Honoré de Balzac (of all people) was married to Polish noblewoman Ewelina Hańska (1850) in the rosetinted, neoclassical St Barbara Church (…), which bears a brass plaque celebrating the event.
Sights
Jewish cemetery (…) Levi Yitzhak’s mausoleum is in Berdychiv’s huge Jewish Cemetery, with the exception of Yitzhak’s mausoleum, the cemetery was overgrown and neglected, but these days it’s well tended to by a Stakhanovite team of weed-whacker-wielding caretakers. What will strike you is the odd, boot-like shape of the tombstones, most of which bear barely legible Hebrew inscriptions and lie hideously askew or flat on the ground – evoking images, all too common in this region – of humans toppled en masse by Nazi bullets.
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Berdychiv’s Killing Fields
Those who are interested can try to hunt down some mass burial sites that lie outside the town. At such sites the Nazis typically shot their victims in the back of the head and let their slumped bodies fall into pre-dug pits.
The easiest to find is about 3km west of the Berdychiv Fortress on the highway to Khmilnyk. A memorial on the right side of the highway commemorates the 18,640 ‚Soviet citizens‘ killed here in September 1941 – like all Soviet Holocaust monuments, it makes no mention of Jews. The memorial is just past a crosswalk and just before the sign indicating that you are leaving Berdychiv.
The actual burial site, marked by a plaque with Hebrew writing, is hidden under a clump of low-lying trees about 250m into the cow pasture behind the Soviet plaque…
(Marc DI Duca, Greg Bloom, Leonid Ragozin. Lonely Planet – Ukraine. 5. Auflage. O.O. 2018. S. 93)
Berdychiv. [Beachte, englische Schreibweise!]
45 km südlich von Zhytomyr, die wohl wichtigste Stadt des Ostjudentums.
Einwohner: 78 000.
Berdychiv wurde einst als „wolhynisches Jerusalem“ bezeichnet – 90 % der Bevölkerung waren im 19. Jh. jüdischen Glaubens. Damals standen den jeweils vier orthodoxen und katholischen Kirchen 74 jüdische Gebetshäuser gegenüber… Trotz zahlreicher Neubauten hat die Stadt ein gewisses Flair bewahrt…
Geschichte
Im 18. Jh. wurde die verkehrsgünstig gelegene Stadt zu einem bedeutenden Handelszentrum. Bis zu zehn Mal pro Jahr fanden hier wichtige Messen und Märkte statt, die bis zu sechs Wochen dauerten und in einem Atemzug mit der Leipziger Messe genannt wurden. Die jüdische Bevölkerung, die einen Großteil der Kaufleute stellte, hatte an diesem Handel regen Anteil. Als Wirkungsstätte des Rabbi Levi Yitzak Ben Meir war die Stadt auch für den Chassidismus von Bedeutung. Im Zuge des Eisenbahnbaus gegen Ende des 19. Jh. wurde Berdychiv zu einem Industriezentrum ausgebaut. Große architektonische Verluste brachte die Stalinzeit: Anfang der 1930er Jahre wurde die mächtige Uspenskyi-Kathedrale aus dem Jahr 1837 abgerissen. 1941 richteten die Nazibesatzer in der Altstadt von Berdychiv, nahe dem Karmeliterkloster, ein jüdisches Ghetto ein. 38 000 Menschen wurden binnen weniger Wochen erschossen. Nach einigen Kriegszerstörungen, vor allem rund um das Karmeliterkloster, wurde die Stadt teils historisch, teils mit vierstöckigen Chruschovkas wieder aufgebaut.
Sehenswertes …
Das Historische Museum im Innenhof des Klosters ist täglich geöffnet. Aufgrund zahlreicher historischer Exponate – auch über das jüdische Berdychiv – lohnt ein Besuch…
Das historische Zentrum
… an der Ecke von Vul. Vinnytska und Vul. Shevchenka, steht die alte Choralsynagoge aus dem späten 19. Jh., wie üblich in der Sowjetzeit zweckentfremdet. Die heutige Synagoge liegt wenige Meter entfernt in einem unscheinbaren Gebäude von 1891. Eine neu errichtete Synagoge befindet sich in der Vul. Chornovolia…
Jüdischer Friedhof
Der riesige jüdische Friedhof liegt am Nordrand der Stadt an der Vul. Zhytomyrska und ist von der Innenstadt aus in etwa 30 Minuten zu Fuß erreichbar. Hier befindet sich nicht nur das Grab des Rabbi Levi Yitzak Ben Meir, der Friedhof ist auch einer der interessantesten jüdischen Friedhöfe der Region mit seinen eigentümlich stiefelförmigen chassidischen Grabmälern. Der Friedhof ist offen zugänglich. Sein Zustand ist leider, gelinde gesagt, völlig verwahrlost – viele Grabsteine sind überwachsen oder umgestürzt. Er liegt in einer unwirtlichen Gegend aus Industrieanlagen und Plattenbauten…
(Peter Koller. Ukraine. Handbuch für individuelles Entdecken. Bielefeld 2019. S.416-420)
Fazit:
Ab dem ersten hier wiedergegebenen Lexikoneintrag aus dem Herder des Jahres 1854 wird in nahezu sämtlichen deutschen Enzyklopädien lange Zeit über auf die jüdische Mehrheit an der Stadtbevölkerung Berditschews/Berdytschiws hingewiesen. Ganz offensichtlich wurde diese Information von den Redaktionen als unbedingt mitteilenswert eingestuft.
Ebenfalls von hoher Wichtigkeit erschien den Nachschlagewerksredakteuren die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt. Erwähnung finden immer wieder die Messen, der Handel, das produzierende Gewerbe, die Landwirtschaft sowie die Funktion der Stadt als bedeutender Bahn- und Straßen-Verkehrsknoten.
Seltener werden jüdische religiöse oder kulturelle Einrichtungen genannt, wie dies im Pierer von 1875 oder im Brockhaus von 1901 geschieht.
Letzteres Nachschlagewerk bringt die detailliertesten Angaben zum jüdischen Berditschew. Es hält die Anzahl der jüdischen Bewohner, auch im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl, fest, es unterscheidet zwischen Synagogen und jüdischen Bethäusern und lässt auch das jüdische Krankenhaus nicht außen vor. Im Überblick zur Stadtgeschichte hingegen spielen Juden keine Rolle mehr, wenn man vom isolierten Hinweis auf die „Sekte der Chasidim“ absieht.
Was die Dynamik der Entwicklung der (Gesamt-)Einwohneranzahl Berditschews/Berdytschiws angeht, so hält sich die, gemäß den Angaben der deutschen Nachschlagewerke, auf bemerkenswert konstantem Niveau.
Erst dem Grossen Herder von 1935 ist zu entnehmen, dass der Anteil der Juden an der Stadtbevölkerung rückläufig ist.
Mit dem Neuen Brockhaus aus dem Vernichtungsjahr 1941 enden schlagartig jedwede Informationen zu den Berditschewer Juden in deutschen Nachschlagewerken, mit zwei Ausnahmen: Der Grosse Herder von 1952 und das Quelle-Lexikon von 1959 erwähnen, dass bis 1941 zwei Drittel der Einwohner Berditschews Juden gewesen waren. Alle weiteren Editionen verzichten, wohl aufgrund allergrößter Unpopularität des Themas Judenverfolgung durch Deutsche, auf ähnlich nostalgische Rückblicke. Schließlich bestand ja die Kundschaft, die die Enzyklopädien noch bis weit in die 1980er hinein erwarb, zuvorderst aus Angehörigen der Täter-, Mitmacher- und Mitwissergeneration.
Gewiss setzte irgendwann eine vorsichtige Sensibilisierung gewisser Schichten der deutschen Bevölkerung ein, aber das muss nach dem Erscheinungsjahr des letzten Lexikons, dass das Stichwort Berditschew enthält, in unserem Fall der Brockhaus Enzyklopädie von 1987, gewesen sein. Denn diese (Enzyklopädie) enthält, ebenso wie alle anderen nach der Shoah veröffentlichten (hier aufgelisteten) Lexiken, kein Sterbenswörtchen über das von Deutschen veranlasste große Judensterben in jener kleineren ukrainischen Stadt, die (in Normalzeiten) drei Bummelzugstunden von Kiew entfernt liegt.
Sicherlich standen wirtschaftliche Erwägungen im Vordergrund beim Entschluss zu verschweigen, schließlich möchte man doch ein Produkt (Lexikon) verkaufen, das dessen Benutzer gerne zur Hand nehmen und dessen Neuauflage sie doch hoffentlich auch in ihr künftiges Budget einplanen. — Der stets exorbitante deutsche Nationalstolz ist ein nicht zu unterschätzendes Verkaufs- oder Nichtverkaufsargument.
Die späteren (hier untersuchten) Nachschlagewerke der 1990er und 2000er, die das Stichwort Berditschew/Berdytschiw nicht enthalten, auch die vielbändigen, verzichteten wie die älteren auf ein Zuviel an Aufklärung über deutsche Tabuthemen. Man braucht sich nur beispielsweise die jeweiligen Ukraine-Einträge vornehmen, kein einziger enthält etwa Angaben zur Zahl der von Deutschen 1941-1945 ermordeten Ukrainer.
Wer den Grad deutscher Sensibilisiertheit für die, trotz allem, immer noch nur mangelhaft verarbeitete („bewältigte“) Vergangenheit aufs Jahr genau feststellen möchte, wer wissen möchte, wann welcher Nazi-Skandal war, wann welches epochale Erhellungsbuch erschienen ist, wann welcher aufklärerische Film erstmals gezeigt wurde, wann welche tabubrechende Fernsehsendung lief, sollte zu diesem empfehlenswerten Nachschlagewerk greifen:
Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Torben Fischer und Matthias N. Lorenz (Hg.). Dritte Auflage. Bielefeld 2015.
Kommentiertes Literaturverzeichnis zur Stadt Berditschew/Berdytschiw:
Arthur Green. Defender of the Faithful: The Life and Thought of Rabbi Levi Yitshak of Berdychiv. Brandeis University Press 2022.
Jeffrey Veidlinger. Mitten im zivilisierten Europa. Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust. München 2022. Im Buch findet sich u.a. ein Hinweis zur Rolle der Stadt als Zufluchtsort für die Juden der Nachbarstädte, 1918-1921, sowie ein weiterer Hinweis auf ein Pogrom aus der Revolutionszeit in Berditschew.
Einen guten Gesamtüberblick zum so vielgestaltigen ukrainisch-jüdischen Verhältnis, unter vielfacher Berücksichtigung Berditschews, bietet der reich illustrierte, großformatige Band: Paul Robert Magocsi und Yohanan Petrovsky-Shtern. Jews and Ukrainians. A Millennium of Co-existence. University of Toronto Press. 2. Auflage. Toronto 2018.
Aussagen der Basya Gershtein vor dem Berditschewer Stadtrat zu einem Pogrom durch die Ukrainische Nationale Armee vom Winter 1918/1919 sowie die Benennung einer Tätergruppe und deren Anführers beim Pogrom vom Januar 1919 in der Stadt enthält: Irina Astashkevich. Gendered Violence. Jewish Women in the Pogroms. Academic Studies Press/Boston 2018. S. 13, 58, 92f. (Reihe: Jews of Russia & Eastern Europe and Their Legacy).
Einen Fall von ganz offensichtlicher Schuld und erlassener Sühne mit Tatort Berditschew schneidet der Journalist und Schriftsteller Jens Mühling in „Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine.“ (Reinbek bei Hamburg 2018/2022) an. Er widmet sich u.a. dem ukrainedeutschen Geographen und Rassekundler Dr. Karl Stumpp, dem Leiter des achtzigköpfigen „Sonderkommandos Stumpp“, der mit wissenschaftlicher Akribie die durch die Erschießungen stetig schrumpfende Anzahl der Juden Berditschews von Ende 1941 bis Anfang 1943 dokumentierte. Eigentlich bestand seine Aufgabe darin, die hier seit Katharina der Großens Zeiten lebenden Volksdeutschen auf ihre noch vorhandene „Deutschheit“ hin zu untersuchen, aber seine Aufzeichnungen hielten alles fest. Ganz nach Wissenschaftlerart kommentierte er seine Akten nicht, sondern dokumentiert lediglich den Genozid in der Stadt und in den Dörfern ringsum, ohne Emotion, ohne menschliche Regung, ohne Gewissen. Zu Recht fragt sich Mühling, ob Stumpp nur dokumentierte, oder auch zuschaute, oder vielleicht sogar assistierte, wie so viele seiner, wenn es „nur“ um Judenleben ging, so hart gesottenen Landsleute. Hart gesotten ist hier mit Sicherheit der passende Ausdruck, denn jedes vierte jüdische Opfer war ein Kind! Der Rasseforscher sollte übrigens nicht nur als angesehener Ehrenmann, der nie behelligt worden war, ein hohes Alter erreichen, sondern auch noch das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und weitere hohe Auszeichnungen erhalten.
Boris Zabarko. „Nur wir haben überlebt“. Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse und Dokumente. Weilerswist-Metternich 2016. Enthält u.a. Erlebnisberichte und Aufzeichnungen von Berditschewer Überlebenden der deutschen Massaker von ab 1941.
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. Bd. 8. Sowjetunion mit annektierten Gebieten. Teilband II. (Hg.) Susanne Heim u.a. Walter de Gruyter GmbH/Berlin und Boston 2016. Enthält u.a. ein Protokoll der Aussagen des Sattlers Chaim B. Satanovskij, der nach seiner Flucht aus Berditschew denunziert wurde und bis zur Befreiung der Stadt durch die Rote Armee gezwungen war, als Handwerker für den SD zu arbeiten (S. 668-672).
Michaela Christ. Die Dynamik des Tötens: Die Ermordung der Juden von Berditschew. Ukraine 1941-1944. Fischer Taschenbuch 2011. S. 14: „Der Massenmord an den Juden in der Ukraine wie in den anderen von den Deutschen besetzten Sowjetrepubliken unterscheidet sich wesentlich von der Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Westeuropa, im ehemaligen Generalgouvernement oder etwa in Ungarn. Die Mehrzahl der ukrainischen Juden wurde nicht über einen längeren Zeitraum in Ghettos gepfercht. Sie wurden nicht deportiert und Hunderte Kilometer von ihrem Zuhause entfernt in einem Konzentrations- oder Vernichtungslager ermordet. Vielmehr starben die ukrainischen Juden in aller Regel kurze Zeit nach dem deutschen Einmarsch in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Heimatorte, am helllichten Tag und in aller Öffentlichkeit. Das Schicksal der Opfer blieb nicht, wie in vielen anderen Ländern, aus denen Juden deportiert und verschleppt wurden, vage oder von Gerüchten begleitet. Vielmehr waren die lokalen dörflichen und städtischen Gesellschaften in der Ukraine von der Ermordung unmittelbar betroffen und daran beteiligt.“
Serhii Plokhy. Ukraine & Russia. Representations of the Past. University of Toronto Press. Toronto/Buffalo/London 2008. Reprint 2014. Enthält einen Hinweis (S. 161f) auf den eher zweitrangigen sowjetischen Schriftsteller Michail Alekseev, der seine persönliche Teilnahme an den Plünderungen jüdischer Geschäfte 1914 in Berditschew in einem „Memoiren“ betitelten Werk festhielt. Wie es weiter heißt, habe der Literat diese Schilderungen von sich gegeben, ohne dabei „antijüdische Gefühle“ auszudrücken.
Eines der besten Werke zur Shoah in der Ukraine, das mehrfach auch auf Berditschew zu sprechen kommt, ist: Ray Brandon und Wendy Lower. The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization. Indiana University Press 2008/2010.
Wassili Grossman. In der Stadt Berditschew. In: Sinn und Form. 46. Jgg. 1994. Zweites Heft März/April. S. 233-245. Die hier erstmals in deutscher Sprache abgedruckte Erzählung diente dem Film „Die Kommissarin“ (Sowjetunion, 1967/1987) zur Vorlage. Der Streifen wurde in seinem Ursprungsland gleich nach Fertigstellung verboten und erlebte seine sowjetische Premiere erst zwanzig Jahre später. Nach seiner internationalen Erstaufführung bei der Berlinale 1988 erntete er weltweit hohe Anerkennung (u.a. die Auszeichnung „Silberner Bär“). Interessant ist, wie im Film das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Russen/Ukrainern dargestellt wird.
Samuel H. Dresner. Levi Yitshak of Berditchev. Portrait of a Hasidic Master. Devir/Tel Aviv 1987.
Mendele Moicher Sforim u.a. Des Rebben Pfeifenrohr. Humoristische Erzählungen aus dem Jiddischen. Eulenspiegel Verlag/Berlin 1985. Darin u.a.: „Besuch in Berditschew“.
Tsevi Kaminski. Geven Amol A Shtot Berditshev. Pariz-Publ. 1952.
Martin Buber. Der grosse Maggid und seine Nachfolger. Rütten & Loening/Frankfurt am Main 1922. Enthält u.a.: „Levi Jizchak von Berditschew“.
Kartenquellen:
Ukraine, 1:1 000 000, Reise Know-How Verlag Bielefeld, 5. Auflage, 2019
Meyers Lexikon. Achte Auflage. Leipzig 1936. Atlasband.
Meyers Konversations-Lexikon. Fünfte Auflage. Leipzig und Wien 1897.
Berditschew/Berdytschiw im WWW:
https://en.wikipedia.org/wiki/Berdychiv
https://uk.wikipedia.org/wiki/%D0%91%D0%B5%D1%80%D0%B4%D0%B8%D1%87%D1%96%D0%B2
https://pl.wikipedia.org/wiki/Berdycz%C3%B3w
https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%91%D0%B5%D1%80%D0%B4%D0%B8%D1%87%D0%B5%D0%B2
https://en.wikipedia.org/wiki/Levi_Yitzchok_of_Berditchev
http://www.berdichev.org/holocaust.html
Zeitzeugen: