Temeswar/Timisoara – Kulturhauptstadt Europas 2023

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In der Pannonischen Tiefebene, südlich von Ungarn und östlich von Serbien, ließen sich die Kolonisten im 17. Jahrhundert nieder. Mit Flößen auf der Donau sollen sie von Westen, von Ulm gekommen sein, aus Schwaben, dem Elsass, von der Mosel , dem Main und dem Rhein, auch aus Italien, Spanien und Österreich… Versprechungen lockten sie in diese unwegsame, sumpfige, von den Osmanen verwüstete Landschaft.

Von Christel Wollmann-Fiedler

Mit gutem handwerklichem Können errichten sie mühselig und fleißig ihre Dörfer und Städte, betrieben Landwirtschaft und Handel. Ihrem katholischen Glauben blieben sie treu. Unterschiedliche Völkerscharen zogen in den hunderten von Jahren durch diese Landschaft, erobern und vertreiben die anderen, andere kommen und tun das gleiche. Ab dem 18. Jahrhundert bekommt die Habsburger Monarchie die Oberhoheit, nach dem 1. Weltkrieg kommen die „Donauschwaben“ zu Groß Rumänien. Nach dem 2. Weltkrieg verschwindet Rumänien mit seinen unterschiedlichen Landschaften und Ethnien hinter dem Eisernen Vorhang und diktatorisch regiert der Kommunismus. Erst nach 1989, nach der Öffnung der Grenzen in Europa, taucht das Land mit seiner ungeheuren historischen Vergangenheit aus dem Nebel auf.

Temeswar, die barocke Stadt, das „Kleine Wien“, ist Mittelpunkt dieser historischen Region in Südosteuropa. Zu hohen Ehren wird diese Stadt im nächsten Jahr gekürt und Kulturhauptstadt 2023 in Europa sein. Die zweite rumänische Stadt, die diesen hochverdienten Namen trägt. Im Jahr 2007 wurde Hermannstadt in Siebenbürgen ausgewählt.

Unzählige Gäste nehmen in der Rumänischen Botschaft in der Dorotheenstraße in Berlin-Mitte Platz und streben Temeswar und seiner Kultur entgegen. Irgendwo da vorne erkenne ich Judith Urban, die ehemalige Konsulin in Hermannstadt. Klaviermusik ist zu hören. Die bereits preisgekrönte Pianistin Daria Tudor wird am Abend Werke von George Eminescu und eine Bach-Bearbeitung von Ferrucio Busoni spielen, ein musikalisches Geschenk.

Professor Dr. Rudolf Gräf lehrt als Historiker an der Babes Bolyai-Universität in Klausenburg/Cluj und wir werden in  großen Zügen die Geschichte des Banats und die Gründung durch Stefan V. im Jahr 1266, über die Osmanische Zeit bis zur Habsburger Verwaltung  erfahren, und hören, dass Kirchen durch Moscheen ersetzt werden und die Osmanen Schritt für Schritt durch die Habsburger verdrängt werden. Die Österreicher haben ein neues Konzept, Temeswar wird eine neue Stadt und ein neues Banat entsteht. Ungarn bekommt den Landesteil nicht zurück. Das Banat wird ein Kronland mit nur einem Kaiser, die Bevölkerung hat gleiche Rechte und gleiche Pflichten, doch eine Demokratie entsteht nicht. Professor Gräf erklärt die Geschichte der Einwanderung und die Geschichte Rumäniens und Ungarns. 1919 marschieren rumänische Truppen ein, das Banat wird Rumänien zugesprochen. Neue Machtverhältnisse entstehen, wieder werden sich die Bewohner neu orientieren. Rumänien sympathisiert mit der deutschen Naziregierung und so mancher Mann geht freiwillig in die SS. Juden aus Ungarn treffen in den 1940er Jahren zu Tausenden in Temeswar ein, wollen den Deportationen entgehen. Einhundert Juden werden nach Transnistrien gebracht.

Prof. Gräf im Gespräch mit Botschafterin Adriana Loreta Stanescu

Nach dem 2. Weltkrieg beginnen bei Nacht und Nebel die Deportationen der deutschen Minderheit ins Donezbecken zur Schwerstarbeit. Noch 1945 wird die Universität gegründet und später ist von der Aktionsgruppe Banat die Rede, der literarisch politischen Gruppe  junger Schriftsteller, denen ein schweres Leben in dem Land Rumänien während der kommunistischen Zeit bevorsteht, seit den 1960er Jahren verlassen  Bürger der deutschen Minderheit das Banat, werden von der Bundesrepublik Deutschland herausgekauft und gehen nach Westdeutschland, nach 1989 beginnt der Exodus. Es wird erwähnt, dass Herta Müller 2007 den Nobelpreis für Literatur erhält und Stefan Walter Hell bekommt mit zwei anderen Wissenschaftlern 2014 den Nobelpreis für Chemie. Beide besuchten das „Nikolaus-Lenau–Gymnasium“ in Temeswar und leben seit vielen Jahren in Deutschland. „Temeswar/Timisoara – eine Stadt mit Vergangenheit und Zukunft“, ist das Vortragsthema von Professor Gräf.

Das Kulturforum östliches Europa in Potsdam und die Rumänische Botschaft in Berlin haben eingeladen. Dr. Ingeborg Szöllösi empfängt wie immer kompetent die schwarzgekleideten wichtigen Herren und die wenigen Damen. Bis auf den letzten Platz ist der Saal besetzt und alle möchten über Temeswar und sein Kulturprogramm im nächsten Jahr erfahren. I.E. Die Botschafterin Rumäniens, Adriana Loreta Stanescu, begrüßt die vielen interessierten Gäste und Dr. Harald Roth, Direktor des Deutschen Kulturforums östliches Europa, ebenso. Auf der Leinwand empfängt uns Temeswar mit herrlichen fröhlichen Stadtszenen. Schon sind wir Gäste mitten in Temeswar. Ein Treffpunkt verschiedener Ethnien und Religionen und Sprachen ist die drittgrößte Stadt Rumäniens, eine freiheitsliebende Stadt!

Teodora Borghoff ist mit ihren graphischen Darstellungen aus Temeswar mitgekommen nach Berlin. Sie ist Kuratorin „Temeswar 2023.“ Der Gerarer Oberbürgermeister, Julian Vonarb, kommt als Gast ans Podium. Die thüringische Stadt Gera ist Partnerstadt von Temeswar und wird im nächsten Jahr ins dortige Programm aufgenommen. Kontakte gehen hin und her, das Philharmonische Orchester Altenburg Gera wird dabei sein, Theateraufführungen wird es geben, gelebte kulturelle Zusammenarbeit, Völkerverständigung im Vereinten Europa, meint Vonarb.

Enthusiastisch lädt uns Simion Giurca nach Temeswar ein. Mit Stolz und Begeisterung verspricht er ein interessantes Programm, verspricht große Gastfreundschaft, wunderbares Essen und viel, viel mehr. Temeswar bricht all die Vorurteile, die auf dem Weg  sind, es ist eine romantische Stadt, er erklärt uns die Seele der Stadt beschreibt die an Österreich erinnernden Bauten, Barock, Jugendstil und Art Deco vom Feinsten ist saniert und renoviert. Nicht als Touristen, als Besucher sollen wir kommen Die größte Fußgängerzone Rumäniens gibt es in Temeswar und die moderne Straßenbahn fährt dort mitten durch die fein sanierte Banater Metropole. Ein ungarisches, ein rumänisches Theater und ein deutsches zeigen interessante Aufführungen, die moderne Oper wird 1946 gebaut. Die rumänischen Bürger haben deutsche Traditionen und Kultur übernommen, Bier fließt seit 1718, der Wein aus der Umgebung wird uns Gästen schmecken. Giurca ist der Animateur von Temeswar. Angesteckt werde ich von ihm und freue mich auf das nächste Jahr.

Auch die jüdischen Gebäude wurden saniert und können besucht werden. So denke ich doch gleich an den großartigen, fein bebilderten „Mehr als ein Stadtführer – Auf den Spuren des jüdischen Temeswar“ von Getta Neumann. Getta Neumann wurde 1949 in Temeswar als Tochter von Edit und Oberrabiner Dr. Ernest Neumann geboren, heute lebt sie in Genf in der der Französischen Schweiz. Eine Fundgrube ist dieser spezielle und kompetente Stadtführer. Es soll keinen anderen Reiseführer über die Stadt geben, nur diesen jüdischen…

Der Bürgermeister von Temeswar,  Dominic Fritz, erzählt dem Südosteuropa-Korrespondenten Michael Martens von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wie er vom Südschwarzwald nach Temeswar kommt, in seinem Sozialen Jahr arbeitet er in einem Kinderheim, geht zurück, kommt immer wieder, Politik und Verwaltung studiert er. Er fühlt sich von der Vielfältigkeit des Deutschen, des Ungarischen, des Rumänischen und auch des Serbischen angezogen. Von Antikorruption ist zu hören, Transformation, langfristig Europa neu entdecken und definieren. Temeswar gilt als Revolutionsstadt, damals 1989 starben viele Menschen. Digitalisierung ist wichtig für die Verwaltung, Fritz sorgt für Vollbeschäftigung in der Stadt. Ein Jahr Wahlkampf steht er durch und letztlich gewinnt er haushoch. Mit riesigen Erwartungen wird er 2020 gewählt, eine große Herausforderung für ihn. Mit Leidenschaft beginnt er sein Amt. Er erklärt wie er im Rathaus agiert und dirigiert, Fritz erklärt seine Vorhaben, erklärt seine Wünsche und Strategien, wie weit sie bereits erfolgreich sind und weitere dazu kommen sollen. Seine Netzwerke funktionieren und sind wichtig: „Wir glauben, dass unsere Geschichte Europa inspirieren könnte“

Eine Belohnung und ein Glücksfall ist die „Kulturhauptstadt 2023“ sowieso. Temeswar ist jetzt schon bekannt, wird noch mehr Besuch bekommen. Für manche eine kleine Stadt, für andere eine große Seele!