„Atempause am Rand der Zivilisation“

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Dachau-Häftlinge begrüßen die US-amerikanischen Befreier. Foto: US National Archives and Records Administration (Public Domain)

Ein Sammelband thematisiert Erfahrungen von NS-Verfolgten nach der Befreiung

Seit 2020 geben die „Stiftung Hamburger Gedenkstätten“ und die „Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten“ jährlich das Heft „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung“ (BGNV) heraus. Neben der Erörterung aktueller Forschungsergebnisse und Debatten werden auch Fragen der Erinnerungskultur sowie Kontinuitäten und gesellschaftliche Folgewirkungen der NS-Verbrechen thematisiert. Jede Ausgabe beleuchtet ein zentrales Thema: Nach den Titeln „Zwischen Verfolgung und Volksgemeinschaft – Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus“, „Religiöse Praxis in Konzentrationslagern und anderen NS-Haftstätten“ stehen nun die „Ausgrenzungserfahrungen und der Neubeginn von NS-Verfolgten nach der Befreiung“ im Mittelpunkt der dritten Ausgabe.

Der Versuch der jahrelang an Leib und Seele gequälten Menschen in ein normales Leben zurückzukehren gestaltete sich als ein langwieriger Prozess – geprägt durch Verzweiflung und Hoffnung. Der Schriftsteller Primo Levi hat die Zeit nach seiner Befreiung aus dem KZ-Auschwitz als eine „Atempause am Rand der Zivilisation“ beschrieben. Die ehemalige Partisanin Ida Desandré, die mehrere Lager überlebt hatte, quälte die Frage: „Wer würde mir glauben, wenn ich erzähle, was ich gesehen, was ich durchgemacht hatte?“ Diese und andere vielfältige Erfahrungen von Opfern des NS-Regimes aus den verschiedenen Ländern Europas sowie die Reaktionen ihres sozialen Umfelds auf ihre Schicksale stehen im Fokus des Bandes.

Die Aufsätze behandeln die Rückkehr der Verschleppten in ihre Heimatländer, wie beispielsweise die Repatriierung eines Rotarmisten nach Kasachstan und die Heimkehr italienischer Frauen aus dem KZ Ravensbrück. Weitere Texte untersuchen die Aktivitäten von Überlebenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf dem vormaligen Gelände des KZ-Flossenbürg oder die Bedeutung der jüdischen Zentralkomitees in der britischen und US-amerikanischen Besatzungszone. Auch das erinnerungspolitische Engagement ehemaliger Häftlinge in der tschechoslowakischen Nachkriegsgesellschaft oder im jungen Staat Israel wird diskutiert. Allein sechs Autoren lenken den Blick auf den gesellschaftlichen Ausschlussprozess von NS-Opfern, wie etwa Sinti und Roma, politisch Verfolgte und Zwangsrepatriierte in der Sowjetunion, in Frankreich, Österreich und der Bundesrepublik.

Abgerundet wird die Publikation durch einen Beitrag über die Cap Arcona-Katastrophe, bei der die britische Luftwaffe am 3. Mai 1945 irrtümlich Schiffe mit Tausenden von KZ-Häftlingen in der Lübecker Bucht bombardierte. Ein Kapitel mit Rezensionen von Büchern zum Thema NS-Geschichte beschließt den Band.

Mehrheitlich werfen die wissenschaftlichen Beiträge einen neuen Blick auf scheinbar Bekanntes, ermöglichen eine vertiefende Betrachtung und bieten damit auch Ansätze für neue Forschungen. Doch es werden auch Themen behandelt, die wenig publik sind. Insgesamt ein weitgehend gelungener und interessanter Band. – (jgt)

Alyn Beßmann/Insa Eschebach/Oliver von Wrochem (Hg.), NS-Verfolgte nach der Befreiung. Ausgrenzungserfahrungen und Neubeginn. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung; Bd. 3, Göttingen 2022, 262 Seiten, 18,00 €, Bestellen?

Bild oben: Dachau-Häftlinge begrüßen die US-amerikanischen Befreier. Foto: US National Archives and Records Administration (Public Domain)