Zur Bedeutung der Jamim Noraim

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Rosch Haschana und Jom Kippur sind die Tage des Gerichts. An ihnen hat sich der Mensch zu verantworten für sein Tun und Lassen während eines ganzen Jahres. An ihnen legt er Rechenschaft ab, nicht nur gegenüber sich selbst, sondern gegenüber einer höheren, ja der höchsten Instanz überhaupt — G’tt. Rosch Haschana und Jom Kippur wird der Mensch daran erinnert, daß er nicht frei ist in seinen Taten, nicht Richter über sich selbst, sondern daß, wie unsere Weisen es ausdrückten, über ihm stets „ein sehendes Auge und ein hörendes Ohr“ ist, und „alle seine Werke im Buch verzeichnet werden.“

Ein Jahr ist vergangen, ein Jahr in dem jeder sich bewähren konnte in den Beziehungen zu G’tt und den Mitmenschen, ein Jahr voller Möglichkeiten, durch Befolgung der Mizwot, der g’ttlichen Gebote, sein Menschsein zu verwirklichen. Wir blicken zurück und erkennen unsere Fehler, Schwächen, Versagen. Aber wir verzweifeln nicht. Im Mittelpunkt derTage von Rosch Haschana bis Jom Kippur steht dieTesch~uwa, die Umkehr. Wir haben die Chance, von Neuem zu beginnen, uns zu besinnen, was wir falsch gemacht haben, den falschen Weg zu verlassen und den richtigen einzuschlagen. Wenn wir unsere Verfehlungen vor G’tt ehrlich bekannt haben, dann wird uns an Jom Kippur von ihm die Sühne zuteil. Allerdings, wir müssen es ehrlich meinen, und „der da spricht, ich werde sündigen und Jom Kippur entsühnt mich, dem wird an Jom Kippur keine Sühne zuteil“ lehrt uns die Mischna.

Besinnung und Umkehr sind keineswegs auf Rosch Haschana und Jom Kippur beschränkt. Rabbi Elieser sagte: „Kehre einen Tag vor deinem Tode zu G’tt zurück.“ Darauf fragten ihn seine Schüler: „Rabbi, woher weiß der Mensch den Tag seines Todes?“ Da antwortete jener: „Dies ist es, was ich sage. An jedem Tag vollziehe der Mensch die Umkehr!“ Eine chassidische Geschichte erzählt, daß Rabbi Sussja von Hanipol alles, was er tat, tagsüber auf einen Zettel schrieb. Am Abend vor dem Schlafengehen holte er ihn hervor, las ihn und weinte so lang, bis die Schrift von seinen Tränen vertilgt war. Dann hatte er für das, was er am Tage falsch gemacht hatte, die Umkehr vollzogen.

Auch am nichtjüdischen Neujahrstag machen sich die Menschen neue Vorsätze, doch unter dem Knallen der Raketen und Sektpfropfen sind sie bald vergessen. Teschuwa dagegen ist kein leichthin gesprochenes Sündenbekenntnis. Nicht umsonst bedeutet das Wort „Teschuwa“ nicht nur „Reue“, sondern „Umkehr“ und Umkehr verpflichtet zu Taten. Im Mittelpunkt des Mussafgebetes zu Rosch Haschana und Jom Kippur steht der Satz: Die Umkehr, das Gebet und die Wohltätigkeit wenden das strenge Urteil ab.

Im Mittelpunkt der Umkehr steht das Sündenbekenntnis. Nur wenn der Mensch nicht versucht, seine Sünden zu verdrängen, in eine dunkle Ecke seines Gewissens abzuschieben, sondern sie offen vor G’tt bekennt, sagt er sich zugleich von ihnen los.

Bei dem guten Willen allein zu einem neuen Lebensweg darf es nicht bleiben. Er muß durch tatkräftiges Handeln unter Beweis gestellt werden. Dies geschieht nun durch Gebet und Wohltätigkeit. Auf zwei Ebenen hat der Mensch gesündigt: gegenüber G’tt und gegenüber seinen Mitmenschen. Als der Tempel noch stand, versöhnte das dargebrachte Opfer den Menschen mit G’tt. Nach der Zerstörung des Tempels trat das Gebet an die Stelle des Opfers. Im Gebet werden zu G’tt neue Bande geknüpft.

Im Mittelpunkt der zwischenmenschlichen Beziehungen steht das soziale Verhalten des einzelnen. Wir haben bereits gehört, daß das dem Nächsten an-getane Leid, wenn möglich, wieder gut gemacht werden muß. Darüber hinaus kann der Mensch seinen guten Willen unter Beweis stellen, indem er über die Forderung des Gesetzes hinausgeht und mehr tut, als dieses von ihm verlangt. Dieses „mehr“ ist Zedaka, Wohltätigkeit. Natürlich ist es ein Gebot der Thora, den sozial Schwachen zu unterstützen, aber Zedaka ist ein freiwilliges Geben, mehr, als das Gesetz fordert.

Handelt der Mensch in den Tagen der Umkehr nach diesen drei Prinzipien: Teschu’wa, Tefilla und Zedaka, dann kann er gewiß sein, an Jom Kippur in das Buch der Versöhnung und Vergebung eingetragen zu werden.

Aus: „Die jüdischen Feiertage – unter Betonung der religiösen Praxis, der Halacha„.