Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz

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Antisemitismus kennt vielfältige Ausprägungen, was nicht zuletzt die antisemitischen Darstellungen auf der documenta in Kassel zeigten. Laut der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern zeichnen sich mehr als die Hälfte aller dokumentierten antisemitischen Vorfälle im Freistaat durch einen Bezug auf den Holocaust aus. Der sogenannte Post-Schoah-Antisemitismus ist laut RIAS Bayern die ausgeprägteste Erscheinungsform des Antisemitismus in Bayern.

In München zeigte ein Securitymitarbeiter israelischen Sportler:innen, die sich auf dem Weg zu Gedenkorten für das Olympia-Attentat von 1972 befanden, den Hitlergruß. In ganz Bayern trugen Menschen auf Coronaprotesten „gelbe Sterne“, oft mit der Inschrift „ungeimpft“, und setzten sich so mit den verfolgten Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus gleich. Seit Jahrzehnten gehören Angriffe auf Gedenkorte zum Alltag: Auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Lagerkomplexes Kaufering etwa wurde auf einer Schautafel ein Hakenkreuz und der Satz „Bitte komm zurück“ hinterlassen.

„Der Antisemitismus nach der Schoah erhielt seine Grundlage nicht trotz, sondern gerade in dem Wissen um seine tödliche Konsequenz. Aus diesem Wissen und aus Schuld- und Erinnerungsabwehr speist sich der Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Juden werden als diejenigen wahrgenommen, die allein durch ihre Existenz sowohl eine ‚unbeschwerte‘ deutsche Identität als auch die liebgewonnene Selbstversicherung als ‚vorbildlich aufarbeitende‘ Nation stören. Und insbesondere im Antisemitismus, der sich gegen Israel richtet, wird dann von vielerlei Seiten die Schoah instrumentalisiert, um endlich sagen zu können, dass ‚die Juden‘ ja ‚wie die Nazis‘ handelten. Angriffe auf die Erinnerung sind wesentliche Voraussetzung für das Leugnen wie auch das Ausleben von Antisemitismus heute“, sagt RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı.

Als Post-Schoah-Antisemitismus klassifizierte RIAS Bayern seit dem Frühjahr 2019 drei Angriffe, 35 gezielte Sachbeschädigungen, 16 Bedrohungen, 79 Massenzuschriften und 437 Fälle verletzenden Verhaltens, darunter 183 Versammlungen. Bei 49 Prozent dieser Vorfälle war es nicht möglich, einen eindeutigen politischen Hintergrund der Täter:innen zu erkennen. Oftmals handelt es sich um Vorfälle, bei denen außer etwa einer gezielten Beschädigung einer Gedenkstätte keine weiteren Informationen vorliegen, anhand derer eine bestimmte politisch-weltanschauliche Motivation ersichtlich wäre. Bei den Fällen mit einem festgestellten bestimmten politischen Hintergrund steht an erster Stelle mit 120 Fällen das verschwörungsideologische Milieu. 107 Fälle sind dem rechtsextremen Spektrum, 40 dem antiisraelischen Aktivismus zuzuordnen. RIAS Bayern weist darauf hin, dass von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist. Die Analysen entstammen der neuen RIAS-Bayern-Veröffentlichtung „Multidirektionale Angriffe auf die Erinnerung – Post-Schoah-Antisemitismus in Bayern“

Die Broschüre widmet sich insbesondere auch aktuellen Angriffen auf die Erinnerung an die Schoah durch postkoloniale Strömungen. Am Beispiel des Umgangs mit dem ehemaligen Konzentrationslager Dachau wird ein Blick auf den Wandel der bayerischen und deutschen Erinnerungskultur geworfen. Die Broschüre ist online verfügbar und kann als Printexemplar kostenfrei angefordert werden.

Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter www.rias-bayern.de oder unter 089 1 22 23 40 60 gemeldet werden. RIAS Bayern arbeitet seit 2019, befindet sich in der Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD) und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert.