In falschen Filmen

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Woody Allens „Rifkin’s Festival“

Von Miriam N. Reinhard

Der pensionierte Filmwissenschaftler Mort Rifkin (Wallace Shawn), der sich neuerdings als Romanautor probiert, erzählt seinem Psychoanalytiker eine Geschichte, die ihm kürzlich widerfahren ist: Er musste seine jüngere Ehefrau Sue (Gina Gershon), die als PR-Managerin in der Filmbranche tätig ist, zu dem San Sebastián Filmfestival begleiten – eigentlich doch fast eine Traumreise für jemanden, der mit diesem Genre so gut vertraut ist wie Mort, und dessen große Passion zudem auch noch der europäische Film ist. Doch Mort hält nicht sehr viel von den modernen Filmen und so ist es nur konsequent, dass er auch gar nichts von ihren Regisseuren hält. Der Klient seiner Frau, der Regisseur Philippe (Louis Garrel), der mit seinem Film „Apocalyptic Dreams“ mit Preisen überhäuft wird, weil er die wichtige Botschaft: „Der Krieg (welcher auch immer) ist schrecklich“, massentauglich darzustellen vermag, ist Mort ein besonderer Dorn im Auge. Er erkennt in dem jungen Künstler nicht nur die ausgestellte Oberflächlichkeit und Dümmlichkeit der Branche, sondern sieht in dem attraktiven Mann auch einen ernstzunehmenden Konkurrenten, der das Potential hat, seine ohnehin angeknackste Ehe zu zerstören.

So ist es nicht verwunderlich, dass Mort vom ersten Festivaltag an Herzbeschwerden hat – welch glücklicher Zufall, dass er eine junge Ärztin findet, die sich mit Herzproblemen besonders gut auskennt: Joanna (Elena Anaya), eine Spanierin, die eine Zeitlang in New York gelebt hat und nach Spanien zurückgekehrt ist, um sich in unglücklicher Ehe mit einem dramatischen Maler zu quälen. Das Publikum ahnt es sofort: hier könnte eine romantische oder dramatische Geschichte entstehen. Als die Beiden nach einem schönen gemeinsamen Tagesausflug dann noch eine Autopanne haben, ist das Setting gesetzt, um diese Begegnung in ein Horrormassaker am Straßenrand oder in ein Liebesgeflüster im hohen Gras bei untergehender Sonne zu wenden – aber es passiert … einfach gar nichts. Einen Reifen zum Wechseln haben sie auch nicht, sie trampen dann heim. Es sind solche Szenen, die geschickt deutlich machen, wie sehr wir alle immer in Filmen gefangen sind, wie bestimmte Konstellationen von Bildern beginnen, Szenen zu evozieren – wie wir das Leben in Beziehung zu Filmen erzählen. Mort wird jedenfalls von Erinnerungen an Filme in nahezu dissoziativer Weise heimgesucht: Er findet sich und Szenen aus seiner Vergangenheit in den Kulissen alter europäischer Filme wieder, das Unterbewusstsein vermischt Film und individuelle Vergangenheit. Mort hat somit tatsächlich die „Apocalyptic Dreams“, durch die der Regisseur Philippe bewusstseinslos wandelt, der dafür aber weiß, dass „das Meer der einzige Ort ist, an dem man frei sein kann.“ Deswegen habe er sich auch eine Segeljacht gekauft.

„Rifkin’s Festival“ ist ein einziges Kotzen in den Abgrund zur vermeintlichen Tiefe. Aber er amüsiert auch und frustriert zugleich ungemein. Ironie ist eigentlich eine intelligente Art der Versöhnung mit einer als widerspruchsvoll erlebten Wirklichkeit; der Satiriker kann nur aufgrund von Werten, die den Spott motivieren, überspitzen und so entlarvend tätig sein – wir kennen dieses Mittel von Woody Allen bereits. Dennoch ist es nicht richtig, deswegen anzunehmen, er wendet dies hier in genau derselben Weise wieder an, so dass wir mit „Rifkin’s Festival“ nichts Neues zu sehen bekommen würden; die Ironie hat in den meisten Filmen Allens oft eine ähnliche Funktion der kritischen Aufklärung, die hier aber gerade verweigert wird:

In „Der Stadtneurotiker“ (1977) bleibt am Schluss einer selbstironischen Auseinandersetzung mit intellektuellen Milieus die künstlerische Artikulation. Das künstlerische Zeugnis des Erlebten scheint ein Gewinn, wird so zu einer Sphäre der Selbstvergewisserung, wo das Ich schon von Auflösung bedroht gewesen ist. In „Rifkin’s Festival“ sind diese Selbstvergewisserungen jedoch nur leerer Habitus eines im Falschen Verharrenden, in dem der Habitus nicht mal mehr als Habitus decodiert werden kann.

Wenn in „Blue Jasmin“ (2013), das sich selbstbestätigende Gerede, das Nullwachstum an Erkenntnis, das die gestürzte High-Society-Lady Jasmine unentwegt produziert, jene Verhältnisse zurückspiegelt, die dieses Gerede bedingt haben, und diese somit kritische anfragt, so kommt „Rifkin’s Festival“ weitestgehend ohne ein soziales Außerhalb von Filmen aus. Ja, der Krieg ist schlimm und die Welthungersnot eine Katastrophe. Irgendwo im Außen ist etwas, das beunruhigend sein kann – doch die Leinwand, die es bezeugen könnte, bannt es zugleich, kreiert eine eigene Realität, die nicht mehr allegorisch, sondern bloß noch tautologisch funktioniert.

In „A Rainy Day in New York“ (2019) hat Woody Allen sich bereits kritisch auf die Filmbranche fokussiert, doch auch hier darf man noch die Hoffnung behalten, dass hinter den Kulissen von Film und Dasein vielleicht so etwas wie eine authentische Geschichte sich behaupten kann, die sich im authentischen Ausdruck und einer wahrhaftigen Liebe wiederfindet. Es braucht nur mutige und empathische Menschen, die es riskieren, die Kulissen wegzuschieben, um die Wahrheit dahinter zu sehen. „Rifkin’s Festival“ aber verharrt im Spiegelkabinett ohne Ausgang.

Im Gegensatz zu diesen Filmen bietet die Ironie in „Rifkin’s Festival“ überhaupt keine Möglichkeit der Versöhnung mit Realität durch künstlerische Produktion mehr an. Somit ist dieser Film keine Wiederholung, er ist eine Radikalisierung von Allens Schaffen, er ist eine Eskalation: der Mittelfinger an alle, die von Kunst noch irgendetwas erwarten – nicht nur, weil der Ort seiner Premiere das reale (reale?) San Sebastián Filmfestival 2020 gewesen ist, sondern weil er zugibt, dass das Wegschieben von Kulissen immer nur wieder neue Kulissen hervorbringt; wenn man diesen Prozess des Weg-Schiebens, des Verdrängens und Hervorholens, Wiederholens und Neudurchlebens irgendwann beendet, weil der Tod immer schneller ist als die Psychoanalyse erfolgreich sein kann, dann bleibt nur ein letztes stehendes trostloses Bild: Gegen Ende des Films erörtert Mort in einer von ihm imaginierten Filmszene aus Ingmar Bergmans „Das siebente Siegel“ beim Schachspiel mit dem Tod (Christoph Waltz) die Frage, die auch Camus umtrieb, ob Sisyphos ein glücklicher Mensch gewesen sei: „Was hätte Sisyphos davon, wenn er den Stein auf den Berg rollen wird? Er hätte einen Stein auf einen Berg“ erläutert Mort dem finsteren Gegenspieler, der darauf antwortet: „Das deprimiert jetzt sogar mich.“

Wäre „Rifkin’s Festival“ eine Dekonstruktion von Realität, um sich dann mit dem Aufscheinen einer Utopie vor den letzten Dingen zu verneigen, bräuchte er eine Sympathie- und Identifikationsfigur, um zu funktionieren, eine, die ein Außerhalb andeuten kann, der man dorthin folgen will. Er hat aber keine und weiß das. Ob es nun die alten weißen Männer sind, die beschissene Kriege führen, weil sie Geschichte schreiben wollen, oder alte weise Männer, die beschissen die Geschichte interpretieren, weil sie Kunst dazu machen wollen, oder jene, die diese Kunst schlechtreden, weil sie denken, dass sie gut darin sind – es bleibt alles derselbe schlechte Film. In seiner Kapitulation, dem eigenen Standort einen Sinn abzuringen, ist „Rifkin’s Festival“ ein Triumph – denn es gibt absolut nichts gar nichts nichts nichts von Bedeutung in ihm zu sehen. Apokalypse-Meister Vittorio Storaro fängt das mit seiner Kamera ganz wunderbar ein.

Nach 1 ½ Stunden, in denen man sich wiederholt fragt, ob man sich im falschen Film befindet, während man genau weiß, dass es der Richtige ist, wünscht man sich nur noch, dass der Stein des Sisyphos einen absehbar bald am Kopf treffen wird. Oder auch, dass man auf irgendeinem belanglosen Festival vielleicht auf einen ebenso belanglosen Regisseur mit Syphilis trifft, die Wahn und Wirklichkeit wieder unterscheidbar werden lassen könnte. „Früherkennung ist der Schlüssel zum Überleben“ – lautet einer der ganz besonders tiefgründigen Sätze in „Rifkin’s Festival“ und dieser Satz ist einfach wahr, wenn man die Regie über sein eigenes Leben zurückerlangen will. Er könnte original von Elisabeth Holmes oder all den anderen authentischen Heuchlern stammen, über die wir besonders gerne Filme sehen.