Fluchtpunkt Lissabon

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Die Stadt war während des Zweiten Weltkriegs das letzte Tor in die Freiheit

„Wir haben unser Zuhause verloren“, schrieb Hannah Arendt 1943 im New Yorker „Menorah Journal“. „Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in Konzentrationslägern umgebracht worden.“ Im Mai 1941 hatten Hannah Arendt und ihr Ehemann Heinrich Blücher in Lissabon einen Überseedampfer der portugiesischen Schiffsgesellschaft „Companhia Colonial de Navegação“ bestiegen und Europa in Richtung Vereinigte Staaten verlassen.

Für Zehntausende von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung wurde Portugal zum temporären Exil- und damit zum Transitland auf ihrer Flucht. Neben Hannah Arendt befanden sich darunter weitere prominente Intellektuelle wie etwa Friedrich Torberg, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Alfred Döblin oder Arthur Koestler. Insbesondere nach dem deutschen Überfall auf Frankreich war der Hafen von Lissabon das letzte Schlupfloch, durch das jüdische Emigranten und politische Gegner des Hitler Regimes dem sicheren Tod der NS-Vernichtungslager entkommen konnten.

Dass Portugal eine wichtige Rolle in der Exilgeschichte spielte, ist immer noch wenig bekannt. In der ambitionierten Ausstellung „Heimat und Exil – Emigration der deutschen Juden nach 1933“ des Jüdischen Museums Berlin suchte man ein Kapitel über Portugal vergeblich. Obwohl das Land nicht an der Konferenz in Evian teilnahm, an der 32 Nationen die Aufnahme der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland diskutierten und letztlich zu keinem nennenswerten Ergebnis kamen, nahm das neutrale, vom reaktionären nationalistischen Diktator Antonia de Olivera Salazar beherrschte Portugal zeitweise bis zu 80.000 Verfolgte aus Deutschland auf. Ein Land, in dem es seit der Vertreibung der Juden im 16. Jahrhundert faktisch kein jüdisches Leben mehr gab. Erst um 1820 durften die Juden wieder ihre Religion ausüben, doch die kleine, nur wenige hundert Menschen umfassende jüdische Gemeinschaft wurde öffentlich kaum wahrgenommen.

Das änderte sich erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Nach Schätzungen der portugiesischen Sicherheitsbehörden hielten sich bereits im Jahr 1936 etwa 600 Flüchtlinge aus Deutschland in Portugal auf. Wer ins Land einreisen wollte, musste lediglich beim portugiesischen Konsulat ein Visum beantragen. Ausländer durften anfänglich frei einreisen, wenn sie die Gesetze des Landes respektierten. Nur wem politische Aktivitäten gegen die Regierung zur Last gelegt werden könnten, würde ausgewiesen, nicht aber weil sie Juden wären.

Portugal teilte zwar die gleiche antikommunistische, antiliberale und autoritäre Ideologie der Nationalsozialisten, nicht jedoch ihren rassisch geprägten eliminatorischen Antisemitismus.

Als die Zahl der Flüchtlinge immer mehr zunahm, verschärfte Portugal seine Einreisebestimmungen – neben den wenigen unbefristeten Visa, die auch ein Aufenthaltsrecht beinhalteten, wurden nun verstärkt Touristen- oder Transitvisa ausgestellt. Obwohl die Regierung Salazar auch während des Zweiten Weltkriegs eine strikte Neutralitätspolitik verfolgte, gab es eine Zusammenarbeit mit dem NS-Regime und anderen Kriegsparteien. Das Land wurde zu einer Drehscheibe für Informationen, Waren und Menschen. Dabei durften auch Hilfsorganisationen die Flüchtlinge organisatorisch und finanziell unterstützen, allen voran das American Jewish Joint Distribution Committee und die Hebrew Immigration Aid Society. Sie finanzierten etwa die Überfahrt oder charterten Schiffe.

Insgesamt war Portugal ein Zufluchtsland mit vielen Diskrepanzen: Es ließ die deutsche NS-Propaganda im Land zu, machte es den Flüchtlingen jedoch nicht allzu schwer. Solange sie über finanzielle Mittel verfügten, konnten sie ein einigermaßen normales Leben führen. Unterstützung bei vielen Problemen, von der medizinischen Versorgung bis hin zur Bereitstellung von Unterkünften und Verpflegung, leistete auch die Jüdische Gemeinde Lissabon. Dennoch war es für die Geflüchteten eine Zeit der Unsicherheit, des Wartens und der Angst. Der Kampf um die rettenden Schiffspassagen bestimmte das Alltagsleben. „Die portugiesischen Linien können den Riesenansturm nicht Herr werden; der Platz auf Frachtdampfern zum Beispiel ist für die nächsten neun Monate ausverkauft“, meldete die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung AUFBAU am 21. Februar 1941.

Diese Entwicklung führte dazu, dass bei vielen Emigranten die Transitvisa abliefen, damit konnten sie keinen gültigen Aufenthaltstitel mehr vorweisen. Auch für Hannah Arendt wurde das Warten unerträglich „Wie lange wir hierbleiben werden, weiß ich nicht. Wir haben vorläufig noch keine Passagen“, notierte sie im Februar 1941. Und Anfang April: „Wir haben eine schwache Hoffnung, noch in diesem Monat wegzukommen. Unsere Passagen sind seit Langem bezahlt.“

Trotz aller Widrigkeiten gelang es den Flüchtlingen und ihren Helfern oft noch, die rettende Überfahrt anzutreten. Das kleine Land am Rande Europas hat im Verhältnis zu anderen Nationen nicht wenigen Geflüchteten Zuflucht gewährt und ihnen damit die Emigration nach Übersee ermöglicht. Portugals Regierung hätte mehr leisten können, aber dazu wären auch andere Länder in der Lage gewesen, die ihre Türen jedoch fest verschlossen hielten. Der Band „Zuflucht am Rande Europas“ der beiden Autorinnen Irene Flunser Pimentel und Christa Heinrich würdigt die lebensrettende Bedeutung Portugals für Zehntausende von Flüchtlingen. Eine spannende und reichbebilderte Lektüre, die auf breiter Quellenbasis fußt und deren Reiz nicht zuletzt darin liegt, dass eine portugiesische Historikerin und eine deutsche Soziologin und TV-Journalistin einen binationalen sowie interdisziplinären Blick auf ein vergessenes Kapitel europäischer Exilgeschichte werfen. – (jgt)

Irene Flunser Pimentel/Christa Heinrich, Zuflucht am Rande Europas. Portugal 1933–1945, Leipzig 2022, Hentrich & Hentrich Verlag, 262 Seiten, 88 Abb., 29,90 €, Bestellen?

Leseprobe (PDF)

Bild oben: Emigranten vor der Abfahrt am Hafen von Lissabon, Foto: aus dem besprochenen Band