Trauer um Boris Romantschenko

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Die Wahrheit als Opfer des Krieges ist immer die sprachlich formulierte. Was im Krieg geschieht, trägt sich auch ohne unser aller Reden darüber zu. Und was im Krieg geschieht, wortlos, ohne Begriff, ist zweierlei: Tod und Zerstörung.

Von Karl-Josef Müller

Gibt es einen gerechten Krieg? Nein, aber es gibt das Recht des Angegriffenen, sich zu verteidigen.

Und damit sind wir wieder bei der Sprache. Denn in der Regel sieht sich der Angreifer genötigt, seinem unmenschlichen Handwerk eine Erklärung beizufügen. „Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ Mit diesen Worten wurde der Auftakt des Zweiten Weltkrieges begründet – als ein Akt der Verteidigung. Wir ersparen es uns, die unübersehbaren Parallelen zwischen dieser Lüge und den aktuellen Begründungen derer aufzuzeigen, die gegenwärtig bestrebt sind, ukrainische Städte in Schutt und Asche zu legen.

Die im Krieg geopferte Wahrheit ist immer eine, die sprachlich vermittelt wurde, ja geopfert wird im Krieg die Sprache selbst als ein Medium der Verständigung. Man muss kein Kenner des Werkes von Martin Buber sein, aber in Zeiten wie diesen, in denen, bevor dieser Krieg ausbrach, eine geradezu unendliche Abfolge von Gesprächen stattgefunden hat, klingt seine Wertschätzung des Dialogs zwischen Menschen fast schon makaber.

Denn sprechen müssten wir miteinander, und zuhören einander. Ein Gespräch ohne die Bereitschaft zum Zuhören verkommt zum bloßen Gerede – oder zur Lüge, weil einer der beiden Gesprächspartner dem anderen suggeriert, in der Abfolge von Rede und Gegenrede Schritt für Schritt und Satz für Satz zu einer Lösung zu gelangen, obwohl er das Schwert bereits gezückt hat. Obwohl er bereits bereit ist, zu töten und zu zerstören.

„Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.“ Aber derjenige, der, gemeinsam mit seinen Kumpanen, die Wahrheit dieses Diktums von Franz Kafka erneut unter Beweis gestellt hat, scheint in seinem Reich die Sprache in seine Gewalt gebracht zu haben.

Am 18. März kam Boris Romantschenko durch einen Bombenangriff in Charkiw ums Leben. „Der Tod des Buchenwald-Überlebenden Boris Romantschenko bei einem Bombenangriff in der Ukraine hat in Thüringen Bestürzung ausgelöst. ‚Die Nationalsozialisten haben es nicht geschafft, diesen großen Menschen zu brechen, ihn zu töten – sehr wohl aber das System Putin mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine‘, sagte Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) am Montag. Der Tod des 96-jährigen Überlebenden mehrerer Konzentrationslager mache ihn fassungslos und lasse ihn entsetzt zurück.  Romantschenko habe sich später intensiv für die Erinnerung an die NS-Verbrechen eingesetzt. Er sei Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora gewesen. Seit den 1990er Jahren sei er regelmäßig zu Veranstaltungen auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers bei Weimar gekommen, sagte Wagner. Unter anderem hatte er am 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers am 12. April 2015 den Schwur von Buchenwald in russischer Sprache erneuert.“ (Siehe Die Zeit)

„Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ Mit diesen Worten begann ein Krieg, ohne den der Versuch der systematischen Vernichtung des jüdischen Volkes wohl nicht möglich gewesen wäre. Der zwanghafte Drang, den Beginn unsäglicher Gewaltanwendungen lügend zu begründen, hat nicht nachgelassen.  “Fair is Foul, Foul is Fair”: Shakespeares Hexen nehmen Kafka vorweg, der Potentat im Osten spricht und handelt ganz nach ihrer Analyse.

Erschrecken, Abscheu, Wut und Verzweiflung über den Tod von Boris Romantschenko stellen sein sinnloses Sterben nicht über das Leid und den Tod aller anderen Opfer, eingeschlossen auch all die gefallenen russischen Soldaten, die in diesen Krieg gezwungen wurden, nicht hingegen ihre zu Tode gekommenen willfährigen Befehlshaber. Das Erschrecken über den Tod von Boris Romantschenko offenbart vielmehr beispielhaft die Brutalität des Lügengebäudes, das die Angreifer täglich und stündlich zu verteidigen und auszubauen suchen.

Wir alle sind sterblich, und ein Mensch im Alter von 96 Jahren weiß, dass ihm nicht mehr viel Lebenszeit bleibt. Unsere Menschlichkeit zeigt sich nicht zuletzt in unserer Zuneigung zu den Sterbenden. Boris Romantschenko ist gestorben durch sinnlose Gewalt. Für einige Stunden, vielleicht Tage wurde sein Tod zum Symbol eines grausamen Gemetzels. In jungen Jahren hatte er ein solches überlebt, um nun, nach all den Versuchen zu verhindern, was sich nicht wiederholen sollte, einen einsamen Tod ohne den Trost seiner Mitmenschen sterben zu müssen.

„Das wirklich Berührende ist die Nacktheit, mit der Leonard Cohen, der inzwischen immerhin 82 Jahre zählt, auf seinem neuen Album vor den Herrn tritt: seine Unerschrockenheit, seine Demut, sein melancholischer Fatalismus.

Ein Abraham des Rocks, der sich für den letzten Weg vorbereitet, mit einem auf Hebräisch dahingehauchten »Hineni, Hineni« und einem reibeisernen »I am ready, my Lord!«. So wie bei Cohen klingen Gelassenheit, Furchtlosigkeit und Urvertrauen, so hört sich der vielleicht tröstendste Blick auf das Ende an. You Want It Darker ist Leonard Cohens ganz persönliches Kaddisch.“ (Siehe JA)

Die Trauer darüber, dass  Boris Romantschenko ein solches Ende nicht beschieden war, will kein Ende nehmen.

Wir müssen diese Trauer gegenwärtig halten und sie aussprechen, damit sie nicht hinter den alltäglich gewordenen Kriegsmeldungen verschwindet. Und um der Sprache der Lügner zu widersprechen.

Foto: © Gedenkstätte Buchenwald Mittelbau-Dora