Der Anhänger von Karoline Cohn

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Dieser Kettenanhänger mit der Inschrift „Masel Tov“ gehörte Karoline Cohn aus Frankfurt. Seine Entdeckung 70 Jahre später in Sobibór gibt Zeugnis von ihrer Ermordung.

Von Aleksandra Szymula

Seit dem Jahr 2000 werden auf dem Gelände des einstigen deutschen Vernichtungslagers in Sobibór archäologische Ausgrabungen durchgeführt, bei denen bislang mehr als 11.000 Funde zu Tage gebracht wurden. Die Gegenstände vermitteln neue Einblicke in die tragische Geschichte des Ortes und seiner Opfer. Nur einige wenige gefundene Relikte lassen sich konkreten Personen zuordnen. Der Anhänger von Karoline Cohn ist eines der Artefakte, das die Identität einer im Holocaust ermordeten Person offenlegen und die Erinnerung an sie bewahren.

Sobibór war eines der Vernichtungslager, in denen eine große Anzahl von Opfern bereits wenige Stunden nach ihrer Ankunft mit Giftgas ermordet wurde. Bei Ausgrabungsarbeiten auf dem Gelände des von den Nationalsozialisten errichteten Vernichtungslagers in Sobibór wurde im Herbst 2016 ein kleiner Anhänger gefunden. Sein Fundort befindet sich nahe der Straße, die zu den Gaskammern führte. Dort standen die sogenannten Friseur-Baracken, in denen ein eigens dafür zuständiges Häftlingskommando den in den Tod gehenden jüdischen Deportierten die Haare rasierte.

In das dreieckige silberne Plättchen sind die Worte Masel Tov eingraviert, ein hebräischer Ausdruck, der mit „Viel Glück“ oder „Viel Erfolg“ übersetzt werden kann. Unterhalb des Spruchs befindet sich das Datum, 3.7.1929, und der Ortsname – Frankfurt am Main. Auf der Rückseite des Anhängers kann man den Buchstaben He erkennen, der den Gottesnamen Jahwe von drei Sternen umgeben darstellt. Mehr als 70 Jahre nach Ende der entsetzlichen Ereignisse an diesem Ort gibt uns dieser kleine Anhänger die Möglichkeit, uns der Geschichte seiner 12-jährigen Besitzerin Karoline Cohn und ihrer Familie bewusst zu werden.

Die im Jahr 1940 beginnende Seeblockade Nazideutschlands, sorgte dafür, dass die Erwägung der Nationalsozialisten, die europäischen Juden nach Madagaskar oder nach Palästina auszusiedeln, keine Chance auf Verwirklichung hatte. Bald schon wurde von führenden Funktionären des Naziregimes geprüft, ob Juden aus Westeuropa in den Osten umgesiedelt werden könnten, wo die Mehrheit der europäischen Juden ansässig war. Nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges im Juni 1941 und dem anfänglich erfolgreichen Marsch der deutschen Truppen nach Osten, wurde von der NS-Führung die Auslöschung der jüdischen Bevölkerung in Europa beschlossen.

Bei der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 arbeiteten die Nationalsozialisten einen detaillierten Plan zur Organisation und Koordination der Deportation und Ermordung der noch in Europa verbliebenen Juden aus. Als euphemistische Bezeichnung des Vorhabens wurde „Endlösung“ gewählt. Für diese systematische Vernichtung spielten die in der „Aktion Reinhardt“ errichteten Vernichtungslager im besetzten Polen eine essenzielle Rolle. Die zuvor in der Ukraine durchgeführten Massenerschießungen an Zivilisten hatten den Verantwortlichen deutlich gemacht, dass eine effizientere Tötungsmethode benötigt würde, um das nationalsozialistische Ziel eines „judenfreien“ Europas zu erreichen. Obwohl die unter dem Namen “Aktion T4“ durchgeführte Ermordung von Kranken und Menschen mit Behinderungen bereits 1941 in Folge öffentlicher Proteste zumindest offiziell für beendet erklärt wurde, hatte sich die dort angewandte Ermordung durch Gas als effektiv erwiesen. Es überrascht daher nicht, dass zahlreiche Funktionäre und Personal der „Aktion T4“ nach deren Ende an der „Aktion Reinhardt“ und der Umsetzung des Massenmordes beteiligt waren.

Das Ziel der „Aktion Reinhardt“, die zwischen März 1942 und Herbst 1943 umgesetzt werden sollte, war die Deportation der Juden, ihre Ermordung und die „Verwertung“ ihres Besitzes.

Zur Umsetzung dieses Vorhabens wurden drei Todeslager errichtet: Bełżec, Sobibór und Treblinka. Bełżec nahm im März 1942 den Betrieb auf, Treblinka folgte im Juli 1942. Sobibór war das zweite deutsche Vernichtungslager im Generalgouvernement und wurde ab Mai 1942 betrieben.

Die Tötungsorte Bełżec, Treblinka und Sobibór unterschieden sich von den zuvor errichteten Lagern, wie Auschwitz-Birkenau, das bereits im Juni 1940 in Betrieb genommen wurde. Während es in Auschwitz sowohl Gaskammern als auch ein Arbeitslager gab, wurden die drei Lager im Generalgouvernement allein mit der Intention errichtet, Juden zu ermorden – zunächst die Juden des Generalgouvernements, später auch die Deportierten aus den besetzen Gebieten der Sowjetunion und Westeuropas. In allen drei Lagern wurden die Opfer innerhalb weniger Stunden nach ihrer Ankunft mit Giftgas umgebracht.

Im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ wurden mehr als 1,5 Millionen Menschen ermordet. Etwa 40.000 Personen fielen der „Aktion Erntefest“ zum Opfer, einer Massenexekution, die am 3. und 4. November 1943 im Distrikt Lublin durchgeführt wurde.

Schätzungen zufolge ermordeten die Deutschen und ihre Kollaborateure in den Gaskammern von Sobibór circa 180.000 jüdische Frauen, Kinder und Männer. Die Opfer stammten vorwiegend aus den von den Deutschen besetzten Gebieten in Polen (90.000 Menschen), aus den Niederlanden (34.000), aus der Slowakei (24.000), aus Österreich und dem Dritten Reich (7.500), aus dem Protektorat Böhmen und Mähren (6.500), aus Frankreich (4.000) und dem Reichskommissariat Ostland (Minsk, 5.000).

Am 14. Oktober 1943 brachten in Sobibór einzelne Gruppen von Gefangenen neun SS-Offiziere um, und eine größere Gruppe unternahm einen Ausbruchsversuch. Ungefähr 300 Gefangenen gelang die Flucht; 58 von ihnen überlebten den Krieg. Nach dem Aufstand machten die Nationalsozialisten das Lager dem Erdboden gleich und forsteten das Gelände zur Vertuschung mit Kiefern auf. Jahrzehntelang war die Geschichte des Lagers kein Gegenstand der historischen Forschung. Erst 2000 mit den Ausgrabungen begonnen, bei denen kleine Gegenstände, wie dieser Anhänger, gefunden wurden.

Persönliche Geschichte

Trotz der zunehmenden Drohungen des Nazi-Regimes konnte es sich Familie Cohn aus Frankfurt am Main nicht leisten, zu fliehen. In den frühen 1930er Jahren lebten mehr als 30.000 Juden in Frankfurt am Main, die Stadt hatte somit die zweitgrößte jüdische Bevölkerung in Deutschland. Ab 1933, als Hitler Juden aus der deutschen Gesellschaft ausschloss, und die Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten immer weiter zunahmen, verschlechterte sich die Lage der im Dritten Reich lebenden Juden rapide. Jüdische Unternehmens- und Geschäftseigentümer wurden enteignet. Jüdische Schüler und Studenten wurden aus dem Unterricht ausgeschlossen, jüdische Beschäftigte aus dem Schul- und Universitätsbetrieb entfernt und Angestellte von ihren Arbeitgebern entlassen. Die anti-jüdischen Maßnahmen richteten sich nicht nur gegen Unternehmer und Geschäftsleute, sondern betrafen auch Wissenschaftler, Ärzte, Künstler und Beamte. Sie lösten eine finanzielle Krise in der gesamten jüdischen Bevölkerung aus, die infolgedessen zunehmend verarmte. Die meisten Betroffenen konnten nicht länger ihre frühere Tätigkeit ausüben und mussten sich fortan als ungelernte Arbeiter verdingen.

Die Familie Cohn aus Frankfurt am Main konnte sich eine Flucht aus Deutschland nicht leisten. Karolines Vater Richard war 1884 in Darmstadt geboren, ihre Mutter Else (geborene Eisemann) 1885 in Bad Orb. Karoline kam am 3. Juli 1929 zur Welt, ihre Schwester Gitta am 8. November 1932. Richard Cohn war auf Grund einer Verwundung im ersten Weltkrieg arbeitsunfähig. Ihm war eine bescheidene Pension gewährt worden, die jedoch von den Nationalsozialisten nach der Machtergreifung widerrufen wurde. Die Familie Cohn verdiente ihren Lebensunterhalt mit einem Buchladen, den sie jedoch auf Grund der Judenverfolgung und der daraus resultierenden wirtschaftlichen und finanziellen Not ihrer Kundschaft schließen musste.

Im Herbst 1941 fahndete die Gestapo mit der Unterstützung der SA und der Ordnungspolizei in einer groß angelegten Aktion nach den jüdischen Bewohnern der Stadt Frankfurt am Main. Diejenigen, die auf der Straße angetroffen wurden oder die man in ihren eigenen Wohnungen verhaftete, wurden zur Großmarkthalle im östlichen Teil der Stadt gebracht. Alle Festgenommenen wurden einer Durchsuchung unterzogen. Ebenso wurde ihr Hab und Gut durchsucht. Die Verhafteten mussten darüber hinaus ihr gesamtes Vermögen offenlegen und die Schlüssel zu ihren Wohnungen abgeben. Ihre Kennkarten wurden mit dem Stempel „evakuiert“ versehen. Nach Zahlung einer Gebühr von 50 Reichsmark wurden die Festgenommenen, die nunmehr als Staatsfeinde galten, in der Halle zusammengepfercht, wo sie auf ihre Deportation zu warten hatten.

Der erste Zug mit jüdischen Deportierten ging am 20. Oktober 1941 aus Frankfurt am Main in Richtung Łódź ab. Eine der Transportlisten des Zuges „Da 53“ vom 11. November führt die Namen von Richard, Else, Karoline und Gitta Cohn. Nach einer sechstägigen Reise unter entsetzlichen Umständen kamen mehr als 1.000 jüdische Deportierte in Minsk (Weißrussland) an. Das Schicksal der Familie Cohn im dortigen Ghetto ist unbekannt. Viele der Ghetto-Insassen wurden in Vernichtungslager abtransportiert oder gingen an den schrecklichen Lebensbedingungen und der Schwerstarbeit zugrunde. Der 2016 ausgegrabene Anhänger von Karoline Cohn legt nahe, dass sie mit einem der Frauen- und Kindertransporte nach Sobibór deportiert wurde, die während der Auflösung des Minsker Ghettos im September 1943 organisiert wurden.

Heute erinnert nicht nur der Anhänger, welcher Teil der Sammlungen des staatlichen Museums Majdanek ist, an Richard, Else, Karoline und Gitta Cohn, sondern auch vier Stolpersteine, die mit ihren Namen versehen sind. Sie befinden sich im Bürgersteig in der Nähe der Thomasiusstraße 10 in Frankfurt am Main – dem letzten Wohnort der Familie Cohn.

Dieser Beitrag ist Teil des Shared History Projektes vom Leo Baeck Institut New York I Berlin.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-ND 3.0 DE – Namensnennung-Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht.
Bild: Der Anhänger von Karolina Cohn. Shared History Projekt, Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de (Panstwowe Muzeum na Majdanku)