2022 wird die litauische Stadt Kaunas (jiddisch: Kóvne), gemeinsam mit dem luxemburgischen Esch-sur-Alzette, Kulturhauptstadt Europas. Während die globale Kulturindustrie mit Ausstellungen von William Kentridge, Marina Abramović oder Yoko Ono den Tourismus wieder zum Laufen bringen soll, bleibt der Umgang mit den Abgründen der litauischen Geschichte nahezu unberührt. Schrecklich, aber wahr: das heutige Kaunas ist die Stadt mit der größten Dichte von Erinnerungsstätten an lokale Holocaust-Kollaborateure auf diesem Planeten, so DefendingHistory.com.
Von Arndt Beck
Und weiter heißt es da: »Für die Stadt bietet sich nun eine echte Chance, sich mit ihrer historischen Stellung als Geburtsstätte des Holocaust in Litauen auseinanderzusetzen, wo in der Woche des 22. Juni 1941 Tausende jüdischen Bürger*innen von ›Nationalhelden‹ und verschiedenen nationalsozialistisch gesinnten Milizen ermordet wurden, bevor die Deutschen eintrafen oder die Kontrolle über die Stadt übernahmen. Vom abgeschlagenen Kopf des Rabbiners Zalmen Osovsky, dessen Torso über dem Talmudband lag, den er gerade studierte, über das Massaker bei der Lietūkis-Garage, bis hin zu den frühen barbarischen Gemetzeln im VII. Fort — das blutdurchtränkte Bild von Kaunas hat sich tief in die moderne europäische Geschichte eingeschrieben.«
In einem Augenzeugenbericht vom 24. Juni 1941 ist dieses Bild paradigmatisch überliefert:
»[…] In der Nähe meines ausgemachten Quartiers stellte ich am Nachmittag eine Menschenansammlung fest in einem nach drei Seiten umfriedeten Hof einer Tankstelle, der nach der Straße durch eine Menschenmauer abgeschlossen war. Dort fand ich folgendes Bild vor: In der linken Ecke des Hofes war eine Gruppe von Männern im Alter zwischen 30 und 50 Jahren. Es müßten etwa 45‒50 Personen gewesen sein, die von einigen Zivilisten zusammengetrieben und im Schach gehalten wurden. Die Zivilisten waren mit Gewehren bewaffnet und trugen Armbinden, wie sie auf den Bildern, die ich damals machte, abgebildet sind. Ein junger Mann, es muß sich um einen Litauer gehandelt haben […], mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, war mit einer eisernen Brechstange bewaffnet. Er zog jeweils einen Mann aus der Gruppe heraus, erschlug ihn mit der Brechstange durch einen oder mehrere Hiebe auf den Hinterkopf. Auf diese Weise hat er innerhalb einer dreiviertel Stunde die ganze Gruppe von 45‒50 Personen erschlagen. Von diesen Erschlagenen machte ich eine Reihe von Aufnahmen. […] Nachdem alle erschlagen waren, legte der Junge die Brechstange beiseite, holte sich eine Ziehharmonika, stellte sich auf den Berg der Leichen und spielte die litauische Nationalhymne. […] Das Verhalten der anwesenden Zivilpersonen (Frauen und Kinder) war unwahrscheinlich, denn nach jedem Erschlagenen fingen sie an zu klatschen, und bei Beginn des Spiels der Nationalhymne wurde gesungen und geklatscht. Es standen Frauen in der vordersten Reihe mit Kleinkindern auf den Armen, die den ganzen Vorgängen bis zum Ende beigewohnt haben.«[1]
Solche Totschläger gehen in Litauen als Nationalhelden durch, wenn sie nur auch tüchtig genug gegen die Sowjets gewütet haben. Erst gerade wurde einem der Mörder Osovskys, Juozas Lukša (Daumantas), in Vilnius ein Platz gewidmet. Doch es geht ja um Kaunas.
Greifen wir als erstbestes Beispiel etwa den Gründer der Litauischen Aktivistenfront (LAF) heraus, Kazys Škirpa. Dieser 1895 geborene litauische Offizier und Diplomat war 1939/40 litauischer Gesandter in Berlin und gründete ebenda die LAF mit dem Ziel, Litauen vom Sowjetsystem zu befreien, die litauischen Jüdinnen*Juden zu vertreiben und Litauen als unabhängigen faschistischen Nationalstaat zu etablieren. Škirpa und die LAF-Führung wurden wegen ihrer propagandistischen und ideologischen Unterstützung des deutschen Einmarschs in Litauen und wegen ihres Konzepts eines von Juden ›gesäuberten‹ Litauen als ›Kollaborateure vor der eigentlichen Kollaboration‹ bezeichnet. In Kaunas gibt es — neben einer Gedenkplakette und (s)einem postum errichteten Grab — auch eine nach im benannte Straße.
Ein Grab in Kaunas fand ebenfalls der Premierminister der von den Deutschen eingesetzten Marionettenregierung von 1941, Juozas Ambrazevičius (Brazaitis). 2012 wurden die Überreste des 1974 in den USA Gestorbenen nach Kaunas überführt und mit allem staatlichen Pomp in der Kirche ›Christi Auferstehung‹ erneut bestattet. Die Vytautas Magnus Universität widmet diesem Helfershelfer bei der Deportation der Kóvner Juden einen Vorlesungssaal und ehrt ihn zusätzlich mit einer Bronzetafel. Ebenso ist in Kaunas eine Straße nach im benannt.
Dies sind nur zwei Beispiele, die Liste ist viel länger.
Und um welche Art von Kultur wird es sich handeln, wenn am 16. Februar, dem Unabhängigkeitstag, wieder ein Neonazi-Aufmarsch durch das Stadtzentrum zieht? Darbietungen litauischer Folklore?
Im Scheinwerferlicht der europäischen Aufmerksamkeit wird vor allem eines klar: Kaunas braucht dringend eine Kultur der Veränderung.
Bild oben: Alter jüdischer Friedhof, Vilijampolė, Kaunas, (c) Vilensija / CC BY-SA 3.0
[1]Ernst Klee, Willi Dreßen, Volker Rieß (Hg.), »Schöne Zeiten« — Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt am Main 1988, S. 38f.