Mein Sommertag in Rothberg

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Ein Gespräch mit dem Pfarrer und Schriftsteller Dr.h.c. Eginald Schlattner

Von Christel Wollmann-Fiedler

Menschen aus dem Westen Europas und von Übersee, nicht nur deutschsprachige, machen sich auf den Weg, nein, pilgern geradezu ins siebenbürgische Rothberg/Rosia bei Hermannstadt/Sibiu zum Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner, zum alten Pfarrhof von 1762 und zu einer der ältesten Kirche inmitten der Karpaten, der romanischen Basilika aus dem Jahr 1225. Kein siebenbürgischer Schriftsteller, ob hier in Rumänien oder im Ausland, bekommt so viel literarischen Besuch, Ehre und Bewunderung. Nun, seine Bücher werden in vielen Auflagen produziert, in mehrere Sprachen übersetzt und sogar verfilmt.

Selbst Otto Schily, der damalige Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, lässt sich 2002 von Pfarrer Schlattner mit der Kutsche durch Rothberg fahren und besucht mit dem rumänischen Innenminister Ion Rus die archaische Kirche.

Kirchliche Gruppen, Privatleute, Touristen jedweder Art, Interessierte und Neugierige, Wanderer, Adelige und Menschenkinder aus Lehmhütten, in Pulks und einzeln, kommen die Dorfstraße entlang, werden vom Pfarrer und Dichter hereingebeten, und lassen sich die Historie seines Landes in Bausch und Bogen erklären. Er begrüßt wohlwollend den Fremden, den Weitgereisten, den Landsmann, wie auch den Nachbarn vom Hügel gegenüber oder unten vom Bach.

Er ist einer der letzten Deutschsprachigen im Dorf Rothberg, einer der drei letzten hiesigen Siebenbürger Sachsen. Auf einem eigenen Planeten lebt der Dichter und Weltbürger, abseits und doch mitten im Weltgeschehen.

Ich unterhalte mich mit Eginald Schlattner in Rothberg auf dem Pfarrhof von 1762.

Eginald Schlattner, Sie gehören zu den einhundert besten deutschsprachigen Autoren von 1999-2001. Ihre Bücher werden immer wieder aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt, sogar ins Japanische; drei Ihrer Bücher wurden verfilmt.

E.Sch. Wir müssen da manches klären! Der freundlichen Superlative sind es viele. Und Vieles stimmt.  

Zum Beispiel die Vielfalt und Vielheit der Besucher  unter der Kurzformel: „Der literarische Tourismus nach Rothberg!“ Als Ehre, bitte, wie Sie es anführen. Doch vor allem als Auftrag  an Pfarrer und Autor. Die Liturgie  solcher Besuche: Zuerst Kirche mit Andacht. Worte mit Wirkung nach Jahr und Tag.

Darauf Pfarrhof mit Kaffee und  Dialog zur Literatur, zur Biographie, zur Historie. Dank über nie mehr gehörte Ausdrücke: „Arschkappelmuster!“

Ferner! Ich bin   total erstaunt, aber es stimmt: Rote Handschuhe figuriert unter den 100 besten in deutscher Sprache geschriebenen Büchern auf drei Jahre. Ausgewählt von  Internationes und vom Goethe-Institut.

Übersetzungen in vielerlei Sprachen, darunter drei Kontinentalsprachen: Spanisch, Portugiesisch, und: Krönung –  russisch.

Weiter! Es liegen Dissertationen auf, es gibt Lizenzen  – von Berlin Humboldt bis Sorbonne, Paris… Und landesweit.

Die Medien nennen meine Bücher jenseits der Grenzen, ja sogar in  Amerika. Ein gewichtiger Kritiker befand: Die Romane haben die „Schallmauer“  von Siebenbürgen hin zur Literatur weltweit durchbrochen.

Wie auf einem Planeten leben Sie am Fuße der Südkarpaten mitten im heutigen Rumänien in einem kleinen Dorf neben der ältesten Kirche Siebenbürgens. Der Pfarrhof ist von 1762.

E.Sch. Nicht die älteste Kirche ist das, aber eine der ältesten Kirchen. Es gibt mehrerer sächsische Kirchen im Stile der Basilika zeitgleich: Michelsberg, auch Freck und Kerz, alle im „alten Land der Sieben Stühle“ auf „Königsboden“

Pfarrer der evangelisch-sächsischen Gemeinde in Rothberg waren Sie, Schriftsteller wurden Sie. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

E.Sch. Jeder Roman der sogenannten Trilogie Versunkene Gesichter hat seine eigene Ätiologie.

Der geköpfte Hahn, Paul Zsolnay, Wien, 1998, das erste Buch – es entstand aus Verzweiflung! Ja! Aus Verzweiflung. Ich war 1978, mit 45, als Pfarrer nach Rothberg gekommen. Und hatte mich für die Gemeinde zerfranst mit Hand und Herz; bitte, hineingekniet mit Leib und Seele. Und mit Gelingen. Dann passierte jäh dieses!

Zu Ostern 1990, im Jahr nach dem Sturz der Diktatur, waren unsere Kirchengläubigen noch alle hier vor Ort. Die Kirche platzte aus allen Nähten. Und dann, zu Weihnachten war es ärger als im Stall zu Bethlehem. Nur noch einige hartnäckige Bauern in den Bänken, die auf ihren Höfen sterben wollten. Und die murrenden Ehefrauen, die lieber mit dem Kindern und Enkelkindern weggezogen wären, „heim ins Reich!“ Wie in einer Kettenreaktion   hatte sich alles hin aufgemacht.

Zur Vorgeschichte! Im Dezember 1989 hat sich Rumänien durch eine blutige Revolution von der kommunistischen Gewaltherrschaft befreit: 1000 Tote. Kein Täter. Etwa 6000 Angeschossene. Kein Schütze. Doch als nach jenen  heißen Tagen der Eiserne Vorhang geschmolzen war, gab es für die Siebenbürger Sachsen – und die Banater Schwaben -, die sogenannten Rumäniendeutschen, kein Halten mehr: „Alles rennet, rettet, flüchtet“.

Nach genau 850 Jahren haben sich unsere Leute sang- und klanglos aus der Geschichte verabschiedet, in einem Sommer.

Freiwilliger Heimatverlust. Rumänien hat uns nicht vertrieben, weder 1945, noch 1990. Wir hätten weitere 1000 Jahre hier, mit den anderen achtzehn ethnischen Völkerschaften, unsere Identität als Volksgemeinschaft leben können, schiedlich – friedlich. Die ersten Einwanderer kamen unter dem Namen Flandrenses 1140 nach Siebenbürgen, gerufen von ungarischen Königen.  

Sie sind gegangen. Einer hat den anderen mitgezogen. Was 850 Jahre unsere Stärke war, wurde zum Verhängnis. Jeder hat das getan, was alle gemacht haben! Nun eben: Weg!

Gewiss, es war genug! Als Fremde in diesen Gefilden ansässig zu sein, dauernd bedroht an Haus  und Hof,  Grund und Boden, auf uns gestellt in allem, das Mutterland unzugänglich ferne, wir hier knapp beschirmt aus eigener Kraft,  in den  Gemeinden von Kirchenburgen, in den Städten von Wehrmauern und  Basteien.

Sie waren dann letztendlich alleine hier und haben, wie Sie sagen, aus Verzweiflung angefangen zu schreiben.

E.Sch. Genau, aus Verzweiflung! Das gilt für das erste Buch:  Der geköpfte Hahn.

Wie das? Es kam Advent und man hätte jetzt diese paar versprengten Menschen in der entleerten Kirche vom Licht erzählen müssen, das über uns aufgegangen ist durch das Kommen des Heilandes. Geschmacklos, taktlos schien mir zu Recht solches, wo es finster geworden war in den verrammelten Häuern und verstörten Gemütern. Wo alles hoffnungslos düsterer geworden war als je zuvor. Und so habe ich in der Predigt erzählt, wie man in den vierziger Jahren in sächsisch- bürgerlichen Familien Weihnachten gefeiert hat. Das hatte damals viel zu tun mit der weihevollen Nacht. Aber kaum etwas mit Christus. Aus dem ist dann eine Erzählung geworden von 60 Seiten: Sonntag in Violett. Das Skript gelangte beim S. Fischer Verlag auf den Schreibtisch von Cheflektor Uwe Wittstock. Der mich wissen ließ, durch eine doppelte Negation, dass ihm der Text, nicht missfallen habe. Und nachfragte: Wo der Roman?

Keiner!

Ich setzte mich hin – obschon als Pfarrer mit drei Kirchengemeinden in Auflösung befasst -und schrieb den Roman, über 500 Seiten: „Der geköpfte Hahn“. Doch der Roman war dem Herrn zu verquer, zu antiquiert, die Sprache vergilbt, das Ganze zu umständlich.

Das Manuskript gelangte ohne mein Wissen durch den Diplomaten Dr. Dietmar Fellner zum Paul Zsolnay Verlag, Wien (das ist das  österreichische Pendant zu S. Fischer). Aus der Bücherei meiner Eltern wusste ich, „Paul Zsolnay“, das heißt Weltliteratur. Es ist eine Auszeichnung für mich, dass ich diesem erlesenen Hause angehöre. Der Verlag selbst ist nicht im Schaden geblieben. Mit dtv (Lizenz München) gibt es allein vom HAHN über 12 Auflagen. Das Buch ist verfilmt worden und in mehrere Sprachen übersetzt.

Ihre Jugend verbrachten Sie in Fogarasch, das ist auch der Inhalt des ersten Buches. Die Stadt mit der Wasserburg. Erinnern Sie sich, wie viele jüdische Seelen die Stadt in den 1930er Jahren hatte?

E.Sch. Das weiß ich nicht. Aber es gab zwischen den sogenannten Nationalitäten, so hießen wir ja, „Minderheiten“ kam erst später auf, ein statistisches Gleichgewicht, glaube ich. Ungefähr 800 evangelische Sachsen, 800 Juden. Nach dem Friedhof kann man das abmessen. Und mehr als doppelt so viele Ungarn, vorwiegend katholisch und reformiert. Rumänen waren natürlich überwiegend mehr. Trotzdem gab es ein osmotisches Miteinander in der Stadt. In der Generation meiner Eltern beherrschte jedermann die drei Landessprachen: Rumänisch, Ungarisch und Deutsch. Über die Kenntnis dieser Sprachen ergab sich ein stetiges Hin und Her, auf der Straße, am Badestrand, im Gasthaus, bei der Römmirunde, in der Synagoge oder in der katholischen Kirche. Man wechselte die Sprachen fließend. Und jeder war in der Sprache des anderen zuhause.

Sagten Sie Römmi?

E.Sch. Wir sagten Römmi, geschrieben Rummy, Sie sagen Rommee.

Ihren ersten Roman „Der geköpfte Hahn“ habe ich verschlungen, bevor ich zum ersten Mal nach Siebenbürgen kam, den Film dazu mit Begeisterung gesehen. Sie erzählen in diesem Buch über die Liebe eines evangelisch siebenbürgischen Schülers zu einem jüdischen Mädchen. Felix, der Hitlerjunge, wird hin- und hergerissen zwischen Gisela und der HJ und wird als „Judenfreund“, ja „Volksverräter“ betitelt, was damals für ihn gar nicht gut ist. Wie kamen Sie zu dieser Begebenheit?

E.Sch. Durch die frühe Erfahrung an historischer Bruchstelle!

Tatsächlich gab es zur Zeit der Volksgruppe, ich bereits „Jungvolkjunge“, eine kindliche, doch, bitte: seriöse Verliebtheit zwischen einem jüdischen Mädchen in Fogarasch und mir.

Das greife ich im Roman auf.

Die Handlung im HAHN spielt just an dem Tag im Sommer 1944, als Rumänien die Fronten gewechselt hat. Zum politischen Geschehen. Verkürzt geschah folgendes: Am Morgen kämpfte das Königreich Rumänien mit den Deutschen gegen die Russen. Am Abend mit den Sowjets gegen das Deutsche Reich.

Damals war ich erst elf. Doch in diesem Buch sollte die echte Liebe eine „wahre“ Rolle spielen. Somit habe ich uns im Sinne literarischer Lizenzen älter sein lassen, so 14, 15.

Daraus ergab sich im Nachhinein das große Durcheinander. Weil ich nicht bedacht hatte, ich könnte noch weitere Familien-Romane schreiben. Noch schlimmer: Blöderweise habe ich noch einen älteren Bruder erfunden, Engelbert. Tatsächlich bin ich der Älteste. Doch wollte ich meinem Bruder Kurtfelix suggerieren, bis heute unzufrieden mit seinem Status, dass ich mich sehr wohl in die schwierige Lage des Zweitgeborenen hineinversetzen kann. Wenn man nachrechnet, hätte meine Mutter elf Jahre alt sein müssen, als sie ihren ältesten Sohn Engelbert geboren hat.

Doch Kernstück der Handlung bleibt, unbesehen von den Altersverrenkungen, dass wir – selbst nach meiner Vereidigung auf den Führer – trotz Braunhemd, Heimabenden, Kampfgetümmel mit jüdischen Kindern weiter Vater und Mutter gespielt haben. Bis man mir draufgekommen ist und solche „Rassenschande“ geahndet werden musste. Ich erinnere mich genau – gewiss, ich war elf Jahre alt, nicht vierzehn -, dass mich der Hordenführer nach einer Kampfübung scharf hergenommen hatte, ja bestraft hatte durch eine gefährliche Fassadenkletterei. Und mir verboten hatte, mit den jüdischen Kindern „mich gemein zu machen!“ Am nächsten Tag sprachen mich die jüdischen Spielgefährten auf die Vorkommnisse an. Sie wussten Bescheid. Ich schämte mich. Das war die Keimzelle zu einer komplizierten Kinderliebe, als Tatsache, als Text. Verfilmt übrigens durch den großen Meister Radu Gabrea mit einer fabelhaften polnischen Schauspielerin Alicja Bachleda aus Hollywood als das jüdische Mädchen Gisela. Mit all den brenzligen Spannungen, wie eine solche Beziehung es für einen Hitlerjungen mit sich bringt.

Die Siebenbürger Sachsen waren ja Deutscher als die Deutschen.

E.Sch. So nannte uns Opitz: Die Germanissimi Germanorum. Doch waren wir keine aggressiven Deutschen. Keine der Völkerschaften in Siebenbürgen fürchtete sich vor einem Sachsen.

Wie ging die Geschichte mit der jüdischen Familie von Gisela weiter und was für ein Ende nahm sie?

E.Sch. Wie Sie, Frau Christel, gemerkt haben werden: In allen meinen Romanen gehe ich diesem, diesem … Unheil jüdischen Schicksals nach. Fassungslos, entsetzt, entgeistert – und das immer mehr. Sie wissen es, wie das Unfassbare mit dem jüdischen Los in jedem meiner Bücher präsent ist, narrativ gefächert in Wort und Bild. Und dennoch diffus. Weil nicht einmal über das Relais von Ausdrücken wie Infernalisch, Diabolisch, Bestialisch es zu greifen ist, begreifbar wird. Worte versagen den Dienst.

Nur mehr im Ungefähren, gerefft, zu dem massenhaften Unheil des Judentums im Königreich Rumänien. Eichmann, heißt es, reiste von Budapest nach Bukarest, um mit deutscher Gründlichkeit die rumänischen Juden, viele Hunderttausende, zu liquidieren. Sogar die Zahl der Viehwaggons hatte er berechnet, die die Opfer in den deutsch besetzten sogenannten Warthegau bringen sollten. Wobei der Diktator Marschall Antonescu den Todesemissär abblitzen ließ, wegschickte: „Mit meinen Juden mache ich, was ich will.“ Ion Antonescu: Übrigens kein Gefreiter, sondern ein hohes Militär französischer Schulung.

Doch über „seine Juden“ hat der Diktator Entsetzliches verfügt. Und noch mehr entsetzenserregend war, was die Legionäre der Eisernen Garde mit diesen Menschen getrieben haben, als sie diese zu Tode brachten. Die deutschen Gaskammern erscheinen wie philantropische Einbauten, weniger schmerzhaft als eine Guillotine. So hörte ich es einige Male unter den Übriggebliebenen bei Pessach in Hermannstadt, wo ich eingeladen wurde.

In Auschwitz gibt es eine riesige Schautafel, wo strahlenförmig Linien gezogen sind, von wo aus überall europäische Juden nach Auschwitz deportiert wurden. Sogar von Malta kamen sie, habe ich mir gemerkt. Aber zwischen Bukarest und Auschwitz gibt es keine Striche.

Trotzdem: Die raffinierte Art und Weise, wie hier Juden vernichtet wurden, ist weidlich ausgeklügelt gewesen. Die bessarabischen und bukowiner Juden wurden in den Lagern in Transnistrien zugrunde gerichtet, indem man sie verhungern und erfrieren ließ. Die Mutter von Paul Celan. Andere hat man zu Hunderten in Viehwaggons gesteckt und sie im höllischen Hochsommer ohne Wasser durch die sarmatische Ebene, zwischen Bukarest und Craiova, hin- und hergefahren. Als die Türen geöffnet wurden, sind sie mit geschwollenen Zungen herausgefallen, als erstes Kinder.

Wogegen die Juden im Banat, in Siebenbürgen eher am Leben geblieben sind. Im „Tagebuch der Glückseligkeit“ von Nicolae Steinhardt sagte ihm der Vater: „Sei froh, dass du nur Schnee schippen musst und nicht in Stalingrad erfrierst oder an der Front erschossen wirst.“

Und noch etwas sei geklärt zu Siebenbürgen! Genauer: Was angeführt wird, betrifft die rumänischen Juden in Südsiebenbürgen. Das sollte angemerkt werden. Nach dem sog. Wiener Schiedsspruch 1940 – die Rumänen sprechen vom „dictatul dela Viena“ – ist ein  Teil Siebenbürgens, Transsilvanien wieder zu Ungarn gekommen. Klausenburg, Szeklerland, Bistritz Großwardein gehörten neuerlich zu Reichsungarn. Nach Auschwitz wurden jedoch Juden allein aus Ungarn deportiert. Eli Wiesel kam aus Marmaros Szighet, damals Ungarn, seit 1945 Rumänien.

Entsetzliches geschah mit der Bukarester jüdischen Bevölkerung während der Rebellion Januar 1941 der Grünhemden, der Legionäre von der Eisernen Garde, der rumänischen Faschisten. Während des Aufstandes gegen den Diktator Antonescu, er war ihnen nicht „grün“ genug, haben sie unter diesen wehrlosen Geschöpfen gnadenlos gewütet.

Meines Erachtens ist Faschismus allein an dem Punkt identisch mit sich selbst und mit anderen Bewegungen, wenn es darum geht: Wer nicht so ist, wie wir, der muss vernichtet werden. Es geht allenthalben um mörderische Exklusivität. Aber was das tyrannische Ideal der Gemeinsamkeit ausmacht, ist jeweils verschieden.

Der rumänische Faschismus war religiös gefärbt, stark konfessionell geprägt, orthodox. Nur wer orthodox ist, rechtgläubig, ist ein echter Rumäne. Sie nannten sich bewusst   die Legion des Erzengels Michael. Anders der italienische Faschismus. Und noch schlimmer anders der Nationalsozialismus Hitlers.

Doch bei allen Versionen gehört zum tödlichen Feindbild der jüdische Mensch. Eingefleischt war den Legionären, dass die Juden ausgerottet werden müssen mit Stumpf und Stiel. Nur über das Wie waren sie sich mit den Nazis uneinig. In Bukarest haben die Grünhemden diese Menschen im Schlachthaus zusammengetrieben und an den Stahlhaken lebendig aufgehängt. Väter sind irrsinnig geworden, als sie zusehen mussten, wie ihre Töchter sich zu Tode quälten. Die Frau vom Vorsteher  der letzten Judengemeinschaft in Hermannstadt,  hat mir gesagt, sie ist Ärztin,  es wäre ihr lieber gewesen, wenn ihr Vater  in einer Gaskammer in zwei Minuten tot gewesen wäre, als sich zu Tode zu winden an einem Stahlhaken, gewissermaßen gekreuzigt. Je älter ich werde, desto entsetzter bin ich über die sechs Millionen Juden, die ermordet wurden. Einer ist zu viel! Jemanden umbringen, weil er in der falschen Wiege gelegen ist. Ob das Ruanda heißt, oder Sinti und Roma gemeint sind, oder es die edlen Indianer bei  Karl May sind, ich ertrage es nicht mehr.

Mit unserer Tochter Sabine Maya, die in Krakau lebt, war ich in Ausschwitz. Kein Gebet kam mir über die Lippen. Wegen der Millionen  unerhörter Gebete. Die einzige Frage für mich bleibt: Wie wird Gott mit Auschwitz fertig???

Wir Menschen nicht.

Haben Sie als Schüler in Fogarasch, selbst wenn sie damals noch jünger waren, jüdische Klassenkameraden gehabt?

E.Sch. Wir hatten einige Juden in unseren evangelischen Schulen. Die mussten 1943 weg, nachdem es der Deutschen Volksgruppe gelungen war, die Schulen unter Ihre Botmäßigkeit zu bringen. Die Volksgruppe war eine Nazi-Einrichtung als Ideologie und Organisation, gesteuert von Berlin. Diese „Fremdherrschaft“ dauerte ein Jahr. In dem fatalen Jahr1943/44  erhielten  wir die Lehrpläne aus Berlin. Und 10 (zehn) war nicht mehr die beste Note wie in ganz Rumänien, sondern „ausgezeichnet“, „a“ wie im „Reich!“ Nachdem die Russen im Sommer 1944 gekommen waren, hat Bukarest die Schulen der Kirche zurückgegeben. Noch war der König im Land; vier Jahre waren wir ein kommunistisches Königreich. Ab 1948 Volksrepublik. Alle Privatschulen wurden verstaatlicht.

Sie haben gerade erzählt, dass Sie damals auch jüdische Mitschüler hatten, die 1943 nicht mehr in die Schule kommen durften.

E.Sch. Die Volksgruppe hat alle Klassen jüdisch bereinigt. Die meisten Kinder sind dann in ungarisch sprachige Schulen ausgewichen. Oder in die rumänischen Staatsschulen gegangen.

Die rumänischen Kinder konnten bei uns bleiben, weil arisch. Sie mussten Schulgeld zahlen und erhielten Religionsunterricht in ihren Kirchen. Bei unseren Heimabenden und den Kampfspielen und anderen DJ- oder BDM- Veranstaltungen durften sie nicht dabei sein.

Haben Sie im Straßenbild in Fogarasch erlebt, dass es Schikanen gegen jüdische Bürger gab?

E.Sch. Ich kann mich nicht erinnern, je etwas gesehen oder gehört zu haben! Wir Knaben wussten ja nicht einmal genau, wer das waren, die Juden. Grüßten alle mit „Heil Hitler!“ Ich weiß, dass mein Vater als Geschäftsmann sich geweigert hat auf Anordnung der Ortsgruppe, Tafeln in die Auslage zu hängen mit der Aufschrift: „Juden werden nicht bedient“ oder „Jüdische Käufer unerwünscht“. Als selbstverständlich wurde vorausgesetzt, dass die Juden deutsch sprachen. Der Vater: Wie er sich in allem zurückhielt. Nicht zuletzt, was die Deutschtümelei betrifft. Mich wollte er abhalten, in der braunen Kluft zu den Übungen der Horde zu marschieren. Verwies auf die kleidsame Tiroler Tracht. Mir standen die gescheitelten Haare zu Berge bei solchem Ansinnen

Voraussetzung war die deutsche Sprache!

E.Sch. Eben. Das wurde fraglos angenommen. Sonst hätten sie die Tafeln nicht lesen können.

Andererseits empören sich meine ausgewanderten Landsleute, wenn sie das mit den antijüdischen Tafeln in meinen Büchern lesen oder wenn das bei Leseabenden zur Sprache kommt.

Ich weiß noch: Bei der Aussprache nach einer Lesung in Heidelberg fuhr man mich an: „Sie übertreiben wieder einmal, Herr Pfarrer, das hat es bei uns nicht gegeben. Wir haben immer bestens mit den anderen Völkern zusammengelebt.

Zitiert wird zu RECHT das Siebenbürgerlied, dessen Aussagen gültig blieben über Jahrhunderte:

„Siebenbürgen, süße Heimat
unser teures Vaterland!
Sei gegrüßt in deiner Schöne
und um alle deine Söhne
schlinge sich der Eintracht Band!“

Gültig bis zu dem „Traditionsbruch“ der dreißiger Jahre. Wo unsere Leute plötzlich groß Deutsche sein wollten. Ja, noch mehr: Großdeutsche. Diese Selbstpreisgabe, dieser Treuebruch bewährter und bewahrter Lebensweisen, ja von geeichter kollektiver Lebensweisheit, hat das Ende unserer Geschichte besiegelt, 

Bitte: Nicht aus den Fingern gesogen, das: „Juden unerwünscht!“

Genau erinnerte ich mich, und sagte es bei der Lesung in Heidelberg, dass in Kronstadt diese Tafeln gut sichtbar ausgehängt waren in der Portengasse, wo ein sächsisches Geschäft dem anderen die Hand reichte.

Mitten in der Diskussion, ich einer gegen die vielen, meldete sich ein Zuhörer zu Wort. Und hat das Gesagte vor dem sächsischen Auditorium bestätigt mit einem Beispiel von noch schlimmeren Format.  

Unten in Bartholomae, bei der Ausfahrt ins Burzenland, hatten die Jungmannen der Volksgruppe ein Strandbad aus dem Felsen gehauen, gespeist von einer starken Quelle. Beim Eingang war zu lesen: „Hunden und Juden ist der Eintritt verboten!“ Und nun als Letztes, was ich in meinen Büchern wiederholt erwähne:

In Fogarasch ist unsere Mutter von der Ortsgruppenleitung verwarnt worden, weil sie sich auf der Burgpromenade mit der jüdischen Frau Dr. Hirschorn über Marmeladerezepte unterhalten hatte. „Ein Schandmal!“ Und beim Tschinakelfahren im Burggraben die Barcarole von Jacques Offenbach gesungen hatte, „diese jüdische Schnulze!“

Keine der Ethnien war statistisch so stark, dass sie sich hätte gegen die anderen durchsetzen oder abgrenzen können. Abgesehen, es überhaupt hätte wollen. 

Gewiss, in unseren Kreisen zirkulierten Judenwitze, aber zum Lachen, nicht zum Gelächter. Unser Onkel Franz hatte ein Buch: Total meschugge. An mehr Jüdisches erinnere ich mich nicht.

Nun also: Er war Mitglied der DM, der Deutschen Mannschaft der Volksgruppe, schwarze Uniform, schwarze Stiefel. Aber wenn die Männer zu Kampfübungen ausrückten, waren es dem Anschein nach gesellige Ausflügler. Erst in den verfilzten Wäldern am Kreuzberg kleideten sie sich militärisch ein, Und sangen und siegten im Geheimen.

Trotzdem wurde der Onkel einige Tage nach dem Abrücken der Deutschen Truppen ausgehoben und als militanter Nazi nach Caracal ins Konzentrationslager geschafft. Wo die Strohsäcke noch feucht waren von den illegalen Kommunisten, die man prompt entlassen hatte, als die Russen herbeimarschiert kamen.

E.Sch. Noch ein Zusatz, ohne dass Sie es erfragt haben.

Judith Gisela bin ich begegnet. Ich Pfarrer, sie Israelin. Virtuell wird diese Begegnung im letzten Roman geschildert unter dem Arbeitstitel: Totengeleit verliebter Mädchen (bereits im Lektorat beim Traian POP Verlag). Denkbar: Schattenspiele verschwiegener Mädchen

Bezeichnender Weise kam sie herbei aus Be’er Scheva, בְּאֵר שֶׁבַע, dem Brunnen des Schwurs in der Negevwüste. Wohin sie mich mitlotsen wollte, damit ich als Hydrologe auf der Suche nach verhohlenen Wasserquellen fündig werde.

Kurze Vita

Norbert Eginald F. Schlattner. Siebenbürger Sachse. Rumänischer Staatsbürger. 1933 in Arad geboren. Frühe Kindheit im Szeklerland. Dort ungarisch gelernt. Kindheit und Jugend in Fogarasch, „die kleine Stadt“- bevorzugter Ort der drei Romane. Matura 1952, Deutsches Lyzeum Stalinstadt, heute Kronstadt/Braşov. Danach zwei Semester evangelische Theologie Klausenburg/Cluj Napoca, ausgeschlossen wegen Unbotmäßigkeit. Ebendort neun Semester Hydrologie.1957, vor der Staatsprüfung verhaftet. Zwei Jahre Zellenhaft Securitate/Stalinstadt. Wegen „Nichtanzeigen von Landesverrat“ verurteilt zu Zuchthaus.                                                                              

Nach der Entlassung Neujahr 1960 Ziegelbrenner, Fogarasch, verfügt von der PARTEI. Später Bautechniker Staatsfarm Banat. Dann Gleisbau Westkarpaten, zuletzt technischer Zeichner Maschinenbauwerk Marşa /Avrig, Fabrik.

1969 Staatsprüfung, danach Ingenieur dortselbst. Zwischen 1973 und 1978 neuerlich Studium der Theologie. Von dann an Pfarrer in Rothberg/Roşia. Seit 1991 und bis heute Gefängnispfarrer landesweit.                           

Verheiratet mit Susanna Dorothea Ohnweiler. Verwitwet. Eine Tochter, Sabine Maya, Oberstudienrätin München.

Zwischen 1998 und 2005 erschienen im Verlag Paul Zsolnay, Wien die Romane: Der geköpfte Hahn; Rote Handschuhe (gehört zu den 100 besten Büchern in deutscher Sprache 1999-2001), Das Klavier im Nebel. Lizenznehmer Deutscher Taschenbuchverlag (dtv) München. Alle Romane bilden Filmvorlagen. Übersetzungen in mehrere Sprachen, drei Kontentalsprachen:  spanisch und portugiesisch, Krönung: RUSSISCH. Im Feuilleton überregional, Dissertationen, Diplomarbeiten über die Romane, Humboldt, Sorbonne. Noch nicht tot, bereits In fünf deutschen Schulbüchern Rumäniens als Fachlektüre. Zwei Erzählbände 2012: Mein Nachbar, der König, verlassene Geschichten. Und: ODEM, beide Schiller Verlag Hermannstadt/Bonn.

2018 POP Verlag, Ludwigsburg: Wasserzeichen, ersonnene Chronik. II. Auflage. Ebenda: Gott weiß mich hier (aus dem Rumänischen übersetzt: Dumnezeul ma stie aici).

Zwei kleinere Romane demnächst POP Verlag: Drachenköpfe, Schattenspiele verschwiegener Mädchen.

Lebe seit 43 Jahren auf dem Pfarrhof in Rothberg/Siebenbürgen.