Der Zaddik vom Dorfe

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Schalom Asch, 1940, Foto: Al Aumuller, World-Telegram staff photographer - Library of Congress Prints and Photographs Division, New York World-Telegram and the Sun Newspaper Photograph Collection.

Eine Geschichte zu Rosch haSchana

Die vorliegende Geschichte stammt aus der Feder des 1880 in Kutno geborenen Schriftstellers Schalom Asch, der zu den bedeutendsten jiddischen Schriftstellern gehörte. Asch wurde traditionell jüdisch erzogen, zog im Jahr 1899 nach Warschau und begann dort als Schriftsteller in hebräisch und jiddisch zu arbeiten. Nach einem Aufenthalt in die USA und der Rückkehr nach Russland, verbrachte Asch die Zeit des Ersten Weltkriegs in New York, wo er für jüdische Zeitschriften arbeitete und seine Theaterstücke erfolgreich aufgenommen wurden. 1923 kehrte er nach Polen zurück, musste jedoch 1938 erneut in die USA emigrieren. 1956 zog er nach Bat Jam nahe Tel Aviv. Schalom Asch starb am 10. Juli 1957 in London. Die hier wiedergegebene, aus dem jiddischen übersetzte Geschichte erschien 1903 in der Zeitschrift Ost und West, die sich als „Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum“ verstand und im Kontext der „Jüdischen Renaissance“ dem westjüdischen Publikum die kulturellen Leistungen der sog. „Ostjuden“ vorstellte.

Der Zaddik vom Dorfe

Eine Volkslegende von Schalom Asch.
(Seinem Freunde Abraham Neumann gewidmet.)

Erschienen in: Ost und West, Heft 1, Januar 1903

In tauglitzerndem Grase liegt er versteckt und hütet die Schäfchen, die ihm sein Vater anvertraut.

Man nennt ihn Jaschek. Wie er mit seinem jüdischen Namen heisst, weiss er allein nicht mal, denn er ist noch niemals zur Thora aufgerufen worden.

Alle aber wissen es, dass er ein Bauer, ein „grober“, ungeschlachter Mensch ist. Sein Vater Jizchok Milchiker hat ihn überhaupt schon aufgegeben. Er hat nicht einmal mehr die Hoffnung, dass der Junge nach ihm Kaddisch sagen werde. Dennoch lässt er, um seine Pflicht zu thun, einen Melammed aus der Stadt kommen.

Der Lehrer arbeitet mit dem Jungen mit aller Kraft. Hundert Mal und tausend Mal muss er jedes Wort wiederholen. Aber Jaschek hört sich das alles vergnügt und mit grösster Gemütsruhe an, als ob es ihn überhaupt nicht anginge.

„Werd’ mal einer fertig mit so einem harten Schädel!“ wettert der Melammed und schüttelt seinen Kopf. Und die Mutter sieht auf ihr Söhnchen und stöhnt. Einem Siddur wagt man ihm schon gar nicht in die Hand zu geben. Und dawnen (beten)!… Er — Jaschek! — soll dawnen? Was hat er mit Gott zu thun? Das wäre ja geradezu eine Gotteslästerung, wenn er das Sch’ma sagte.

Und doch erkennt Jaschek Gott auf seine Weise. Und sein Herz empfindet Gott. Überall und überall, wohin sein Auge blickt, dort sieht er Gott. Wo im Stillen das Bächlein rauscht und dem ruhigen, grünen Berge Geheimnisse zuflüstert, da sieht er Gott. Und wenn er in weiter Feme die dunklen, traurigen Wolken am Himmel vorüberwallen sieht, fühlt er ein geheimnisvolles Regen in seinem Herzen, ein geheimnisvolles Wünschen, ein seltsames Bangen. Wonach? . . .

Wenn am Himmel ein Gewitter heraufzieht und es donnert und blitzt, wenn der Regen niederströmt und ein schwerer Nebel das Dorf umhüllt, fühlt er Gottes Nähe, oder als sie ein ander Mal unter der Schneidemaschine den alten Matschke hervorholten, von dessen zerhackten Füssen das Blut herabrann, da, auch da empfand er Gott.

Manchmal denkt er: nicht im Himmel wohnt Gott. Nicht zum Himmel muss man den Kopf emporheben, will man Gott sehen. Nein, Gott wohnt irgendwo weit, weit in einer grossen Stadt. Vielleicht gar dort, wo der Gutsherr wohnt und wo die grossen und feinen Herren wohnen. Aber all die feinen Gutsherren und die grossen Leute sind nichts weiter als Gottes Knechte, ebenso wie Stach und Woitek bei seinem Dorfherm nur Knechte sind.

Aber was hat er, Jaschek, mit Gott zu schaffen? Er könnte doch nicht einmal ein Hirte bei Gott sein. Denn ein Hirt bei Gott, denkt er, müsste auch schon ein grosser Herr, ein Magnate sein. Vielleicht ist sogar sein Gutsherr nicht einmal Kutscher bei Gottes Pferd. Darf sich da Jaschek hervorwagen?

Nur zuweilen, wenn der Himmel rein ist und klar und verträumt daliegt in einem blauen, wallenden und fliessenden Schleier, wenn die Gräser unten friedlich wachsen und wurzeln und still zum Himmel emporschauen, und wenn dort geradeüber der alte Wald träumend dasteht, der grüne Ahne des Dorfes, und dort weiter sich der Weg zwischen den Wiesen schlängelt — ein Bauer fährt und ein Jude geht irgendwohin .. weit, weit — und hoch oben sich der Himmel in weiter Ferne dehnt und dann niedriger und niedriger fällt, bis er sich ganz auf die Erde herabsenkt, und er, Jaschek, auf der Schwelle des Speichers sitzt und guckt und starrt: dann denkt er bei sich: Gott hat sich einmal frei gemacht von den grossen und stolzen und feinen Herren und ist allein einhergekommen übers Feld, hat sich’s bequem gemacht und liegt nun da und wartet . . .

Und Jaschek drängt es, Gott zu loben und zu danken für all die Schönheit rings-.. ringsumher. Und manchmal möchte er wandern und wandern so weit bis zu der grossen Stadt, wo Gott wohnt und wo sein Palast steht. Will dann zu ihm gehen und seine liebe, liebe Hand küssen. . .

Aber ihn quält ein Gedanke. Wird man mich denn vorlassen? Man wird mich zu Gottes Palast nicht zulassen, sinnt er. Denn dort stehen die Schweizer, hohe Gestalten mit blauen Bändern, gelben Stulpstiefeln und roten Fräcken (so wie er sie bei den Dorfherren gesehen hat, die zu seinem Gutsherrn zu Besuch gekommen waren), und sie werden ihn fortjagen. Aber bald überlegt er sich: Wozu wandern? Ist doch Gott auf dem freien Feld, und die Schweizer behüten einen leeren Palast, in dem Gott nicht ist . . .

* * *

„El melech neemon“, drillt der Rebbe in ihn hinein, und Jaschek denkt bei sich: El melech neemon ist so ein Spruch, den man hersagen muss, um von den Schweizern in Gottes Palast eingelassen zu werden ….

Indessen er hat ein Gebet andrer Art für Gott. Ein Gebet ohne Worte. Ein Gebet, das in seinem Herzen wächst, seine Seele ausfüllt und schwellt und das aus ihm herausströmt im . . . Pfeifen.

Will er beten, dann legt er zwei Finger in seinen Mund, spitzt die Lippen und bläst tüchtig zu; und sein Gebet schallt durch den Wald.

Und Gott versteht ihn wohl. Ihn und sein Gebet.

Aber Jaschek pfeift nur dann, wenn er fühlt, dass er pfeifen muss. . . . Und Gott — sinnt er — liegt irgendwo auf freiem, duftendem Felde und lauscht seinem Pfeifen mit Behagen und hat seine Freude an dem Pfeifen.

Und nicht er allein pfeift. Alle — das weiss er — pfeifen. Wenn Nassik, der Dorfhund, plötzlich zu knurren anfängt, mit seinem Schwanz wedelt, zum Himmel aufsieht und bellt, sagt Jaschek: Nassik dawnet. Wenn die weisse Kuh vom Felde Abends heimkommt mit langgezogenem, traurigem Muh, denkt er, sie dawnet. Der „Bolan“ dawnet auf andere Weise; er tollt umher, stellt sich auf die Hinterfüsse, richtet den Kopf hoch und macht Brr. . . Brr. — Alle dawnen, sogar die Frösche im Wasser: Quak, quak! Einer nachdem anderen…

* * *

Jaschek ist dreizehn Jahre alt geworden. Es ist vor dem Neujahrsfest; und er kann immer noch nicht das Sch’ma sagen, obwohl der Rebbe nichts weiter in ihn hineinzutrichtern sucht: nur das Sch’ma, damit man ihn in die Stadt mitnehmen könne.

Denn einen neuen Zwillich-Anzug hatte Jaschek schon bekommen, ein Paar Stiefel und eine neue Mütze. Alles zu den Feiertagen. Nun soll er aber auch das Sch’ma beten können.

…. Die Synagoge ist voll Andächtiger. Klein und Gross, alle weiss gekleidet, mit dem langen Gebetmantel. Alle stehen und schütteln sich und schreien und rufen lauter und lauter. Um den Omed, auf dem die sieben Wachslichter brennen, steht der Vorbeter mit den Sängern. Langgezogene, thränen-erfüllte Töne, von abgerissenen, halben, leiderstickten Klagen durchsickert, hört man: das schwere Gebet des Rabbi Amnon „Un’ssane taukef“. Und wie unterdrücktes Weinen dringt es plötzlich heraus aus der Frauenschul; und Jaschek mit seinem neuen Zwillichanzug, die blonden Haare hervorlugend unter der zurückgeschobenen Mütze, horcht auf und läuft dann von seinem Platze nach vorn und stellt sich seitwärts gegenüber dem Vorbeter hin. Aber der Siddur, den ihm sein Vater gekauft hat, damit es so aussehe, als ob er bete, gleitet ihm aus den Händen: Jaschek steht mit weit aufgerissenen Augen und guckt. Er hört nichts und fühlt nichts. Er steht und blickt nur mit starren Augen auf den Vorbeter und auf die weinenden Juden. Da sieht er den weissen Vorhang vor der heiligen Lade mit den goldenen Buchstaben: Heilig dem Ewigen, und er denkt bei sich: Dort muss Gott sein, dort . . dort hinter dem Vorhang!

Von der Gallerie blickt seine Mutter herab. Sie sieht ihren Sprössling, wie er dasteht und starrt, wie der Siddur seinen Händen entfallen ist, und sie seufzt: Ein Bauer ist er, ein geborener Goi. Und der Vater blickt ihn scheu unter seinem Talles hervor an und fleht: Allmächtiger, denk auch an ihn!

Aber Jaschek regt sich nicht und starrt nur vor sich hin. . . Alle weinen, alle beten; alle schreien zu Gott. Wie gern thäte er’s auch!

Er will auch zu Gott beten; er will auch, — nicht weinen, nicht schreien — nur danken, und Gott loben will er, für alles, alles danken. . . Er bückt sich nieder, hebt seinen Siddur wieder auf schlägt das Sch’ma auf und beginnt: El . . me . . lech . . ne . . mon. Aber dieses Gebet ist nichts für ihn. Er versteht es nicht. Das ist nur ein Spruch. Er will danken und loben, ehrlich und treuen Herzens. Aber er hat Angst vor der grossen Menge. Vor der grossen Menge, die so ganz anders betet. Doch der Drang zum Beten besiegt seine Angst, und Gott ist stärker als alle. Er muss. . .

Und er legt die Finger an den Mund; und ein lauter Pfiff schneidet durch die weinende Gemeinde….

Alles ist wie vom Donner gerührt. Wer pfeift da am heiligsten Ort? . . Der Vater will ihn am Arme packen und hinausbringen. Die Leute wollen ihn schlagen.

Da dreht sich plötzlich der heilige Rabbi von seinem Stand an der Misrach-Wand um und fragt: Wo ist der Heilige, der Zaddik, der das böse Verhängnis zerrissen, der den Himmel durchbohrt hat, damit unsere Gebete durch die bleiernen Wolken hineindringen können zu Gottes Thron? ….

Von dem „Heiligen“ war nichts mehr zu sehen. Er hatte den Tempel verlassen und war, die Stiefel auf der Achsel, übers Feld schon ins Dorf heimgelaufen. —

Dem Jüdischen nachgebildet von Theodor Zlocisti.

Bild oben: Schalom Asch, 1940, Foto: Al Aumuller, World-Telegram staff photographer – Library of Congress Prints and Photographs Division, New York World-Telegram and the Sun Newspaper Photograph Collection.