„Die Geschichte hat mich erschüttert“

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Wiesława Jurasz wird 1956 in Zielona Góra/Grünberg in Polen in einer katholischen Familie geboren. Die Eltern sind Polen, die Mutter aus Czernowitz, der Vater aus Krotoschin (Großpolen). Polonistik und Germanistik studiert sie an der Universität in Zielona Góra. Sie wird Mitarbeiterin des Projektes „Der Holocaust im galizischen Erdölrevier“…

Interview: Christel Wollmann-Fiedler

Im Jahre 1984 zieht sie nach Wrocław/Breslau und arbeitet als Polnisch- und dann als Deutschlehrerin. Im Jahre 2009 lernt sie Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) kennen und ist begeistert von deren Engagement und ihrer Tätigkeit auf dem Wroclawer/Breslauer jüdischen Friedhof. Da ASF ihre Sommercamps auch in der Ukraine in Czernowitz organisiert, meldet sie sich dazu an.

Czernowitz ist die Geburtsstadt ihrer Mutter. Im folgenden Jahr wird sie dabei sein und noch weitere neun Mal als Co-Teamerin. Die Geschichte der Czernowitzer Juden während des 2. Weltkrieges hat sie tief berührt. Die Arbeit auf dem jüdischen Friedhof (50.000 Grabsteine) findet sie notwendig, um an die einst sehr große und florierende Gemeinde zu erinnern. Während der NS-Zeit wurde diese Gemeinde völlig vernichtet.

Danach beginnt ihr Interesse an der Kriegsgeschichte der polnischen Juden im galizischen Erdölrevier. Durch Kontakte wird sie Mitglied eines internationalen Projektes „Der Holocaust im galizischen Erdölrevier“. Eine Ausstellung zu diesem Thema wurde im Jahre 2015 eröffnet und seitdem in mehreren Städten in Polen, Deutschland, Israel und der Ukraine gezeigt.

C.W.-F. Wiesia, wie schön, dass wir uns hier in Haifa treffen. Wir kannten uns ja zuvor nicht. Ich komme aus Deutschland, aus Berlin, Du bist vor ein paar Tagen aus Polen, aus Wroclaw/Breslau, nach Tel Aviv gekommen. Warum?

W.J. Guten Tag, ich bin nach Tel Aviv gekommen zu einer Ausstellung, die für mich sehr wichtig war, denn ich habe bei der polnischen Version dieser Ausstellung mitgearbeitet. Deshalb wollte ich bei der Eröffnung in Israel auch dabei sein.

C.W.-F. Ich habe ein wenig über Dein Leben in Polen erfahren. Du bist keine Jüdin, bist Katholikin, kommst aus Wroclaw/Breslau. Wie bist Du zu dem jüdischen Ausstellungsthema gekommen?

W.J. Das war ein Zufall, denn ich arbeite als Lehrerin in der Ursulinen Schule. Zwei Frauen aus Dresden lernte ich 2009 kennen, die auf dem Jüdischen Friedhof in Breslau gearbeitet und einen Vortrag über jüdische Symbolik in der Schule gehalten haben. Da ich Deutschlehrerin bin, sollte ich ihnen helfen. Von diesen Dresdnerinnen habe ich erfahren, dass es eine deutsche Organisation gibt, die Sommercamps organisiert, z.B. auch in Czernowitz. Alljährlich verschönen und roden die Menschen des Camps den großen Jüdischen Friedhof, der ja sehr bekannt ist.

Mit der einen Dresdnerin hatte ich mich angefreundet und wurde von ihr nach Dresden eingeladen. Einen Tag später sollte ein Nachtreffen vom letzten Sommercamp stattfinden. So fuhr ich mit ihr nach Wernigerode am Harz, um mehr über die Organisation zu erfahren. Dort lernte ich eine Dame aus Berlin kennen, die im Büro von Aktion Sühnezeichen arbeitet. So erfuhr ich vom Sommerlager in Czernowitz. Auf diese Weise bin ich auf diese Organisation gestoßen.

Ich muss allerdings hinzufügen, dass meine Mutter aus Czernowitz stammt.

C.W.-F. Ich habe erfahren, dass Du Hedwig Brenner*, die Czernowitzerin, noch nicht kanntest, doch bereits Mailkontakt mit ihr hattest und sie erfuhr, dass Du auf dem Czernowitzer Friedhof mitgearbeitet hast. Durch die Aktion Sühnezeichen bist Du zur Pflege dieses jüdischen Gottesackers gekommen, hast aber ebenso die Wurzeln Deiner christlichen Familie gesucht. Wie verlief Dein erster Besuch in der Bukowina?

W.J. Die Adresse des Hauses meiner Großeltern kannte ich nicht. Meine Mutter in Grünberg/Zielona Gora hat mir nur eine Skizze angefertigt. Dann hat sich herausgestellt, dass das Haus der Großeltern an der Grenze zum Jüdischen Friedhof lag. Das war ein großer Zufall. Schon am ersten Arbeitstag bin ich mit zwei Deutschen auf die Suche nach dem Haus gegangen. Auf der Skizze meiner Mutter war links eine kleine Holzkirche, dann links das 4. Haus müsste das Haus auf der Zeichnung sein. Wir kamen an den Gartenzaun, eine Frau kam heraus und fragte uns, wonach wir suchen, natürlich auf Ukrainisch. Ich erzählte ihr, dass meine Familie eventuell früher einmal in diesem Haus gewohnt hat. Hießen sie Krzyrz?, war die Frage. Ich konnte nur bejahen, es waren meine Großeltern. Die Frau wusste, dass der Großvater in der Armee war und die Frau zwei Töchter hatte. Die Töchter waren meine Mutter und ihre Schwester. Ja, das war wirklich meine Familie. Dann hat sie uns ins Haus eingeladen, holte gleich alle Dokumente heraus und einen alten Spiegel, den meine Großmutter zurückgelassen hatte. Fast alles mussten sie zurücklassen, als sie weggingen 1945. Es war sehr viel, doch eine Ziege und ein paar Kleinigkeiten durften sie mitnehmen.

Das war nicht juristisch aufgeschrieben, eher hat eine Familie für die andere aufgeschrieben, was die Familien zurückgelassen haben. Die russische Familie kam ins Haus, 2-3 Tage wohnten sie in dem kleinen Haus zusammen. Meine Familie hatte noch nicht die Erlaubnis, die man zum Ausreisen haben musste. Zwischenzeitlich, nach dem 2. Weltkrieg, waren die Nordbukowina und somit auch Czernowitz sowjetisch geworden.

C.W.-F. Deine Großmutter ist mit ihren Töchtern nach Polen, nach Grünberg/Zielona Gora gegangen. Deine Mutter ist in Czernowitz geboren worden. Wie viel Generationen haben dort gelebt?

W.J. Ungefähr drei Generationen, aber ich habe weiter keine Unterlagen. Als ich klein war haben die Großmutter und der Großvater nie darüber gesprochen. Sie haben nur über ihre Traditionen gesprochen, wie man Feste gefeiert hat usw. Der Großvater war Schlosser, ging dann zur Armee und die Großmutter war Hausfrau. Das war bestimmt die Polnische Armee, die Armee von Berling.

C.W.-F. Du bist auch nach Czernowitz gefahren, um jüdische Spuren zu suchen. Die Aktion Sühnezeichen geht jeden Sommer nach Czernowitz zum Arbeiten auf dem Jüdischen Friedhof, der alljährlich heftig zuwächst. Dornenhecken reißen an den Beinen und den Haaren, wenn man auf dem Boden kriecht und bestimmte Grabsteine sucht. In einem Sommer bist Du dann auch mitgefahren.

W.J. Seit sechs Jahren fahre ich alljährlich nach dort. Wir arbeiten jedes Jahr auf dem Jüdischen Friedhof. Die heutige Jüdische Gemeinde in Czernowitz ist sehr klein, auch gehörten anfangs wirklich nur alte Menschen zur Gemeinde.

Sie haben keine Kraft mehr, diese schwere Arbeit zu machen. In den letzten Jahren hat sich etwas geändert. Die Gemeinde wächst ein bisschen. Einige haben sich später als Juden zu erkennen gegeben, so hat die Gemeinde inzwischen auch ein wenig jüngere Mitglieder, so um die 40 bis 50 Jahre, auch Kinder und Enkelkinder gehören dazu. Sie wollten während der sowjetischen Zeit nicht zugeben, dass sie Juden sind, doch seit ungefähr drei Jahren hat sich das geändert. Vor zwei Jahren kam zum ersten Mal der Rabbiner zu uns auf den Friedhof. Er brachte andere Leute, die dann mit uns zusammengearbeitet haben. In den ersten Jahren verrichteten wir die Arbeit alleine.

C.W.-F. Du wirst in diesem Sommer wieder von Breslau nach Czernowitz reisen, um auf dem Friedhof zu arbeiten.

Jetzt sind wir beide bei Hedwig Brenner* in Haifa, sie ist siebenundneunzig Jahre alt, ist Czernowitzerin, das wissen wir alle, das weiß die ganze Welt. Sie hat dort auch Gräber von Familienangehörigen. Ganz in der Nähe der heruntergekommenen Halle in der Reihe, wo Rosa Zuckermann und Matthias Zwilling liegen. Direkt zuvor ist das Grab der Feuersteins, ihrer Großeltern. Hedwigs Vater hat ein kleines Grab mit einem neu beschrifteten Stein, am Ende des Weges. Der Stein ist seit Jahren amerikanisch beschriftet: Dr. Adolph Langhaus, Lawyer. Eigentlich passt das nicht so in die Bukowiner Landschaft, noch dazu ist der Vater bereits 1928 gestorben. Die Feuersteins wirst Du finden.

Jetzt gehe ich weg von Deiner christlichen Czernowitzer Familie und komme wieder zum jüdischen Leben, das Dich dort auch interessiert. Es war dort einmal eine große deutschsprachige jüdische Gemeinde bis zur Ghettozeit und den Deportationen nach Transnistrien. Wie war das in Deiner Schulzeit in Polen, habt Ihr auch über jüdisches Leben gesprochen, habt ihr davon erfahren in der kommunistischen Zeit? Wegen der beiden polnischen Städte Boryslaw und Drohobycz bist Du ja gestern nach Tel Aviv gekommen.

W.J. Nein, damit hat man sich nicht beschäftigt, leider. Ich wusste nicht viel über diese Geschichte, über die Vorkomnisse in Boryslaw und Drohobycz überhaupt nicht. Ich hörte nur über die Konzentrationslager Auschwitz Birkenau und Meidanek, die in der Welt am meisten bekannt sind, wo Massenmorde stattgefunden haben. Doch wie das in anderen, kleineren Städten und Stätten ausgesehen hat, wusste ich nicht. Man hat sich damit nicht beschäftigt.

Hedwig Brenner (r.) und Wiesia Jurasz in Haifa

C.W.-F. Du bist jetzt nach Israel gekommen, um bei der Ausstellungseröffnung „A Story of Life and Death: the Holocaust in Drohobycz and Boryslaw“ auf dem Universitätsgelände in Tel Aviv dabei zu sein, weil diese oder eine ähnliche Ausstellung in Polen bereits gezeigt wurde. Du hattest Texte ins Polnische übersetzt. Ich hörte, dass Du mit Zeitzeugen gekommen bist?

W.J. Mit Professor Jozef Lipman bin ich hergekommen. Er ist ein Überlebender, stammt aus Boryslaw und seine Familie hat dort den Holocaust überlebt, Dank einer ukrainischen Familie Poppel, die diese Familie bei sich eine zeitlang versteckt hatte. Sie durften dort nicht so lange bleiben, mussten wieder woanders versteckt werden, weil es sehr gefährlich für sie war. Auch Dank Bertold Beitz, der Direktor der Karpaten Ölgesellschaft gewesen war. Er hat den Vater von Josef Lipmann eingestellt, dadurch hat er ihm das Leben gerettet, denn die Karpatengesellschaft war ein Rüstungswerk. Arbeiter, die dort arbeiteten hatten besondere „Rechte“. Sie wurden ein bisschen anders behandelt. Das bedeutete aber nicht, dass sie sicher waren, aber sie waren ein wenig geschützt.

C.W.-F. Schon ein bisschen geschützt war gut, denn die Juden waren damals Freiwild!

W.J. Ja, manchmal hat die SS gemacht, was sie wollte und nahm die Leute mit und viele kamen in Konzentrationslager und andere wurden gleich in den Gaskammern umgebracht. Doch diese Arbeit bei der Ölcompany war für sie ein bisschen sicherer, sie hatten eine Anbindung. So hat auch der Direktor Beitz dazu beigetragen, Juden zu schützen.

C.W.-F. Doch nun nochmal zum Anfang. Wie bist Du denn zu der jüdischen Geschichte in den beiden polnischen Orten gekommen? Du kanntest ja die Leute in Köln nicht, die bereits für die Aktion Sühnezeichen unterwegs waren.

W.J. Klaus Hasbron Blume aus Köln kam zum Sommerlager und in diesem Lager hat er die Geschichte von Professor Lipmann erzählt. Das war für mich etwas ganz Neues. Die Geschichte hat mich erschüttert. Klaus ist auf die Idee gekommen, man muss den anderen erzählen, was gewesen war damals in der Nazizeit. Klaus hat den Professor und seine Frau in Breslau/Wroclaw kennengelernt. Frau Lipmann war eine Deutsche. Ihre Familie ist nach dem Krieg auf dem Gebiet von Niederschlesien geblieben und dort hat das Paar geheiratet.

C.W.-F. Du bist über das Leben von Professor Lipman und seine Familie zu dem Thema gekommen und hast Ideen weiterentwickelt, die Ausstellung zu konzipieren. Jetzt bist Du mit Professor Lipman nach Israel gekommen.

W.J. Wir sind zusammen nach Israel gereist, Herr Professor hat hier noch Familie, eine Cousine. Er hat hier auch Freunde getroffen. Einige Leute, die überlebt haben, die er aus Boryslaw kennt und sie bereits in Waldenburg/Walbrzych getroffen hat. Professor Lipmann ist 85 Jahre alt. Juden, die überlebt haben, konnten 1945 nicht in der Sowjetischen Republik bleiben, mussten aber die Sowjetische Staatsbürgerschaft annehmen, denn die Ukraine, somit auch Galizien, wurde sowjetisch. Doch die meisten von ihnen wollten nicht dort bleiben, fühlten sich als Polen. So wurden diese galizischen Juden in Waldenburg in Polen, westlich der heutigen Ukrainischen Grenze angesiedelt. Außerdem brauchte man Spezialisten für die Kohlegruben.

C.W.-F. In der Ausstellung las ich über Eberhard und Donata Helmrich aus Drohobycz, die auch jüdischen Mitbürgern geholfen haben.

W.J. Herr Helmrich war Major bei der deutschen Wehrmacht. Er hat eine Gärtnerei angelegt, in die er viele Juden eingestellt hat. Es gab mehr angestellte Juden als Tomaten. Donata und Eberhard Helmrich leben nicht mehr, aber die Tochter war aus Deutschland gekommen. Sie heißt Cornelia Schmalz-Jacobsen. Sie kam zu der Eröffnung. Wir waren zusammen in Yad Vasem, wo sie Olivenbäume für ihren Vater und ihre Mutter gepflanzt hat. Die Familie Beitz ist dort auch geehrt worden, sowohl Bertold als auch Else Beitz.

Wie konnte man Menschen so einfach töten? Wir begreifen das bis heute nicht!

Ich danke Dir Wiesia!

*Hedwig Brenner, 1918 in Czernowitz geboren, starb im Januar 2017 mit 98 Jahren in Haifa