Ibrahim Raisi kommt, Hassan Rouhani geht. Die Iraner haben einen neuen Präsidenten gewählt und im Westen spekuliert man darüber, in welche Richtung er das Land lenken könnte. Vor allem aus Israel kommen warnende Töne.
Von Ralf Balke
Bereits auf der ersten Kabinettssitzung der Regierungskoalition am Sonntag in Jerusalem war er das große Thema. Die Rede ist von Ibrahim Raisi, dem neuen Präsidenten des Irans. „Von allen Personen, die der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei hätte sich aussuchen können, wählte er ausgerechnet den Henker von Teheran, also genau den Mann, der im Iran wie auch in der ganzen Welt berüchtigt ist, weil er die Todeskomitees leitete, die im Laufe der Jahre Tausende von unschuldigen iranischen Bürgern hinrichten sollten“, erklärte Ministerpräsident Naftali Bennett. Dabei bezog er sich ebenfalls auf Amnesty International, was für einen israelischen Politiker äußerst ungewöhnlich ist. Denn sogar die Menschenrechtsorganisation, die nicht gerade für ihre Zuneigung zu Israel bekannt ist, hatte mit dem Hinweis auf Raisis Rolle bei der Ermordung unzähliger politischer Häftlinge des Mullah-Regimes in den 1980er Jahren diese Wahl mit deutlichen Worten kritisiert.
Zugleich appellierte Bennett an die Weltmächte, dass sie „endlich aufwachen“ sollten. „Ein Regime von Henkern darf keine Massenvernichtungswaffen besitzen.“ Ferner sagte er: „Diese Leute sind Mörder, und zwar Massenmörder.“ Und Yair Lapid, Israels neuer Außenminister, forderte einen sofortiges Abbruch der Verhandlungen über die Erneuerung des Atomabkommens mit dem Iran. „Seine Wahl sollte zu einer neuen Entschlossenheit führen, Irans Atomprogramm augenblicklich zu stoppen und dessen zerstörerischen regionalen Ambitionen ein Ende zu setzen.“ Dabei scheint derzeit genau das Gegenteil zu geschehen. Seit einigen Monaten werden in Wien Gespräche darüber geführt, unter welchen Vorbedingungen der Faden zwischen Teheran und Washington wieder aufgenommen werden könnte. Zwar sitzen beiden Parteien nicht an einem Tisch. Dafür aber sprechen die vier UN-Vetomächte Russland, Großbritannien, Frankreich und China sowie Deutschland mit den iranischen Vertretern. Eine Delegation amerikanischer Diplomaten befindet sich in einem benachbarten Hotel und wird über den Verlauf ständig informiert, ist also „indirekt“ beteiligt.
Es ist die erste Gesprächsrunde auf hoher Ebene, seit US-Präsident Donald Trump, der im Mai 2018 den Ausstieg seines Landes aus dem Atomabkommen verkündet hatte, abgewählt wurde und Joe Biden im Weißen Haus das Ruder übernommen hat. Vor allem die Europäer zeigen großes Interesse an einer Rückkehr zu dem alten Atomabkommen von 2015. „Wir gehen davon aus, dass auch unter den neuen Rahmenbedingungen nach den Präsidentschaftswahlen im Iran eine gute Chance besteht, diese Gespräche in absehbarer Zeit zu beenden“, sagte noch am Mittwoch Bundesaußenminister Heiko Maas anlässlich des Besuchs seines amerikanischen Amtskollegen Antony Blinken in Berlin. „Wir sind überzeugt, dass es sich lohnt, die Gespräche über einen so langen Zeitraum fortzusetzen.“ Das Irritierende: Selbst als im April Ali Akbar Salehi, Ex-Außenminister und Chef der iranischen Atomenergieorganisation, verkündete, dass es seinem Land erstmalig gelungen sei, Uran auf bis zu 60 Prozent anzureichern, wodurch die Mullahs ihrem Ziel, nukleare Sprengköpfe bauen zu können, einen Riesenschritt näher gekommen waren, tat das diesem Optimismus ebenso wenig Abbruch wie jetzt auch die Wahl von Ibrahim Raisi zum Präsidenten des Irans.
In seiner Rhetorik gegenüber Israel unterscheidet sich Ibrahim Raisi wohl kaum von seinem gerne als „moderat“ beschriebenen Vorgänger Hassan Rouhani. So lobte er in einer Rede im Mai, also während des Elf-Tage-Krieges zwischen Israel und der Hamas, die im Gazastreifen regierenden Islamisten für ihre Opferbereitschaft. „Der heldenhafte Widerstand Palästinas hat das zionistische Besatzungsregime wieder einmal zum Rückzug gezwungen, was uns dem erhabenen Ziel, und zwar der Befreiung der Heiligen Stadt al-Quds, einen weiteren Schritt näher bringt.“ Ferner schwadronierte er: „Gemeinsam konnten der palästinensische Widerstand in Gaza und die palästinensische Jugend einen großartigen Sieg für die muslimische und arabische Umma erringen. Den Muslimen und allen Freiheitssuchenden auf der Welt verhalfen sie so zu reichlich Ehre. Zugleich aber kompromittierten sie damit genau die Regierungen, die sich seit einiger Zeit darum bemühen, die Beziehungen mit dem israelischen Kindermörderregime zu normalisieren.“
Auch auf seiner ersten Pressekonferenz äußerte sich Raisi in einer Weise, wie man es von den Machthabern in Teheran ohnehin gewohnt ist. So antwortete er laut iranischer Nachrichtenagentur Fars auf eine Frage bezüglich Israels, dass „aus der Perspektive des Irans Palästina allein den Palästinenser gehört.“ Und: „Bevor sich das zionistische Gebilde von uns eingeschüchtert fühlt, sollte es sich zuallererst vom palästinensischen Volk und seinen Widerstandsgruppen bedroht fühlen.“ Aber auch zum Verhältnis mit den Vereinigten Staaten hatte Raisi einiges zu sagen. Mit Präsident Joe Biden würde er sich sowieso nicht treffen wollen. Ohnehin ständen Teherans ballistisches Raketenprogramm oder die iranische Unterstützung von Hisbollah, Hamas & Co. nicht zur Disposition. „Schließlich ist der Iran schon immer ein Verteidiger der unterdrückten Völker gewesen, einschließlich der Palästinenser. Dies ist in unserer Verfassung verankert und wurde bereits vom Imam Khomeini und den Führer der Islamischen Revolution so gefordert.“ Und eine Rückkehr zum Atomabkommen käme für ihn nur dann in Frage, wenn dies dem Iran eindeutige Vorteile verschaffen würde. „Alle Gespräche, die den nationalen Interessen dienen, werden wir sicherlich befürworten. Aber wir werden nicht zulassen, dass Verhandlungen um der Verhandlungen Willen geführt werden“, sagte er und fügte hinzu, dass seine Wahl am Freitag das Resultat einer „überwältigenden“ Wahlbeteiligung sei – angesichts der Tatsache, dass weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten überhaupt zu den Wahlurnen gegangen waren und einige Millionen davon ihre Stimmen bewusst als „ungültig“ abgegeben hatten, eine etwas eigenwillige Interpretation.
Es blieb aber nicht die einzige. Der ehemalige Chefrichter des Irans lobte sich selbst in den höchsten Tönen. „Alles, was ich in meinen Jahren im Dienst für den Staat geleistet habe, drehte sich um die Verteidigung der Menschenrechte.“ Die Bilanz seiner bisherigen Karriere verweist eher auf etwas anderes. So machte der 1960 geborene Raisi im Gefolge der Islamischen Revolution von 1979 rasch Karriere und wurde bereits als 20-Jähriger zum Staatsanwalt der Stadt Karadsch ernannt. Da stellt sich schon die Frage, wann er das entsprechende Jura-Studium absolviert haben soll. Eine Zeitlang gab er sich sogar selbst den Titel eines Ayatollahs, den er nach Kritik daran, dass es ihm wohl dafür wohl an der entsprechenden religiösen Ausbildung fehlte, wieder ablegt hatte. Nach 1988 gehörte er zu genau jener berühmt-berüchtigten vierköpfigen Gruppe, die Ayatollah Khomeini damit beauftragt hatte, die Gefängnisse nach politischen Gegner zu durchforsten. Dieses „Gremium des Todes“ hatte daraufhin mehrere Tausend Menschen an die Galgen und vor die Exekutionskommandos gebracht. Und sobald in den vergangenen Jahren irgendwo im Iran Menschen gegen die wirtschaftliche Misere oder für mehr gesellschaftliche Freiheiten auf die Straße gegangen waren, stand Raisi parat, um sie als Ankläger des Sondergerichts für die Geistlichkeit, als Generalstaatsanwalt oder zuletzt als Chefrichter hinter Gitter zu bringen oder foltern zu lassen.
Vor vier Jahren war Raisi schon einmal angetreten, um Hassan Rouhani zu beerben. Selbst der Amtsinhaber, alles andere als ein Demokrat oder Freund einer offeneren Gesellschaft, sprach damals im Wahlkampf über ihn als jemanden, der Todesurteile in Serie fällen würde und deshalb für den Posten eher ungeeignet sei – auch das ein ziemlich ungewöhnlicher Vorgang in der Geschichte der iranischen Theokratie. Aber als Blutrichter von Teheran tätig gewesen zu sein, ist im Iran noch nie ein Hindernis auf dem Weg nach ganz Oben gewesen. Der neugewählte Präsident wird sogar als Nachfolger des greisen Revolutionsführers Khameini gehandelt, dessen Protegé er ohnehin ist. Und wie dieser tickt, wenn es um Israel oder Juden geht, ist ebenfalls seit vielen Jahren bekannt. Vergangenes Jahr beispielsweise brachte Khamenei „Juden und insbesondere Zionisten“ mit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie in Verbindung, weil sie eine „Beziehung zum Teufel und zu Geistern“ hätten und sprach von COVID-19 als einem Virus, das genauso wie Israel und der Zionismus bekämpft werden müsse. Und letztendlich ist es auch Khamenei, der das letzte Wort hat, wenn es um eine Rückkehr zu dem Atomabkommen geht.
Für Israel, das jetzt gleichfalls eine neue Regierung hat, wird sich durch die Wahl von Raisi wenig ändern. Über die Gefahren, die vom Iran mit seinen nuklearen Ambitionen und seinen Marionetten im Libanon oder Gazastreifen ausgehen, ist man sich seit vielen Jahren durchaus bewusst. Deswegen unterscheidet sich die Haltung von Ministerpräsident Naftali Bennett zum Atomabkommen oder zur Abwehr des von Teheran gesteuerten Terrorismus in keiner Weise von der seines Amtsvorgängers Benjamin Netanyahu. Aber auch in der Acht-Parteien-Koalition, der er vorsteht, herrscht in der Einschätzung des Bedrohungspotenzials weitestgehend Einigkeit. Und so darf die Ansprache, die Bennett am Donnerstag anlässlich der Abschlussfeier für einen neuen Jahrgang an Piloten auf dem IAF-Luftwaffenstützpunkt Hatzerim durchaus auch als eine Botschaft an Ibrahim Raisi verstanden werden. „Unsere Feinde wissen – übrigens nicht aus Erklärungen, sondern aufgrund unserer Taten – von unserer Entschlossenheit zu handeln, wenn es nötig ist.“ Seine Bemerkungen kamen nur einen Tag, nachdem eine Drohne die Zentrifugen in einer nuklearen Anlage außerhalb Teherans beschädigt haben soll. In dieser Rede, einer der ersten seit seinem Amtsantritt, bezog sich Bennett zudem auf den israelischen Angriff vor genau 40 Jahren auf die Atomanlagen im Irak. Seit 1981 gelte das Begin-Doktrin, benannt nach dem damaligen Ministerpräsidenten, wonach Israel wenn nötig militärische Maßnahmen ergreift, um andere Staaten in der Region daran zu hindern, Atomwaffen zu entwickeln. „Damals war es der Irak, heute ist es der Iran.“ Und aus israelischer Sicht ist es angesichts der Erfahrungen vergangenen Jahrzehnte beinahe schon unerheblich, ob in Teheran ein sogenannter „moderater“ Präsident wie Hassan Rouhani oder ein „Hardliner“ wie Ibrahim Raisi das Sagen hat.
Foto: Ibrahim Raisi, (c) Maryam Kamyab, mehrnews.com, CC-BY 4.0