Paraschat haSchawua: Behar-Bechukotai

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Jahwe sprach zu Mose auf dem Berge Sinai Folgendes: Rede mit den Israeliten und sprich zu ihnen: Wenn ihr in das Land kommt, das ich euch geben werde, so soll das Land dem HERRN einen Sabbat feiern. Sechs Jahre sollst du dein Feld besäen und sechs Jahre deinen Weinberg beschneiden und die Früchte einsammeln, aber im siebenten Jahr soll das Land dem HERRN einen feierlichen Sabbat halten; da sollst du dein Feld nicht besäen noch deinen Weinberg beschneiden…

B‘har Sinai Lev. Kap. 25 Schabbat, 8. Mai 2021

Dieser Kapitel ist ein Musterbeispiel für soziale und landwirtschaftliche Gesetzgebung. Es geht um das Sabbat- und das Erlassjahr. Es wird empfohlen, dieses Kapitel selbst zu lesen (und wer keine Bibel hat, soll sich eben eine besorgen) denn uns geht es heute nicht um diese Themen, sondern um etwas ganz anderes.

Den Gelehrten ist etwas Erstaunliches bereits in den ersten Worten aufgefallen. Bei keiner anderen Normvorschrift heißt es, dass Gott dies oder jenes im Gespräch mit Moses auf dem Berg Sinai verordnete. Denn es ist bekannt, dass alle Gesetze und Verordnungen während des Aufenthalts von Moses auf dem Berg Sinai ihm von Gott mitgeteilt wurden. Wie es heißt: Jahwe sprach zu Mose: Komm herauf zu mir auf den Berg, dass ich dir gebe die steinernen Tafeln, Gesetz und Gebot… (2. Moses 24, 12).

Warum, fragten sich die Gelehrten, wurde bei der Sabbatjahr-Gesetzgebung der Ort der Verordnung explizit erwähnt, was sonst bei den anderen Gesetzen nicht der Fall ist? Die Erklärung hierfür war für die Gelehrten offensichtlich: Es ist etwas Besonderes an der Sabbatjahr-Regelung. In diesem Fall wurden im Gegensatz zu den anderen Gesetzen alle Einzelheiten, wie z.B. die Ausführungsbestimmungen, mit aufgenommen, und die Tora hat sie genauestens beschrieben. Die Schlussfolgerung daraus war für die Gelehrten einfach und konsequent: So wie bei diesem Gesetz, wo alle zusätzlichen Informationen gleichzeitig mit dem Gesetz auf dem Berg Sinai verkündet wurden, so muss mit allen anderen Gesetzen genauso verfahren worden sein, denn sie wurden alle auf dem Berg Sinai erlassen. Moses hat also, als er alle gesetzlichen Bestimmungen am Sinai von Gott empfing, gleichzeitig alle zusätzlichen Informationen mündlich von Gott erhalten.

Moses selbst hat diese gesamten Informationen (aus welchen Gründen auch immer) zwar nicht in der geschriebenen Tora aufgeführt, jedoch behalten und sie mündlich an seinen Nachfolger überliefert, wie es im Talmud heißt: „Mose empfing die Tora am Sinai und übergab sie Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten übergaben sie den Männern der großen Versammlung“, und so weiter bis zu unseren Tagen. So entstand die mündliche Überlieferung neben der schriftlichen (der Tora, der fünf Bücher Moses).

Diese Erklärung war der Hebel zur Legitimierung der gesamten Interpretations-Literatur, die seit zweieinhalb Jahrtausenden in unzähligen Werken, beginnend mit dem Talmud, entstanden ist.

Mindestens zwei Fragen drängen sich hier auf: Ist diese Interpretation ein Zufallsfund, auf den die Gelehrten im Talmud gestoßen sind, oder aber haben sie selbst eine Stelle in der Bibel gesucht, um ihren Interpretationen, oder auch Gesetzesauslegungen eine Gesetzeskraft zu verleihen? Wobei mir die zweite Erklärung plausibler erscheint.

Eine weitere Frage, die bedeutender wäre: welche tragfähigen Auswirkungen hatte die Legitimierung der mündlichen Überlieferung im Laufe der Zeit auf die Kultur der Bibelempfänger, d.h. des jüdischen Volkes?

Auf diese Frage wird in einem gesonderten Beitrag eingegangen werden.

Schabbat Schalom

Dr. Gabriel Miller absolvierte umfangreiche rabbinische und juristischen Studien, war Leiter der Forschungsstelle für jüdisches Recht an der Universität zu Frankfurt am Main, Fachbereich Rechtswissenschaft. Außerdem gibt er die bei den Lesern von haGalil längst gut bekannte Website juedisches-recht.de heraus.

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