Die Verhandlungen um die Bildung einer Koalition gehen die nächste Runde. Nachdem Benjamin Netanyahu scheiterte, ist jetzt Yair Lapid an der Reihe. Doch eine Regierung hat Israel deswegen noch lange nicht…
Von Ralf Balke
Eine Liebesheirat wird es gewiss nicht sein. Und wenn doch, würde sie unter den Strafbestand der Polygamie fallen. Die Rede ist von der Sieben-Parteien-Koalition unter der Ägide des Yesh-Atid-Vorsitzenden Yair Lapid sowie dem Yamina-Chef Naftali Bennett, der aktuell recht gute Chancen eingeräumt werden, nach zwölf Jahren Amtszeit Ministerpräsident Benjamin Netanyahu vom Thron zu stoßen. Kommende Woche bereits könnte diese neue Regierung stehen, erklärte Bennett am Freitag gegenüber der Presse. Selbstverständlich gäbe es zuvor noch einige Fragen zu klären. Doch generell klang er recht optimistisch. Eines dieser Hindernisse dürfte die Besetzung des Justizministeriums sein. Der Yamina-Chef möchte, dass seine Parteikollegin Ayelet Shaked dieses Schlüsselressort erhält, an dessen Spitze sie schon einmal in den Jahren zwischen 2015 und 2019 stand. Anderenfalls würde er den Deal platzen lassen.
Und damit ist man auch schon mitten drin in dem Gerangel um Posten und Kompetenzen, die zweifelsohne nicht nur zu den Geburtswehen einer solchen Monster-Koalition – sollte sie denn wirklich zustande kommen – gehören, sondern recht schnell auch wieder zu ihrem vorzeitigen Ende führen könnte. Denn das Justizressort beansprucht ebenfalls Gideon Saar für seine Tikva-Hadasha-Partei. Ursprünglich wollte er das Verteidigungsressort übernehmen. Doch das wiederum betrachtet Benny Gantz von Blau-Weiß als seinen Erbhof. Außerdem gibt es noch Zoff um das Bildungsministerium. Nitzan Horowitz, Vorsitzender der linkszionistischen Meretz-Partei, fordert es für sich ein, was Yifat Shasha-Biton von Tikva-Hadasha überhaupt nicht gefällt, weil sie gerne diesen Job machen möchte. Last but not least wäre da noch der Streit um die Frage, wer Knesset-Sprecher werden soll. Meir Cohen von Yesh Atid und Ze’ev Elkin von Tikva-Hadasha streiten sich gerade beide um diese wichtige Position.
Lapid ist der zweite Parteivorsitzende, der von Staatspräsident Reuven Rivlin den Auftrag erhalten hatte, eine regierungsfähige Koalition zusammenzuzimmern. Zuvor war Amtsinhaber Netanyahu genau daran gescheitert. Ihm als Chef des Likuds und damit der Partei, die bei den Wahlen im März die meisten Stimmen erhalten hatte, war zuerst dieses Mandat übertragen worden. Doch weil der Likud nur über 30 Sitze in der Knesset verfügt und für eine Mehrheit mindestens 61 der 120 Parlamentarier unter einen Hut gebracht werden müssen, war das selbst für einen gewieften Taktiker wie Netanyahu kein leichtes Unterfangen. Er konnte gerade einmal 52 Parlamentarier hinter sich vereinen, was aber nicht reichte. Nun ist also der Yesh-Atid-Vorsitzende an der Reihe. Seine Partei kam aber lediglich auf 17 Sitze in der Knesset, was die Sache noch komplizierter macht. Laut Gesetz hat er jetzt ebenfalls drei Wochen Zeit, um eine Koalition auf die Beine zu stellen. Bei Bedarf kann eine einmalige Verlängerung dieser Frist um weitere zwei Wochen beantragt werden. Sollte am Ende auch Lapid Schiffbruch erleiden, wären Neuwahlen fast schon vorprogrammiert. Entsprechend groß ist der Druck.
Lapid weiss, dass er nur Chancen hat, eine regierungsfähige Koalition zu bilden, wenn Naftali Bennett mit ihm an einem Strang zieht. Rein ideologisch wäre der Yamina-Chef zwar eher ein Partner für Netanyahu. Doch sich auf einen Deal mit Netanyahu einzugehen, ist wie ein Bad im Haifischbecken. Die Art und Weise, wie der Likud-Chef im vergangenen Jahr seinen Herausforderer Benny Gantz von Blau Weiß mit dem Angebot, sich das Amt der Ministerpräsidenten in einem Rotationsverfahren quasi zu teilen, an Bord lockte, um ihn dann eiskalt abzuservieren, sollte Warnung genug sein. Selbst die Offerte von Netanyahu vor wenigen Tagen, in einem ähnlichen Verfahren Bennett den Vortritt zu lassen, lehnte er ab. Das Absurde: Bennetts Partei kam bei den Wahlen auf gerade einmal sieben Sitze in der Knesset. Und kurzzeitig sah es also so aus, als ob er nicht nur der Königsmacher werden sollte, sondern sogar der König selbst. Doch der Yamina-Chef wusste ebenfalls, dass Netanyahu auch mit ihm an Bord immer noch schlechte Karten für eine Mehrheit hatte, weil die Neo-Kahanisten aus der Listenverbindung der Religiösen Zionisten nicht wollen, dass eine Mehrheit mit der Zustimmung der Islamisten der Ra’am-Partei unter Mansour Abbas zustande kommt. Genau diese wäre aber notwendig gewesen. Nun also versucht Bennett sein Glück zusammen mit Lapid. Nach außen kommuniziert er diesen Schritt als selbstlose Maßnahme, um einen fünften Wahlgang in nur zweieinhalb Jahren zu verhindern. „Das wäre nur mit einer Regierung der nationalen Einheit möglich“, so der Yamina-Chef. Netanyahu reagierte mit reichlich Schaum vorm Mund auf diesen Seitenwechsel und beschuldigte ihn daraufhin öffentlich des Verrats. „Naftali Bennett unternimmt alles, die Wahrheit zu verbergen. Dies wird eine linke Regierung sein, eine schwache Regierung, die sich stets internationalem Druck beugen wird.“ Und um der Sache ein wenig mehr Nachdruck zu verleihen, motivierte Netanyahu seine Anhänger dazu, vor den Häusern von Bennett, Lapid und anderen politischen Gegnern Demonstrationen abzuhalten und für Krawall zu sorgen.
Lapid dagegen schlug erst einmal versöhnlichere Töne an, nachdem Rivlin ihm das Mandat zur Regierungsbildung erteilt hatte. Ganz im Stil des neuen US-Präsidenten Joe Biden inszenierte er sich dabei als der große Brückenbauer, der die Israelis nach Jahren der innergesellschaftlichen Grabenkämpfe wieder zusammenbringen will. „Wir hatten genug Wut und Angst“, verkündete er am Donnerstag. Selbstverständlich gäbe es Schwierigkeiten auf dem Weg zur Bildung einer Einheitsregierung, aber: „Wir wollen ein ganz einfaches Ziel verfolgen und das Land aus dieser Krise herauszuführen, und zwar der Coronavirus-Krise, der Wirtschaftskrise sowie der politischen Krise. Aber ebenso aus der Krise in uns selbst, dem Volk von Israel.“ Ferner sprach Lapid von den „internen Querelen“, die es schwieriger machen, die Sicherheitsprobleme anzugehen oder die Wirtschaft und das Bildungssystem zu verbessern. „Sollten wir es wirklich schaffen, eine Regierung zu bilden, dann wird diese auch die Opposition anders behandeln. Wir werden sie nicht angreifen oder diffamieren, sondern respektvoll mit unseren Kontrahenten umgehen. Auch wollen wir uns mit den Herausforderungen all derer beschäftigen, die nicht für uns gestimmt haben.“ Das klingt alles sehr schön. Doch wer die israelische Politik kennt, weiss um die Halbwertzeit solcher Worte.
Denn noch ist eine von Lapid und Bennett geführte Koalition nicht in trockenen Tüchern. Auch sollte man Netanyahu keinesfalls bereits abschreiben. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass er immer dann besonders kreativ und angriffslustig werden kann, sobald er sich in die Ecke gedrängt fühlt. Zu den beliebtesten Tricks in diesem Machtspiel gehört es, potenzielle Wackelkandidaten im gegnerischen Lager zu identifizieren und mit verlockenden Angeboten zum Seitenwechsel zu motivieren – oder zumindest dazu, laufende Verhandlungen durch solche Manöver scheitern zu lassen. Einen Abtrünnigen scheint er bereits gefunden zu haben. Amichai Chikli, einer der sieben Yamina-Abgeordneten in der Knesset, hat schon mal erklärt, dass er keinesfalls einer Regierung, an der die Linkszionisten von Meretz beteiligt sind oder die von der Zustimmung der Vereinten Arabischen Liste abhängig sein könnte, zustimmen würde. Und Abir Kara, ebenfalls von Yamina, berichtete davon, dass Netanyahu ihm im Fall eines Ausscherens aus der Fraktionsdisziplin den Posten des Wirtschaftsministers angeboten hätte, was er jedoch ablehnen würde. Sie dürften nicht die einzigen gewesen sein, die derzeit von Netanyahu umgarnt werden.
Doch selbst wenn es Lapid und Bennett gelingen sollte, alle Abgeordneten in ihren Reihen bei der Stange zu halten, reicht es immer noch nicht für eine Mehrheit. Denn Yesh Atid, Blau-Weiß, Yisrael Beitenu, Meretz, Yamina sowie Tikva Hadasha und die Arbeitspartei kämen zusammen nur auf 58 Mandate – es fehlen also immer noch drei. Die könnten allenfalls von den Islamisten von Ra’am kommen, die sich ihre Zustimmung gewiss teuer erkaufen lassen. Dass eine der beiden Parteien der Ultraorthodoxie das Bibi-Lager verlässt, dürfte dagegen recht unwahrscheinlich sein. Der Yisrael-Beitenu-Vorsitzende Avigdor Lieberman ist für sie ein rotes Tuch. Mit ihm wollen sie gewiss nicht an einem Tisch sitzen. Oder der Preis müsste obszön hoch ausfallen, damit sie eine solche Kröte zu schlucken bereit wären. Zudem sind die politischen Positionen aller Beteiligten mitunter derart konträr, dass auch im letzten Moment der Traum von einer Ablösung Netanyahus durch diese Sieben-Parteien-Monster-Koalition noch platzen kann.
Auch muss Lapid seine eigenen Ambitionen auf das Amt des Ministerpräsidenten erst einmal zurückschrauben. Man habe sich ebenfalls auf ein Rotationsverfahren verständigt, heißt es aus den Kreisen der Verhandlungspartner. Offiziell ist das Ganze noch nicht. Aber sollte die Koalition der nationalen Einheit es wirklich schaffen, alle Hürden zu überwinden, würde Bennett die ersten beiden Jahre den Posten des Ministerpräsidenten bekleiden, anschließend Lapid, der so lange dann Außenminister sein würde. Das Finanzressort ginge an Lieberman – so viel sickerte bis dato nach außen. Und Ra’am, nicht in der Koalition selbst, beansprucht eine zentrale Rolle im einem der wichtigen Knesset-Komittees, sehr wahrscheinlich das für innere Angelegenheiten oder Wirtschaft. Auf diese Weise wollen sie Restriktionen für illegal errichtete Gebäude wieder rückgängig machen und mehr Aufbauhilfen für die beduinischen Gemeinden im Süden des Landes.
Was das Hauen und Stechen dieser Tage unabhängig vom Ausgang der Koalitionsverhandlungen auf jeden Fall verstärkt hat, ist die Verdrossenheit der meisten Israelis. Eine Umfrage von Kanal 12, ausgeführt vom Migdam-Institut, förderte zwar zutage, dass 47 Prozent eine Einheitsregierung befürworten und nur 43 Prozent diese ablehnen würden. Die Tatsache aber, dass 76 Prozent angaben, dass sie die Nase voll haben von den politischen Zuständen im Land und sogar 83 Prozent sagten, dass sie den Eindruck hätten, die Politiker würden sich nicht um die Belange der Staatsbürger scheren, spricht bereits Bände.
Bild oben: V.l.: Yair Lapid, Foto: Levy Dudy / Naftali Benett, Foto: Reda Raouchaia / Gideon Sa’ar, Foto: Ziv Koren, CC BY-SA 4.0