Nietzsche und der Antisemitismus

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Bild oben: Portät Friedrich Nietzsches, 1882; Das zugrunde liegende Original stammt aus einer Serie von 5 Profilfotographien des Naumburger Fotographen Gustav-Adolf Schultze, Anfang September 1882.

War er’s nun? War er’s nicht, Antisemit selbstredend? Spätestens seit Hitler, seit der Indienststellung beider, Wagners und Nietzsche, für dessen menschenverachtende Sache, tobt der Streit um diese Frage, bis hin zum Versuch neu-rechter Ideologen wie Siegfried Gerlich und Michael Klonovsky, Wagner, unter Bagatellisierung seines Antisemitismus, für die Sache der AfD Alexander Gaulands zu vereinnahmen. Unser Autor, ein Nietzscheforscher, der nichts gegen Wagners Musik hat, gibt eine sybillinische Antwort auf die Ausgangsfrage: Nietzsche war (rhetorischer) Antisemit (unter Wagnereinfluss) als junger Mann und entschiedener Anti-Antisemit als zur Reife und seiner Überzeugung gelangter Mit-Dreißiger, also etwa ab 1878. 

Von Christian Niemeyer


Nietzsche als Antisemit
 

Gut drei Jahre nach Wagners Tod rang sich Nietzsche zu einem merkwürdigen, halbherzigen, auch etwas verquast formulierten Geständnis durch:

„Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum Beispiel über die Juden: man höre.“ (KSA 5: 192 f.)[1]

Der Kontext erlaubt keinen Zweifel: Nietzsche redet hier, für den Experten erkennbar, von Tribschen, genauer: von seinen insgesamt 23 Besuchen dort zwischen Pfingsten 1869 und Mai 1872 in Wagners Schweizer Residenz; und er deutet an, dass ihm Wagner damals einige Lektionen erteilte auch über den Antisemitismus – und Nietzsche seinerzeit allzu bereit gewesen war, diesen Folge zu leisten.

Wie ‚infiziert’ Tribschen damals war, zeigt ein Blick in den 1869 in zweiter Auflage vorgelegten Wagner-Aufsatz Das Judentum in der Musik: „Der Jude“, so Wagner an charakteristischer Stelle in diesem nicht zuletzt durch Ressentiments gegenüber den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer geprägten, erstmals 1850 unter Pseudonym erschienenen Pamphlet, „fällt uns im gemeinen Leben zunächst durch seine äußere Erscheinung auf, die […] etwas […] Fremdartiges hat: wir wünschen unwillkürlich mit einem so aussehenden Menschen Nichts gemein zu haben.“ (GSD 5: 69)[2] In diesem Stil geht es seitenlang weiter, kulminierend in dem Befund, dass „[d]er Jude, der an sich unfähig ist […], sich uns künstlerisch kundzugeben, […], nichtsdestoweniger es vermocht [hat], in der […] Musik zur Beherrschung der öffentlichen Meinung zu gelangen.“ (GSD 5: 73) Das Ganze endet mit der – nun direkt an ‚die’ Juden gerichteten – Mahnung:

„[B]edenkt, dass nur Eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasver’s, – der Untergang!“ (GSD 5: 85)

Auch wenn nach Meinung zahlloser Experten wie Hubert Cancik (1997/98: 77), Jens Malte Fischer (2000: 85 ff.), Saul Friedländer (2000: 168) und Dieter Borchmeyer (2002: 385) die letztgenannte Vokabel nicht im Sinne der Forderung nach physischer Vernichtung zu deuten ist, sondern, beispielsweise, auf das Projekt der Assimilierung des Juden durch Übertritt zum Christentum verweist, Wagner also, so auch der neu-rechte Ideologe Siegfried Gerlich, „keinen Kampf gegen die Juden [führt], sondern sie […] entschieden zur Mitwirkung“ am „Menschheitskampf“ pro „Erlösung von der Häßlichkeit der modernen Welt überhaupt“ (Gerlich 2013: 166) auffordert, besteht zumal in Anbetracht der Einwände von Paul Lawrence Rose (2000: 289 ff.) sowie der weiter gehenden Erwägungen von Hartmut Zelinsky (2000; 1976), Annette Hein (1997: 202) und Joachim Köhler (1997: 415 ff.) kein Anlass zur Beruhigung, etwa nach Art von Martin Geck in seiner weitverbreiteten Rowohlt-Monographie von 2004. „Wagners Antisemitismus ist ein Gewächs aus jenem Zaubergarten, den man Abendland, Zivilisation, Moderne oder wie auch immer nennt“ (Geck 22011: 163), merkt dieser hartgesottene Wagnerianer an, deutlich machend, dass ihn das ganze Thema nervt (weswegen er auch keinen der Vorgenannten, insonderheit Rose und Köhler sowie, noch gar nicht erwähnt, Marc A. Weiner, auch nur beim Namen nennt). Sehr viel seriöser in dieser sowie fast allen anderen Fragen Ulrich Drüner in seiner großartigen Biographie Richard Wagner. Die Inszenierung eines Lebens (2016), die keinen Zweifel an Wagners Antisemitismus und dessen Bedeutung für Nietzsches Abwendung von Wagner lässt. (Drüner 2016: 634 ff.; passim)

Gleichwohl ist bei Wagnerianern Bagatellisierung nach wie vor en vogue, wie der Einspruch des neu-rechten Ideologen Michael Klonovsky gegen Marc A. Weiner zeigt, dem er „eine Form von Antisemitismus-Unterstellung aus schierer Chuzpe des Unterstellers“ vorwirft, „frei nach La Rochefoucauld: Besser, es wird schlecht von einem geredet als gar nicht.“ (Klonovsky 2015: 117) Belege für diesen Vorwurf, anhand des von Weiner Vorgetragenen? Fehlanzeige – selbst Weiners (1995/2000: 39 ff.) nachdrücklich zumal anhand des Mainstream der deutschsprachigen Wagnerforschung erläuterten Argumente bezüglich der Beiseitesetzung der auf Antisemitimus in Wagners Opernwerk hinweisenden Aspekte bleiben unerwidert. So betrachtet war es Weiner selbst, der den Nachweis führte, dass und warum Klonovsky mit seinem Einspruch kein Alleinstellungsmerkmal reklamieren kann, wie auch am Wagner betreffenden Eintrag (vgl. Nowakowski 2009) im Handbuch des Antisemitismus gezeigt werden könnte. Auch in einem vergleichbar prominenten einschlägigen Handbuch konnte man noch 2008 in einem von Borchmeyer mitverfassten Text lesen, in Wagners Schriften spiele die Judenfrage nach 1850 „nur noch eine periphere Rolle – ganz zu schweigen von seinem musikdramatischen Werk.“ (Borchmeyer/Figl 2008: 173) Freilich: Borchmeyer, anders als Klonovsky nicht bloß Fan, sondern Experte, kann kaum unbekannt sein, dass das Gegenteil richtig ist. Der 1869 wieder veröffentlichte Aufsatz von 1850 steht für den „Beginn von Wagners Antisemitismus im Sinne eines kulturpolitischen Konzepts.“ (Wagner 1997: 92; ähnlich Chamberlain 1933: 224 f.; Zelinsky 2000: 312 f.) Und dieses Konzept programmgemäß bis in alle Einzelheiten umzusetzen, war offenbar der zentrale, erstmals von Hitlers Jugendfreund August Kubizek beglaubigte Wahn und Handlungsimpuls des ‚Führers’ – der durch die Hitlerbegeisterung Winifred Wagners und die komplementäre Begeisterung Hitlers für diese auf fatale Weise Verstärkung erfuhr. (vgl. Hamann 2002; Wagner 1945; Kubizek 1953: 83 ff.) Wagner selbst sprach denn auch noch zehn Jahre später (im Oktober 1879), nun längst in Bayreuth residierend, voller Stolz und im Blick auf eine gerade gehaltene Rede des antisemitischen Hofpredigers Adolf Stoecker davon, dass sein 1850er Aufsatz „den Anfang dieses Kampfes gemacht“ (Wagner 1976, Bd. 3: 424) habe – eine Einschätzung, die der Hitlervorläufer Theodor Fritsch (301931) im von ihm herausgegebenen antisemitischen Handbuch der Judenfrage teilte. Einzig unser einleitend erwähnte, von Klonovsky erstaunlicherweise ignorierte neu-rechte Ideologe aus dem Lager der Antaios-Autoren, Siegfried Gerlich, setzt all diese Zeugnisse beiseite und behauptet hartnäckig, dass „sich der moderne Antisemitismus […] aus anderen Quellen [speiste].“ (Gerlich 2013: 186)

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang, dass Gerlich zwar um Wagners Tagebuchaufzeichnungen (1865) weiß, ihnen aber lediglich das von ihm als „ethische Forderung“ zu lesende Diktum Wagners zu entnehmen weiß, dass „die Begierde, über fremde Völker zu herrschen, […] undeutsch [ist].“ (zit. n. Gerlich 2013: 56) Was für eine selektive Lektüre – die als solche erst deutlich wird, wenn man bedenkt, dass diese Tagebuchaufzeichnungen gedacht waren zur politischen Belehrung seines ihm verfallenen bayerischen Königs Ludwigs II., und zwar in der Absicht, dass Wagner im Interesse einer gedeihlichen Sicherstellung wahrhaften Deutschtums seinerzeit für sich am bayerischen Hof unter dem Schutz seines Mäzen jenen Platz beanspruchte, den Voltaire, Wagner zufolge mit hemmenden Folgen für die Regeneration des deutschen Geistes, in Sanssouci innegehabt hatte. (vgl. Naegele 1995: 107 ff.; Köhler 1997: 139 ff.; ohne Blick für diese Zusammenhänge, den Namen Voltaire schuldig bleibend: Geck 22011) Dabei handelte Wagner – selbstredend, muss man gegen Gerlich sagen – die Deutschtumsproblematik in antisemitischer Denktradition ab, und zwar unter dem Stichwort „sonderbare Erscheinung des Eindringens eines allerfremdartigsten Elementes in das deutsche Wesen“, im Einzelnen:

„In der Natur ist es so beschaffen, dass überall wo es etwas zu schmarotzen giebt, der Parasit sich einstellt: ein sterbender Leib wird sofort von den Würmern gefunden, die ihn vollends zersetzen und sich assimilieren. Nichts anderes bedeutet im heutigen europäischen Culturleben das Aufkommen der Juden.“

Dass die Herausgeber dieses erstmals 1936 veröffentlichten Textabschnitts derlei Formulierungen als „auffallend ‚zeitgemäß’“ (Strobel 1936, Bd. IV: 19) lobten, will man gern glauben: Schließlich ging man in jenen Jahren daran, das ‚deutsche Wesen’ endgültig von jenem ‚allerfremdartigsten Element’ zu befreien. Der Tendenz nach scheute Wagner vor einem in dieser Richtung weisenden Ratschlag an Ludwig II. nicht zurück. „Die deutschen Fürsten lieferten den Misverstand, die Juden beuteten ihn aus“ (ebd.: 20), heißt es da beispielsweise im weiteren Argumentationsverlauf von einem, der nun alles daran setzt, diesen Fürsten zur Vernunft zu führen und als „Erlöser“ (ebd.: 33) der Deutschen zu präsentieren. Dass sich Ludwig II. zwar gerne in dieser Rolle gesehen hätte, aber der antisemitischen Einbettung der damit verknüpften Programmatik widerstand, gehörte dabei gewiss zu einem der tiefsten Stachel Wagners.

Damit mag in etwa die ‚geistige’ Lage in Sachen Antisemitismus skizziert sein, die Nietzsche in Tribschen zwischen 1869 und 1872 vorfand. Substantiell hat sich an dieser Konstellation mit Wagners Weggang nach Bayreuth wenig geändert, abgesehen von neuen Einflüssen, wie exemplarisch die Gobineau-Affäre lehrt, also Wagners fragwürdige Begeisterung für den französischen Rassetheoretiker Arthur Comte de Gobineau (dem Förster-Nietzsche eine Wirkung auch auf ihren Bruder anzudichten suchte). Wagners diesbezügliche Mesalliance hatte, nach flüchtigem Kennen lernen 1876 in Bayreuth und kurzem Wiedersehen 1880 in Venedig, ihren eigentlichen Höhepunkt im Mai 1881 in Bayreuth erreicht. (vgl. Schüler 1971: 235 ff.) Zu dieser Zeit war Wagner wohl noch der (wiederum irrigen) Meinung, er könne Ludwig II. für die Sache Gobineaus gewinnen. Gobineau sei bei ihm zu Gast und sie hätten sich gegenseitig so liebgewonnen, „dass vorläufig an ein Auseinandergehen nicht gedacht wird“ (Strobel 1936, Bd. III: 211), hatte er Ludwig II. wissen lassen. Auffällig ist dabei, dass sich Wagner ausgerechnet um die Zeit seiner höchsten Gobineau-Verehrung dahingehend vernehmen ließ, dass „alle Juden in einer Aufführung des ‚Nathan’ verbrennen“ sollten. In diesem, wie Cosima meinte, „heftigen Scherz“ (Wagner 1976, Bd. 4: 852) kombinierte er zwei Ereignisse: den Tod von über vierhundert jüdischen Zuschauern beim Brand des Wiener Ringtheater im Dezember 1881 sowie den Umstand, dass ein jüdischer Zuschauer bei einer anderen Aufführung jene Stelle in Lessings Nathan der Weise, in der davon die Rede ist, auch Christus sei ein Jude gewesen, mit einem lauten Bravo! kommentiert hatte.

Indessen bedurfte es nicht erst Gobineaus, um derlei ‚Scherze’ freizusetzen. So hatte der seinerseits antisemitische (zeitweilige) Nietzsche-Verleger Ernst Schmeitzner bereits im Mai 1878 gegenüber Heinrich Köselitz den in Bayreuth gefallenen Wagner-Satz kolportiert:

„Es giebt Wanzen, es giebt Läuse. Gut, sie sind da! Aber die brennt man aus! Leute, die das nicht thun sind Schweine!“ (KSA 15: 85)

Beim Thema Juden dachte Richard Wagner auch immer, und zwar bevorzugt ab 1879, dem Jahr des Berliner Antisemitismusstreits, an „Ratten und Mäuse“ (Wagner 1976, Bd. 3: 293), „Warzen“ (ebd.: 460) oder „Fliegen“ (ebd.: 599). Er wollte damit die in seiner Optik verachtenswertesten Eigenschaften dieser ‚Rasse’ kennzeichnen: nämlich ihre Fähigkeit, alle Widrigkeiten zu überleben; ihre Widerständigkeit gegenüber herkömmlichen Strategien der Ausrottung; und ihr massenhaftes Auftreten in durchgängig lästiger Gestalt. Dass die Juden, wie Wagner im Dezember 1879 meinte, „trichinenartig im Körper der anderen“ (ebd.: 454) schmarotzten, war allerdings ein Bedrohungsszenario, das er bereits, wie gesehen, in seinen Tagebuchaufzeichnungen von 1865 vorgeprägt hatte. Insoweit hat Gobineau derlei Radau-Antisemitismus möglicherweise befördert, aber gewiss nicht vorgeprägt.

Was Nietzsche angeht, so steht außer Frage, dass er sich von derlei seinerzeit in Tribschen anstecken ließ. Exemplarisch zeigt dies sein Brief (vom 22. Mai 1869) an Wagner zu dessen 56. Geburtstag: Nietzsche meinte, „vordringliches Judenthum“ sei dafür mitverantwortlich, wenn sich „fast alle Welt“ unfähig zeige, Wagners Weltanschauung zu würdigen und seine „Persönlichkeit als Ganzheit zu fassen.“ (KSB 3: 9)[3] Ganz ähnlich äußerte sich Nietzsche fast ein Jahr später (im März 1870) gegenüber Carl von Gersdorff. Dieser, der bis dato „nur die verjüdelte Presse über Deinen Freund [Wagner; d. Verf.] hatte faseln und schimpfen hören“ (KGB II/2: 164)[4], bekam aus Nietzsches Feder zu lesen: „Unsern ‚Juden’ – und Du weißt, wie weit der Begriff reicht – ist vornehmlich verhaßt die idealistische Art Wagners.“ (KSB 3: 105) Dies klingt ganz so, als sei er gerade von Wagner eingeführt worden in die Gründe, die für eine Neuauflage von Das Judentum in der Musik sprächen. Dass und wie intensiv man in jener Zeit in Tribschen über Fragen wie diese parlierte, zeigt der Streit um Nietzsches am 1. Februar 1870 in Basel gehaltenen Vortrag Socrates und die Tragödie. Nietzsche hatte ihn mit einer Invektive gegen die „jüdische Presse“ (KSA 14: 101) ausklingen lassen, was in Tribschen taktische Bedenken auslöste. Cosima, die Übermittlerin dieser Bedenken, hatte Nietzsche deswegen brieflich unter dem Datum des 5. Februar wissen lassen: „Sie misverstehen mich hoffentlich nicht; dass im Grunde der Seele ich Ihrem Ausspruch beistimme, werden sie wissen; allein jetzt noch nicht und nicht so; ich sehe förmlich das Heer von Mißverständnissen dass sich um sie aufwirbelt.“ (KGB II/2: 140) Die Bereitwilligkeit, mit der Nietzsche die von Cosima inkriminierte Passage unterdrückte und fortan einen Geheimcode bevorzugte, in dem Ausdrücke wie ‚sokratisch-optimistische Kultur’ für das einstanden, was er zuvor noch als ‚jüdische Welt’ bezeichnet hatte (vgl. Köhler 1996: 91), könnte ein Hinweis dafür sein, dass der Antisemitismus des frühen Nietzsche im Wesentlichen für Rhetorik stand und dem Zweck diente, Wagner unbedingte Ergebenheit zu signalisieren.

Dieser Hintergrund mag dann auch erklären, warum Nietzsche im Juni 1871 seinen bis dato im deutsch-französischen Krieg aktiv gewesenen, nun aber demobilisierten Freund Gersdorff meinte versichern zu können:

„Unsre deutsche Mission ist noch nicht vorbei! Ich bin muthiger als je: denn noch nicht Alles ist unter französisch-jüdischer Verflachung und ‚Eleganz’ und unter dem gierigen Treiben der ‚Jetztzeit’ zu Grunde gegangen. Es giebt doch noch Tapferkeit und zwar deutsche Tapferkeit, die etwas innerlich Anderes ist als der élan unserer bedauernswerthen Nachbarn.“ (KSB 3: 203)

Mazzino Montinari kennzeichnete den Geist, in dem dieser – von rechten Interpreten wie Ernst Bertram (1918: 81) mit Begeisterung zitierte – Brief gehalten war, mit den Worten: „Wagner hätte es nicht anders sagen können.“ (Montinari 1991: 55) Vielleicht darf man hier noch ergänzen: Nietzsche hatte dies schon einmal ähnlich gesagt, nämlich im Fragment einer erweiterten Form der „Geburt der Tragödie“ von Anfang 1871. Hier findet sich eine wüste Polemik in Sachen der „gänzlich ungermanischen, ächt romanisch flachen Philosophie“ nebst einer Kampfansage in Richtung der „internationalen heimatlosen Geldeinsiedler“ mit dem Ziel, Zustimmung zu erlangen für einen „gelegentlich anzustimmenden Päan auf den Krieg“, der deutlich zu machen habe, „daß der Staat […] in Vaterlands- und Fürstenliebe einen ethischen Schwung aus sich erzeugt, der auf eine viel höhere Bestimmung hinweist.“ (KSA 7: 346) Warum Nietzsche diese „kaum verschlüsselte Kriegserklärung an das ‚internationale’ Judentum“ (Köhler 1996: 91) nicht in die Geburt der Tragödie übernahm, sondern lediglich in die knapp zwei Jahre später erstellten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern einfließen ließ, ist unklar. Man darf aber vermuten, dass Nietzsche seinem Erstling nicht unnötige Brisanz verleihen, zugleich aber doch sichergestellt wissen wollte, dass der ‚Meister’ wenigstens erfuhr, wie sehr Nietzsche noch Ende 1872 wie Wagner zu reden bereit war.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass einem auch in Nietzsches in eben jenen Jahren verfassten ‚Erstling’ Antisemitisches begegnet, etwa zum Ende dieser Schrift hin. Thema ist hier der „deutsche Geist“, der trotz des „abstracten Charakters unseres mythenlosen Daseins“ unzerstört ruhe und träume und dem Nietzsche meint in Aussicht stellen zu können, dass er sich eines Tages wieder wach finden werde, „in aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken.“ (KSA 1: 153 f.) Dies nämlich klingt verdächtig nach jener Mission, die Wagner einige Jahre zuvor seinem Mäzen Ludwig II. nahe zu bringen versucht hatte, ebenso übrigens wie der Zusatz:

„Glaube Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren hat, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen.“ (KSA 1: 154)

Die Vogelstimme, die Nietzsche hier meint, ist jene Wagners, der sich seinerseits gelegentlich ja auch Ludwig II. gegenüber in der Gestalt eines „gutgelaunten Waldvögleins“ (Strobel 1936, Bd. I: 224) zu Gehör bringen wollte. Wagner verpflichtet ist auch Nietzsches Reden von der „langen Entwürdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienste tückischer Zwerge lebte.“ Nietzsche fügt dieser Formulierung den Satz an: „Ihr versteht das Wort – wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet.“ (KSA 1: 154) Gerade weil diese Formulierung die Gestalt einer Art Geheimbotschaft für Eingeweihte annimmt, ist nun kaum noch Zweifel möglich: Nietzsche schließt sich hier in verschlüsselter Form dem Antisemitismus Wagners und dessen Strategie an, den Ring des Nibelungen auch als Moritat auf die Unterdrückung des deutschen Genius (Siegfried) durch die ‚tückischen Zwerge’ Mime und Alberich auszudeuten. Dass Nietzsche Jahre später die Auffassung vertrat, sein Wort von den tückischen Zwergen habe sich auf „die christlichen Priester“ (KSA 6: 310) bezogen, will man gern glauben: So muss man offenbar reden, wenn man sich des eigenen Kommentars zu den eindeutig als „Judenkarikaturen“ (Adorno 1964: 21; Weiner 1995/2000: 30 ff.; Levin 2000) auszumachenden Wagner-Figuren schämt und die inzwischen eingenommene Position des Anti-Antisemitismus beglaubigen will.

Brisant ist auch Nietzsches Ausdeutung der Prometheussage. An sich verkörpert Prometheus, wie ein Rückblick auf den gleichnamigen Einakter des Vierzehnjährigen lehrt, „den ‚muthaften’ Teil der Persönlichkeit und des Denkens Nietzsches.“ (Schmidt 1983: 217) Was einem jedoch in der Geburt der Tragödie begegnet, ist der riskante Versuch, die Prometheussage mit arischen Vorzeichen zu belegen und abzugrenzen vom Sündenfallmythos und dem sich darin angeblich bezeugenden semitischen Wesen. (vgl. Cancik 1997/98: 74) Diese Konstruktion, von der nicht eben selten belegfrei behauptet wird, Nietzsche nähme hier auf Gobineau „Bezug“ (Hartwich 1996: 186), legt die Vorstellung nahe, dass die Erlangung des „Besten und Höchsten, dessen die Menschheit theilhaftig werden kann“ (KSA 1: 69), einen sich gleichsam in die Würde eines männlich-arischen Charakterzugs erhebenden Frevel gegen den Götterwillen erfordert, wie er sich beispielsweise in dem von Prometheus riskierten Griff zum Feuer dokumentiert. Den weiblich-semitischen Charakter des Sündenfallmythos hingegen suchte Nietzsche mit Attributen wie „Neugierde“, „lügnerische Vorspiegelung“, „Verführbarkeit“ oder „Lüsternheit“ (KSA 1: 69) zu fassen. Noch sechs Jahre später wird er in einem unveröffentlichten Fragment Attribute wie „[f]urchtbare Wildheit, das Zerknirschte Vernichtete, der Freudenschrei, die Plötzlichkeit“ als „Eigenschaften, welche den Semiten innewohnen“, auflisten und als Erklärung dafür anbieten, „semitische Rassen“ kämen „der Wagnerischen Kunst verständnissvoller entgegen als die arische.“ (KSA 8: 549) Dies war zwar an sich nur ein kleiner Sarkasmus mehr in Richtung des von ihm inzwischen als Antisemiten geouteten Bayreuthers; es war aber auch nicht ganz im Unernst gesprochen, wie die vorgenannte Passage aus der Geburt der Tragödie ebenso zeigt wie Aph. 135 aus Die fröhliche Wissenschaft, in dem davon die Rede ist, dass die Sünde für ein „jüdisches Gefühl“ zeuge und das Christentum insoweit tatsächlich darauf aus sei, „die ganze Welt zu ‚verjüdeln’.“ (KSA 3: 486)

Insbesondere dieser Passus macht deutlich, dass Nietzsche in der Geburt der Tragödie nicht eigentlich „rassenideologisch-antisemitisch [argumentiert], wohl aber in antijudaistischem, und das heißt vor allem antichristlichem Interesse.“ (Reibnitz 1992: 249) Die politische Problematik dieser Konstruktion wird dadurch kaum gemildert: Nietzsche öffnete auf diese Weise das Semitische für antisemitische Propaganda. Insoweit ist es von äußerster Wichtigkeit, dass Nietzsche im März 1887 brieflich gegenüber Theodor Fritsch sein Unbehagen eingestand hinsichtlich der von Antisemiten betriebenen „beständigen absurden Fälschungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe ‚germanisch’, ‚semitisch’, ‚arisch’, ‚christlich’, ‚deutsch’.“ (KSB 8: 51) Statt ‚arisch’ ist in Nietzsches Spätwerk denn auch zunehmend von ‚aristokratisch’ die Rede. Beachtet werden muss auch, dass zumindest der späte Nietzsche seine antichristlich orientierte Judenkritik von rassenideologischen Antisemitismen freihalten wollte. Dies bezeugt sein in Jenseits von Gut und Böse dargebotenes Wort, wonach die jüdische „ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse [ist], die jetzt in Europa lebt“, und zwar dies „vermöge irgend welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte.“ (KSA 5: 193) Spätestens dieses Wort führt uns zu der Frage, ob, ab wann, in welcher Hinsicht und mit welchen Folgen Nietzsche als Anti-Antisemit zu betrachten ist.

Nietzsche als Anti-Antisemit 

Nietzsches (spätes) Selbstverständnis als „Anti-Antisemit“ (KSB 7: 147) gipfelt in der Klage vom Herbst 1888, Antisemiten hätten ein Ziel, das „handgreiflich bis zur Unverschämtheit ist: das jüdische Geld.“ Hiermit hat Nietzsche die eigentlichen Motive für Auschwitz als „Raubmord an den Juden“ (Aly 2005: 311) auf den Begriff gebracht. Als „Definition des Antisemiten“ folgt: „Neid, ressentiment, ohnmächtige Wuth als Leitmotiv im Instinkt: der Anspruch des ‚Auserwählten’; die vollkommene moralistische Selbst-Verlogenheit.“ (KSA 13: 581) Diese Diagnose kulminiert in dem Vorsatz vom Oktober-November 1888, er müsse „dem Antisemitismus einen schonungslosen Krieg mache[n], – er ist einer der krankhaftesten Auswüchse der so absurden, so unberechtigten reichsdeutschen Selbst-Anglotzung…“ (KSA 13: 623). Schon dieses Argument zeigt, dass die von Mittmann vertretene, dem Grundzug nach von Förster-Nietzsche stammende These, Nietzsches Anti-Antisemitismus erkläre sich vor allem aus „negative[n] persönliche[n] Erfahrungen“ (Mittmann 2001: 7) mit den Protagonisten der antisemitischen Bewegung, nicht den Punkt trifft und offenbar allein dem Zweck dient, die in der Theorie des späten Nietzsche zu suchenden Gründe für diese Position auszublenden. Damit sei nicht behauptet, dass beispielsweise Nietzsches persönliche Erfahrung mit Fritsch vom März 1887 ohne jeden Belang ist, im Gegenteil: Nietzsches Urteil, es gäbe „keine unverschämtere und stupidere Bande in Deutschland als diese Antisemiten“ (KSA 12: 321), reflektiert erkennbar auf die Fritsch-Affäre. Dem folgt allerdings schon bald der erste theoretische Ertrag, etwa in Gestalt einer kühnen Umwertung antisemitischer Klischees:

„[D]ie Kunst zu lügen, das ‚unbewußte’ Ausstrecken lange, allzu langer Finger, das Verschlucken fremden Eigenthums [ist] mir an jedem Antisemiten bisher handgreiflicher erschienen als an irgend welchem Juden.“ (KSA 13: 611)

Der Sache nach wird man Thesen wie diese – von Nietzsches Schwester selbstredend nicht publiziert – fraglos als Emanzipationseffekt zu deuten haben. Denn wie im Vorhergehenden anhand des Stichworts ‚Tribschen’ gezeigt werden sollte, wurde Nietzsche zunächst durch ein alles andere als judenfreundliches Umfeld geprägt, kam also erst im etwas reiferen Alter zunehmend dazu, im näheren Kontakt mit Juden seine diesbezüglichen, nicht nur durch Wagner genährten Ressentiments auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, mit der auf die jüdische Schriftstellerin und (spätere) Nietzsche-Übersetzerin Helen Zimmern bezogenen Pointe (vom September 1886): „Der Himmel erbarme sich des europäischen Verstandes, wenn man den jüdischen Verstand davon abziehen wollte!“ (KSB 7: 249) Was den Beginn der so resümierten Erfahrung angeht, ist vor allem an Paul Rée zu denken, auf den auch ein Brief Nietzsches an den jüdischen Schriftsteller Siegfried Lipiner vom August 1877 hinweist, in welchem es heißt: Hingewiesen wurde Nietzsche auf Lipiner von Rohde in einem Brief voller antisemitischer Klischees wie beispielsweise: „der schiefbeinigste aller Juden[,] aber mit einem nicht unsympathischen, schüchtern sensiblen Zuge in seinem gräulichen Semitengesicht.“ (KGB II 6/2: 595) Im Vergleich dazu blieb Nietzsche gegenüber Lipiner geradezu demonstrativ vornehm:

„[S]agen Sie mir sodann ganz unbefangen, ob Sie in Hinsicht auf Herkunft in irgend einer Beziehung zu den Juden stehen. Ich habe nämlich neuerdings so manche Erfahrungen gemacht, die mir eine sehr grosse Erwartung gerade von Jünglingen dieser Herkunft erregt hat“ (KSB 5: 274)

– ‚Jünglinge’ wie Rée. Vor diesem Hintergrund ist es jedenfalls irritierend, dass Nietzsche im August 1883 seiner Enttäuschung über Rées Verhalten in der Lou-Affäre ausgerechnet mittels antisemitischer Spottverse meinte Ausdruck verleihen zu müssen (KSA 6: 433).

Lou von Salomé spannt Paul Rée und Friedrich Nietzsche vor ihren Karren. Fotographie im Atelier Jules Bonnet in Luzern zwischen dem 13. und 16. Mai 1882. 

Nietzsches Freundschaft mit Rée begann im März 1876, fiel also in eine Phase der ohnehin schon absehbaren Ablösung Nietzsches von Wagner. Auch die Bayreuther übersahen nicht die Bedeutung der Sympathie Nietzsches für Rée. Der Anlass, in dieser Hinsicht aufmerksam zu werden, schien eher banal: Als Wagner mittels seiner ersten Nachricht an Nietzsche nach den Bayreuther Festspielen die Bitte vortrug, ihm Baseler Seidenunterwäsche zu besorgen, sprich: als Wagner den Versuch unternahm, den „flüchtigen Jünger […] noch einmal durch die Reifen springen“ (Köhler 1996: 133) zu lassen, blieb Nietzsche auffällig reserviert: Wagner habe ihm zwar, so eröffnete er seinen Antwortbrief von Ende September 1876, mit diesem „kleinen Auftrag“ eine Freude gemacht und „an die Tribschener Zeiten“; dem folgte aber sofort der mit Blick auf Nietzsches Festspielenttäuschung unmissverständliche Satz: „Der Herbst, nach diesem Sommer, ist für mich, und wohl nicht nur für mich allein, mehr Herbst als ein früherer.“ (KSB 5: 190) Die eigentliche Provokation aber enthielt die Schlussformel dieses Schreibens: Nietzsche gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die „herzlichsten Wünsche […] Ihnen als gute Begleiter folgen mögen: Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin, meiner ‚edelsten Freundin’ um dem Juden Bernays einen seiner unerlaubtesten Germanismen zu entwenden.“ (KSB 5: 192) Schon diese ironische Anspielung auf Cosima Wagners Antisemitismus dürfte durch Rée befördert worden sein, mit dem Nietzsche nur vier Tage später zusammentraf, um mit diesem, einem späteren Zeugnis Rées zufolge, die „Flitterwochen“ (KGB II 6/2: 717) ihrer Freundschaft zu zelebrieren.

Von diesen Zusammenhängen konnten die Wagners allenfalls etwas ahnen, als sie Nietzsches Antwort mit jener auffälligen Schlussformel erhielten. Immerhin waren sie nun gewarnt und bekamen nur vier Wochen später Gelegenheit, ihre Vermutung zu überprüfen. Dabei half ein Zufall nach. Denn nicht nur die Wagners waren inzwischen nach Sorrent weitergereist, sondern auch Nietzsche und Rée hatte der Weg über Genua nach Sorrent geführt. Nietzsche wollte dort auf Einladung Malwida v. Meysenbugs den Winter zubringen, in der Absicht, seine Aufzeichnungen zu Menschliches, Allzumenschliches weiterzuführen. Schon die räumliche Nähe machte es dabei erforderlich, den Wagners einen Besuch abzustatten, was dann auch Ende Oktober seitens der drei Genannten geschah. Brisanter aber als dieser Besuch verlief offenbar jener Rées, der wenige Tage später allein bei den Wagners erschien und diesmal keinen günstigen Eindruck hinterließ. Rée spreche durch sein „kaltes, pointiertes Wesen“ nicht an, notierte Cosima in ihr Tagebuch, um hinzuzufügen: „[B]ei näherer Betrachtung finden wir heraus, daß er Israelit sein muß.“ (Wagner 1976, Bd. II: 1012)

Den Sprengstoff, den dies in sich barg, wurde erst nach Erscheinen von Menschliches, Allzumenschliches im Mai 1878 offenkundig. Nietzsche, nun plötzlich zur Empörung Wagners Voltaire als „Befreier des Geistes“ (KSA 2: 10) huldigend, schreckte in Aph. 475 nicht davor zurück, es im Interesse der „Vernichtung von Nationen“ (neudeutsch gesprochen: der europäischen Einigung) für geboten zu erklären, dass jeder Deutsche lernt, sich als „guten Europäer aus[zu]geben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen [zu] arbeiten.“ (KSA 2: 309) Im Übrigen, so Nietzsche weiter, diesmal mit erkennbarem Seitenblick nicht auf Wagners Deutschtumsvision, sondern auf dessen Aufsatz Das Judenthum in der Musik, müsse es als „litterarische Unart“ gelten, „die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen“; „der Jude“ sei im Interesse der „Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse […] als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest.“ (KSA 2: 310) Hierzu passt, dass jener Aufsatz Wagners im Nachlass aus jener Zeit unter der Rubrik einer – für Wagner aus Gründen der „Parteizucht“ notwendigen –  „Hetzpeitsche“ (KSA 8: 557) gelistet wird.

Für die Bayreuther war die Sache auch in Unkenntnis dessen klar: Aph. 475 war ihnen „ein Beispiel mehr für die verhängnisvolle Wirkung des Judentums, das nun auch Nietzsche in seinen Bann gezogen habe.“ (Borchmeyer / Salaquarda 1994: 1329) Entsprechend enthüllte Cosima einer Freundin den ihrer Meinung nach letzten Grund für den Wandel in Nietzsches Anschauungen:

„Schließlich kam noch Israel hinzu in Gestalt eines Dr. Rée, sehr glatt, sehr kühl, gleichsam durchaus eingenommen und unterjocht durch Nietzsche, in Wahrheit aber ihn überlistend, im Kleinen das Verhältnis von Judäa und Germania.“ (zit. n. Du Moulin Eckart 1929: 842)

Das Bild, das Cosima hier nutzte, entstammt dem von Wagner geschätzten (vgl. Wagner 1976, Bd. III: 30) antisemitischen Pamphlet Der Sieg des Judentums über das Germanentum (1879) von Wilhelm Marr. Auch Wagner selbst wurde nun tätig und nahm sich Nietzsche im August 1878 in den Bayreuther Blättern wegen Menschliches, Allzumenschliches zur Brust, „aber ohne daß irgendeiner, der nicht ganz eingeweiht sei, etwas merk[t].“ (Wagner 1976, Bd. 3: 143) Wohl wahr: Der Name Nietzsche fällt nicht, gleichwohl sah er sich hier mit dem Wort abgefertigt, nun „mitten unter dem Judenthum“ (GSD 10: 87) zu stehen. Dass Förster-Nietzsche derlei später (1897) bagatellisierte, indem sie davon sprach, „Antisemiten“ hätten sich seinerzeit der – auf schlichter Antipathie beruhenden – Skepsis Wagners gegenüber Rée „bemächtigt“ (Förster-Nietzsche 1897: 307), will man gerne glauben angesichts ihrer auf strategische Friedfertigkeit nach allen Seiten (auch via Bayreuth) hin ausgerichteten Politik. Nietzsche selbst hatte da klarer gesehen: Ihm war Wagners 1878er Polemik sowie die ihr zugrunde liegende antisemitische Lesart seiner Freundschaft zu Rée nicht verborgen geblieben, wie auch die Erinnerung Overbecks (aus dem Jahr 1893) zeigt, wonach er seinerzeit von Nietzsche viel gehört habe „vom Anstoss, den ihnen [Cosima und Richard Wagner; d. Verf.] dabei Rées Gegenwart gewährte, und vom Interesse[,] den jene Tage für einen Geschichtsschreiber des Antisemitismus in seiner Kindheit nun haben könnten.“ (Hoffmann / Peter / Salfinger 1998: 376) Aufschlussreich ist auch eine Nachlassnotiz vom Sommer 1878, in welcher Nietzsche Wagners blinde Verleugnung des Guten jener sehenden Verleugnung Cosimas kontrastiert und als Exempel die Namen Lipiner und Rée auflistet. (KSA 8: 548).

Beziehen wir all dies ein, inklusive der Aufzeichnungen Nietzsches  aus jener Zeit, wird deutlich, wie absurd Mittmanns These ist, der Bruch mit Wagner habe zu „keiner grundsätzlichen Revision“ von Nietzsches (autarker) Judenverachtung geführt, im Gegenteil: „Nietzsche [konkretisierte] zu Beginn der achtziger Jahre sein Bild von den Gefahren, die vom Judentum ausgehen könnten.“ (Mittmann 2001: 112) Wer so daherredet und dies noch Jahre später wiederholt (Mittmann 2006: 178; 2009: 566), kennt die Fakten nicht oder verdreht sie absichtsvoll. (vgl. Niemeyer 2008: 480 ff.) Zu diesen Fakten gehört auch, dass Nietzsche Wagners Antisemitismus zunehmend beschäftigte. „Wie sich nur ein solcher Mann so tyrannisieren lassen kann! Z. B. durch seinen Judenhass“ (KSA 8: 502), heißt es da beispielsweise von einem, der plötzlich merkt, dass Wagner noch viele Rätsel in sich birgt, zumal wenn gilt, was Nietzsche erstmals im Herbst 1880 als These formuliert:

„[D]er Kampf gegen die Juden [ist] immer ein Zeichen der schlechteren, neidischeren und feigeren Naturen gewesen: und wer jetzt daran Theil nimmt, muß ein gutes Stück pöbelhafter Gesinnung in sich tragen.“ (KSA 9: 254)

Ein Jahr später, in Aph. 205 der Morgenröthe, nimmt sich Nietzsche unter dem Titel Vom Volke Israel die gängigen antisemitischen Klischees der Reihe nach vor, um sie einer weiträumigen Umwertung zu unterziehen. Ein Beispiel: Der ‚dem’ Juden häufig nachgesagte Hang zum Wucher scheint Nietzsche durchaus verständlich als „Folterung ihrer Verächter“, ohne welche die Juden „es schwerlich ausgehalten hätten, sich so lange selbst zu achten.“ Die Prämisse dieses neuen, ideologiekritischen Blicks auf die Geschichte des Antisemitismus lautet: „Man hat sie verächtlich machen wollen, dadurch dass man sie zwei Jahrtausende lange verächtlich behandelte und ihnen den Zugang zu allen Ehren, zu allem Ehrbaren verwehrte“ (KSA 3: 181) – aber damit, so darf man Nietzsche verstehen, muss nun Schluss sein. Dass Nietzsche gerade diesen Aphorismus Theodor Fritsch anempfahl (KSB 8: 45) zwecks Korrektur seines fehlgreifenden Ansinnens, ihn für die Sache des Antisemitismus gewinnen zu wollen, kann man nur allzu gut verstehen, ebenso: dass ohne diesen 1935 von Franz Kobler (1935: 334 f.) wohlweislich ins Zentrum gerückten, in neuer Zeit aber zumeist unbeachteten (so bei Aschheim 1997/98: 16; Mittmann 2001: 30; 2006: 40; löbliche Ausnahme: Yovel 1998: 127) Deutungshinweis manche Passage von Aph. 205 judenfeindlich klingt, was die Aufnahme gerade dieses Aphorismus in die von Hitler viel genutzte (Ryback 2009: 106) Auswahledition Eitelfritz Scheiners (1934: 16 ff.) – und dieser Richtung zuzuordnenden (etwa Förster-Nietzsche 1927: 158 ff.) – erklären mag. Nur konsequent scheint es denn auch, dass Nietzsche in jenem bereits erwähnten Aph. 251 von Jenseits von Gut und Böse Heinrich v. Treitschke als ‚antisemitischen Schreihals’ „des Landes zu verweisen” (KSA 5: 194) erwägt. Dass er dies vorschlug, um den „schlafenden Hund nicht zu wecken“ (Mittmann 2001: 51), sprich: um den Juden den Vorwand zu nehmen, vorbeugend die Herrschaft in Europa anzutreten, ist eine unhaltbare Annahme Mittmanns, die im Übrigen nicht zu Nietzsches gegenüber Fritsch geltend gemachter Lesart von Aph. 205 der Morgenröthe passt (die Mittmann denn wohl aus diesem Grunde erst gar nicht erwähnt).

Und doch bleibt eine Frage: Warum reagierte Nietzsche erst 1886 auf einen Vorgang, der ins Jahre 1879 zurückweist und über den er durch Treitschkes Jugendfreund, seinen Basler Kollegen Franz Overbeck, der sich nicht zuletzt Nietzsches wegen mit Treitschke überwarf (vgl. Ferrari Zumbini 1993: 131; 2003: 130; Sommer 1997: 84 f.), eigentlich recht gut informiert war? Dabei wird man in diesem Zusammenhang von der Erwägung Siegfried Gerlichs absehen dürfen, der in seinem politisch motivierten Wahn, Antisemitismus, wo immer es geht, in Abrede zu stellen, auch Treitschke beizustehen suchte und die auf ihn bezügliche Rede als Urheber des Berliner Antisemitismusstreits für missverständlich erklärte, weil es „doch gerade die sich als ‚Antisemitismus‘ bekennenden Judenfeindschaft [war], die Treitschke mit großer Sorge zu ‚unseren Aussichten‘ zählte.“ (Gerlich 2013: 191) Man darf gewiss sein: mit einem solchen Verteidiger an seiner Seite, dürfte Alexander Gauland mit seiner vermutlich demnächst einzureichenden Klage Erfolg habe, er habe mit seiner Vokabel ‚Vogelschiss‘ auf Missstände in der Ornithologie hinweisen wollen. Warum aber, so sei gleichwohl noch einmal gefragt, reagierte Nietzsche erst so spät auf Treitschke sowie, und diese Frage wird im Folgenden im Zentrum stehen: Warum war Nietzsches Kritik an Wagner 1886, in jenem Aph. 251, noch so vergleichsweise maßvoll?

Bei einer Antwort auf diese Frage ist es sicherlich hilfreich, sich zunächst noch einige andere in diese Richtung weisende Auffälligkeiten im Umgang des Anti-Antisemiten Nietzsche mit Wagner vor Augen zu führen. Sie deuten in der Summe auf Nietzsches Absicht hin, den Antisemitismus Wagners, nachdem er auch für ihn zum Problem geworden war, möglichst harmlos zu erklären. So schrieb er in einer fragmentarischen Notiz vom Frühling/Sommer 1878: „[S]ollte Wagner ein Semite sein? Jetzt verstehen wir seine Abneigung gegen die Juden.“ (KSA 8: 500) Dies klingt fast erleichtert und sollte Nietzsche noch lange Jahre beschäftigen. So berichtete Resa v. Schirnhofer später, Nietzsche habe gesprächsweise in für ihn ganz ungewöhnlicher Weise darüber triumphiert, dass in Wagner das Blut derer fließe, die er immer verachtet habe. (vgl. Gilman 1981: 479) Und noch in einer von Nietzsche nur mit schlechtem Gewissen (KSB 8: 388) zum Druck freigegebenen Fußnote zu Der Fall Wagner heißt es: Wagners Vater „war ein Schauspieler Namens Geyer. Ein Geyer ist beinahe schon ein Adler…“ (KSA 6: 41) – Anspielungen nicht ohne Hintersinn. Denn der Name Adler ist, im Gegensatz zu dem Namen Geyer, ein verbreiteter jüdischer Familienname; und im Beruf des Schauspielers versinnbildlichte sich für Nietzsche der Inbegriff der gerade dem Juden abgenötigten „Anpassungskunst“ (KSA 3: 609). Worauf Nietzsche mit derlei Andeutungen also hinauswollte, war, ähnlich wie schon zehn Jahre zuvor, sein Bemühen, den von ihm häufig genug als „Schauspieler“ (KSA 6: 41) empfundenen Wagner in Sachen Antisemitismus weniger anzuschuldigen denn zu exkulpieren: indem er ihn als Fall jüdischen Selbsthasses aufbereitete.

Zwei Dinge setzte Nietzsche dabei zu Unrecht voraus: Die Vaterschaft des Wagner-Stiefvaters Ludwig Geyer sowie dessen Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben. Insbesondere dieser Hintergrund gab zumal in der Wagnerforschung hinlänglich Anlass, diese Einlassungen Nietzsches mit gebührender Verachtung zu strafen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder verwiesen auf die von Cosima überlieferte Antwort Wagners („Das glaube ich nicht“) auf ihre diesbezügliche Frage vom Dezember 1878: „Vater Geyer ist gewiß dein Vater gewesen.“ (Wagner 1976, Bd. 3: 272) Immerhin aber macht dieser von Dieter David Scholz als „unmißverständlich“ (Scholz 1993: 62) verrechnete Beleg auch deutlich, dass selbst Cosima noch 1878 mit großer Selbstverständlichkeit von der Triftigkeit dieses damals weit verbreiteten Gerüchts ausging und im Hause Wahnfried Wagners Stiefvater unter dem Titel ‚Vater Geyer’ Thema war. Im Übrigen hatte dieser seinerseits Missverständnisse ausgelöst. Denn er bestand darauf, Wagner habe sich in der Schule als ‚Richard Geyer’ auszugeben. Auch wurde Wagner noch sechs Jahre nach dem Tod des Stiefvaters, also 1827, auf den Namen Wilhelm Richard Geyer konfirmiert. (vgl. Scholz 1993: 61) Und schließlich gibt es gute Gründe für die Annahme, dass Wagner selbst es war, der seinen Stiefvater mitunter für einen Juden hielt. Jedenfalls lässt sich die auch als Judenkarikatur zu lesende Figur des angeblichen Siegfried-Vaters Mime auch so interpretieren, als habe Wagner hiermit seinem Stiefvater ein (fragwürdiges) Denkmal setzen wollen, zumal dieser von Beruf Schauspieler (= Mime) gewesen war. (vgl. Dieckmann 1983: 196)

Diese Zusammenhänge haben selbst Wagnerianer dazu gebracht, mit der These Politik zu machen, Wagners Antisemitismus rühre aus Unklarheiten über seine Herkunft her und stünde insoweit für einen Fall von jüdischem Selbsthass. (vgl. Scholz 1993: 33 ff.) Der Unterschied zwischen derlei Strategien und jener Nietzsches lässt sich im Reich der Psychologie sichern: Nietzsche benötigte die über das Selbsthass-Argument zu lancierende Bagatellisierungsstrategie des wagnerschen Antisemitismus nicht nur, um sein Wagnerbild in Ordnung zu halten. Er benötigte sie auch wegen der ansonsten unabweisbaren Gefahren für sein Selbstbild. Denn er war für kurze Zeit in Sachen des Antisemitismus Mitwirkender gewesen und konnte seine allmählich anhebende Einsicht in die Verwerflichkeit dessen offenbar nur bewältigen, wenn er dem Idol, dem er darin Folge leistete, eine Exkulpation angedeihen ließ, derer er selbst in anderer Form auch bedurfte. Nur so auch ließ sich seine Vaterverehrung zumindest in Rudimenten über diese Krise hinwegretten.

Von hier aus liegt es nahe, sich noch einmal Nietzsches 1886er Rede von „einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete“ (KSA 5: 192) zuzuwenden. Wir haben sie im Vorhergehenden auf Tribschen bezogen. Auffällig ist aber, dass an dieser Stelle jener Name ebenso wenig fällt wie der Name Wagner. Dies ist kein Zufall: Nietzsche, so die hier verfochtene These, weigerte sich, jener Irrationalität ins Auge zu schauen, die sich in seiner Tribschener Wagnerverehrung bekundete. Entsprechend verharmlosend ist die Sprache: Antisemitismus wird unter der Rubrik „kleine Anfälle von Verdummung“ (KSA 5: 192) verrechnet – und als solcher nicht eigentlich Wagner zugerechnet, sondern den Wagnerianern. Dies hat Methode. So spricht Nietzsche auch im Nachlass aus dieser Zeit davon, dass es einen „’eigentlich deutschen’ Wagner“ nicht gäbe. Die in diese Richtung weisende Vorstellung sei nur „die Ausgeburt sehr dunkler deutscher Jünglinge und Jungfrauen.“ (KSA 11: 591) Verallgemeinert gesprochen: Nietzsche wollte Wagner offenbar als Opfer der Wagnerianer oder jedenfalls doch als einen eigentlich unpolitischen Musiker aufbereiten.

Dies gilt der Tendenz nach auch noch für seine Darstellung in Der Fall Wagner. Wieder fällt hier, wie schon in Aph. 251 von Jenseits von Gut und Böse, der Ausdruck „Infektion“, diesmal im Zusammenhang mit der nun auf die Wagnerianer ausgedehnten Bemerkung: „Die Anhängerschaft an Wagner zahlt sich theuer.“ (KSA 6: 44) Dass aber diese Infektion eine war, die sich Nietzsche selbst zwischen 1869 und 1872 zugezogen hatte, bleibt unklar. Gleiches gilt für den Umstand, dass es sich vor allem um eine politische Infektion handelte. Nur beiläufig wird hingewiesen auf die Bayreuther Blätter, aber mit dem gleich wieder abschwächenden Nachsatz: „Man gehe Nachts durch eine grössere Stadt: überall hört man, dass mit feierlicher Wuth Instrumente genothzüchtigt werden – ein wildes Geheul mischt sich dazwischen. Was geht da vor? – Die Jünglinge beten Wagner an.“ (KSA 6: 44) Dies liest sich zwar amüsant, kann aber nicht als Antwort gelten auf die Frage, die man von Nietzsche nun doch allmählich hätte erwarten dürfen – und die auch in Ecce homo nicht gegeben wird. Denn wieder einmal trennt Nietzsche hier den ‚guten’ Wagner von den ‚bösen’ Wagnerianern, „welche Wagner damit zu ehren glauben, dass sie ihn sich ähnlich finden.“ (KSA 6: 288) Wie vergiftet diese Bemerkung ist, wird viele Seiten später klar: Nietzsche überzieht die Wagnerianer nun mit dem Kommentar: „Keine Missgeburt fehlt darunter, nicht einmal der Antisemit“ – und besiegelt das Ganze mit dem Ausruf: „Der arme Wagner! Wohin war er gerathen!“ (KSA 6: 324) Die Folgerung, die der Leser ziehen soll, ist eindeutig und läuft erneut auf Exkulpation Wagners hinaus. Sie vermag ihrerseits der Exkulpation Nietzsches zu dienen, insoweit dieser damit von dem Vorwurf entlastet ist, er habe schon in Tribschen wissen können, auf wen er sich einließ. Dies aber ist die Vorbedingung, die Nietzsche benötigt, um sich nicht Aufschluss erteilen zu müssen über seine Vaterübertragung auf Wagner, deren dunkelste Seite eben darin gründet, Wagners Antisemitismus nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern auch kopiert zu haben.

Dass tatsächlich aber auch noch der Nietzsche dieser späten Epoche sehr genau um Wagners Antisemitismus wusste, belegt die von Nietzsche im Zuge der letzten Umarbeitung des Ecce homo im Dezember 1888 gestrichene Textvariante, die noch den Wortlaut trug: „ […] die eigentlichen Wagnerianer von Rasse, eine gott- und geistverlassene Bande, die Alles gläubig hinunterfraß, was der Meister ‚abfallen’ ließ. […] Und wie viel lässt Wagner ‚abfallen’!…“ (KSA 14: 493). Der Ausdruck ‚abfallen’ weist eine eindeutig antisemitische Konnotation auf, etwa in der Logik der Tagebucheintragung Cosimas vom Dezember 1879, wonach Wagner „alle Juden von sich abfallen lassen [will] ‚wie die Warzen’, gegen welche kein Mittel hilft.“ (Wagner 1976, Bd. 3: 460) Die Frage, warum Nietzsche diese Konnotation unterdrückte, lässt sich mit der vorgenannten Annahme befriedigend aufklären: Nietzsche unterzog sein Wissen um Wagner sowie sein Wissen um sich selbst der Zensur, um nicht mit der Fragwürdigkeit seiner Wagnerverehrung sowie seines frühen Antisemitismus zum Thema zu werden. Darin folgte er offenbar seinem Aphorismus aus der Götzen-Dämmerung: „Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich weiss…“ (KSA 6: 59) In die Richtung fehlenden Mutes weist auch Nietzsches in Nietzsche contra Wagner gegebene Darstellung, wonach seine Abwendung von Wagner damit zu tun gehabt habe, dass dieser im Anschluss an seine Rückkehr nach Deutschland „Schritt für Schritt zu Allem [condescendirte], was ich verachte – selbst zum Antisemitismus…“ (KSA 6: 431) Denn diese Formulierung und die in ihr verborgene Weiterführung einer analog ausgerichteten Passage aus Ecce homo (KSA 6: 289) sowie der gleichfalls auf Bayreuth zentrierten brieflichen Mitteilung Nietzsches an Overbeck vom April 1884, wonach die „verfluchte Antisemiterei“ (KSB 6: 493) ihn und Wagner verfeindet habe, erlaubte es Nietzsche, Wagner erneut als Opfer der Wagnerianer und sich selbst als Unwissenden in Sachen des Wagner selbstredend auch schon vor Bayreuth eigenen Antisemitismus aufzubereiten.

Eines indes ist richtig: Nietzsche dürfte Wagners Antisemitismus erst in Bayreuth als problematisch wahrgenommen haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die in der Tribschener Zeit relevanten Freunde Nietzsches antisemitisch dachten. Möglicherweise war dies ein Grund dafür, warum Nietzsche bis zuletzt deutlich Hemmungen erkennen ließ, sich klar als Anti-Antisemit zu outen. So änderte er in Ecce homo die Formulierung: „Meine natürlichen Leser sind jetzt schon Slaven und Juden…“ in gleichsam letzter Minute ab in: „…Russen, Skandinavier und Deutsche.“ (KSA 6: 360) Auch der wenig später vorgesehene Satz: „Wenn ich mir eine Art Mensch ausdenke, der allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so wird immer ein Deutscher daraus – oder ein Antisemit…“, überlebte nicht die Überarbeitung, sondern wurde um die letzten drei Wörter gekürzt (KSA 6: 362). Selbst das gleichfalls für Ecce homo vorgesehene Bekenntnis, „daß zwischen 1876-86 ich fast alle meine angenehmen Augenblicke im Zufall des Verkehrs Juden oder Jüdinnen verdanke“, ging nicht in Druck, ebenso wenig wie das gleich nachfolgende Bonmot: „Die Deutschen unterschätzen, welche Wohlthat es ist, einem Juden zu begegnen – man hat keine Gründe mehr sich zu schämen, man darf sogar intelligent sein…“ (KSA 13: 619) Und schließlich strich Nietzsche selbst die bittere, auf seinen Verleger Schmeitzner abzielende Klage, er ‚verdanke’ dem Antisemitismus, „daß mein Zarathustra seinen Eintritt in die Welt als unanständige Litteratur gemacht hat.“ (KSA 14: 506) Folgerichtig scheint denn auch, dass sich im Moment des Fortfalls jener Zensur, im Moment des anhebenden Wahnsinns, die bisher verdrängte Wahrheit Bahn bricht, eben in Gestalt jenes einleitend zitierten Meldung an Overbeck: „Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…“ (KSB 8: 575) Fast scheint es mithin, als habe sich Nietzsche persönlich im Januar 1889 um Illustration von Zarathustras Wahlspruch bemüht: „[A]lle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig.“ (KSA 4: 149)

Jenseits dessen bleibt als Ertrag festzuhalten, dass die Position des konsequenten Anti-Antisemiten die zumindest dem späten Nietzsche angemessene ist und der Antisemitismus des frühen Nietzsche als ein weitgehend rhetorischer begriffen werden darf. Ob Nietzsche, wie via Santaniello (1997/98) naheliegt, durch Insiderwissen aus dem Wagnerumfeld Gründe hatte, einen exterminatorischen Antisemitismus zu befürchten, dem er dann, im anhebenden Wahn, einen präventiv angelegten exterminatorischen Anti-Antisemitismus entgegenstellte, ist nicht unwahrscheinlich, wenn man nur Aph. 204 der Morgenröthe bedenkt. Nietzsche untersucht hier – überraschend aktuell, möchte man meinen – die Frage, warum „drei Viertel der höheren Gesellschaft dem erlaubten Betrug nachhängt und am schlechten Gewissen der Börse und der Speculation zu tragen hat.“ Nietzsches Antwort lautete, beides sei wirksam, „eine furchtbare Ungeduld darüber, dass das Geld sich zu langsam häuft und eine ebenso furchtbare Lust und Liebe zu gehäuftem Gelde“, in summa: ein „Fanatismus des Machtgelüstes“, in dessen Logik man es im Verlauf der Geschichte schon einmal gewagt habe, „mit gutem Gewissen unmenschlich zu sein“, beispielsweise „Juden, Ketzer und gute Bücher zu verbrennen.“ Und dann folgt: „Die Mittel des Machtgelüstes haben sich verändert, aber der selbe Vulcan glüht noch immer, die Ungeduld und die unmässige Liebe wollen ihre Opfer.“ (KSA 3: 180) Dies klingt wie eine letzte Warnung am Vorabend des Holocaust – und könnte in letzter Konsequenz jenen Wahnsinnsbrief vom 4. Januar 1889 erklären, der übrigens schon im Nachlass vom Frühjahr 1888 anklingt in Gestalt der Variante: „Il faut tuer le Wagnerisme“, denn: „Was uns nicht umbringt – das bringen wir um, das macht uns stärker.“ (KSA 13: 478)

Vielleicht – dieser Nachsatz sei mir noch erlaubt – bietet sich uns Heutigen eine Variante an für „le Wagnerisme“, eine Variante, die deutlich macht: Wer, wie Siegfried Gerlich, gleichwohl und im Interesse des Rechtspopulismus sich auf die Seite Wagners zu schlagen erlaubt, muss dessen eingedenk sein, dass er totes, endlich in Bann zu schlagendes Wissen verficht. Sicherlich: Über Einwände dieser Art kann man schulterzuckend hinweggehen, sollte sich dann aber wenigstens der Schuld eingedenk sein, die man auf diese Weise auf sich lädt und derentwegen eines Tages das eigene schlechte Gewissen Rechtfertigung einfordern könnte – wohlgemerkt: nicht müsste. Denn hier bietet ja jenes „Il faut tuer“ unbegrenzte Optionen zur Zurückverwandlung des Menschen in so etwas wie eine „blonde Bestie“ – ein Ausdruck Nietzsches, gewiss. Aber niemand garantiert uns dafür, dass er, seine Wiederkehr im Jahre 2021 vorausgesetzt, angesichts solcher Figuren wie Alexander Gauland die Vokabel „blond“ durch „grauhaarig“ ersetzten würde…

Prof. Dr. Christian Niemeyer, Erziehungswissenschaftler und Psychologe, Jg. 1952, geb. in Hameln, Prof. (i.R.; seit 2017) f. Sozialpädagogik an der TU Dresden (ab 1992), davor FU Berlin (1988-92), geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Sozialpädagogik (seit 2002), Nietzscheforscher, zahlreiche Bücher, für Juli 2021 ist angekündigt: Schwarzbuch Neue / Alte Rechte. Essays, Glossen, Lexikon (= Bildung nach Auschwitz, Bd. 1) mit Online-Material. Ca. 780 S., 39,95 Euro, Weinheim Basel. Der hier präsentierte Text wurde aus dem zweiten Teil von  Essay Nr. 19 dieses Schwarzbuchs entwickelt.

Bild oben: Portät Friedrich Nietzsches, 1882; Das zugrunde liegende Original stammt aus einer Serie von 5 Profilfotographien des Naumburger Fotographen Gustav-Adolf Schultze, Anfang September 1882.

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Sommer, A. U. (1997): Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Berlin.
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[1] KSA = Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke.K Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. v. G. Colla u. M. Montinari. München, Berlin/New York 1967-77.
[2] GSD = Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bde. 1-10, Leipzig 41907, Bde. 11 u. 12. Leipzig 5o.J.
[3] KSB = Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. München, Berlin/New York 1975-1984.
[4] KGB = Friedrich Nietzsche: Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel. Hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. München, Berlin/New York 1975 ff.

 

GEGENDARSTELLUNG
von Siegfried Gerlich

In seinem Beitrag »Nietzsche und der Antisemitismus« hat Christian Niemeyer mich unter Bezugnahme auf mein Buch »Richard Wagner. Die Frage nach dem Deutschen« als »neurechten Ideologen« diffamiert und zur Stützung dieser Diffamierung einige nachweisliche Falschbehauptungen aufgestellt, die eine Richtigstellung erfordern.

So behauptet Niemeyer, ich hätte »Wagner, unter Bagatellisierung seines Antisemitismus, für die Sache der AfD Alexanders Gaulands zu vereinnahmen« versucht bzw. es mir erlaubt, »mich im Interesse des Rechtspopulismus auf die Seite Wagners zu schlagen«.

Um mir eine solche nicht bestehende »Kontaktschuld« andichten zu können, ignoriert Niemeyer forsch die Chronologie der Ereignisse: Mein Wagner-Buch lag bereits publiziert vor, als die AfD sich 2013 gründete. Mich als »Verteidiger an seiner (Gaulands) Seite« zu bezeichnen, ist aber auch insofern falsch, als ich mich zu keinem Zeitpunkt in dieser Partei engagiert habe und es mir als unabhängigem geisteswissenschaftlichen Autor auch gegen den Strich ginge, parteipolitisch vereinnahmt zu werden.

Eine weitere — bezeichnende — Fehlleistung findet sich ferner in Niemeyers Literaturliste, in der angegeben wird, daß mein Wagner-Buch im Antaios-Verlag/Schnellroda erschienen sei. In Wahrheit ist es im Karolinger-Verlag/Wien erschienen.

Anders als von Niemeyer dargestellt, habe ich Wagners Judenfeindschaft in meinem Buch keineswegs bagatellisiert, sondern dieser ein immerhin fünfzig Seiten umfassendes Kapitel gewidmet. Allerdings habe ich mich darin auch an dem Fall Nietzsche abgearbeitet und den präfaschistischen Charakter von Nietzsches kulturphilosophischem Antijudaismus herausgestellt, der angesichts seines politischen »Anti-Antisemitismus« gern übersehen wird. Auch Niemeyer betreibt in seinem Beitrag eine solche tendenziöse Weißwaschung Nietzsches auf Kosten Wagners, die sich in ihrer Einseitigkeit gewiß nicht auf die aktuelle Forschungslage berufen kann.

Ganz offensichtlich ist Niemeyers Lektüre meines Buches, die oberflächlich zu nennen noch geschmeichelt wäre, geleitet von seinem gewaltsamen Ansinnen, mich in einen Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Antisemitismus zu bringen. Dies ist jedoch vollkommen abwegig und absurd, zumal ich in mehreren Artikeln der vergangenen Jahre programmatisch gegen den neuen Antisemitismus und Antizionismus Stellung bezogen habe.

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Sehr geehrter Herr Gerlich,

über Ihr Buch mag ich nicht streiten, auch nicht über den Ton, den Sie anschlagen. In einem Punkt allerdings haben Sie Recht, und mir bleibt nur, mich dafür zu entschuldigen: der Verlagsort ist im Fall Ihres Buches von 2013 nicht Schnellroda, sondern Wien (ob der Karolinger-Verlag allerdings eine so viel bessere Adresse ist als der Antaios-Verlag, scheint mir durchaus fraglich). Der Fehler muss wohl passiert sein, weil während des Schreibens ein Buch mit dem Text eines Autors mit Ihrem Namen von 2018 aus jenem Verlag auf meinen Schreibtisch lag. Wie, Sie haben keinen Doppelgänger? Unmöglich: Sie schreiben in Ihrer Gegendarstellung doch, Sie seien ein „unabhängiger geisteswissenschaftlicher Autor“, dem es gegen den Strich gehe, „parteipolitisch vereinnahmt zu werden.“ Und der Siegfried Gerlich, von dem ich rede, jener also, der Jahr 2018 bei Antaios in Schnellroda publizierte, nennt sich „Autor u.a. der Zeitschriften Sezession und Tumult.“ Na, werter Herr Gerlich, der Sie mich zeihen, ich hätte Sie als „neu-rechten Ideologen diffamiert“: Das sind doch nicht Sie, der Verfasser dieser rührenden Gegendarstellung? Das ist doch ein Namensvetter, dem Sie unbedingt das Handwerk legen müssen, denn er schädigt Ihren Namen! Diese Type, die da neben Martin Lichtmesz und Michael Ley sowie Caroline Sommerfeld, Tilman Nagel, Michael Klonovsky (apropos AfD: aktuell Bundestags-Direktkandidat für 2021 in Chemnitz), Andreas Unterberger und Michael Mannheimer in die Bütt steigt. Das, werter Herr Gerlich, ist doch fürwahr eine Art Who’s Who der Neuen Rechten in Deutschland, mit der in Verbindung gebracht zu haben Sie mir als Diffamierung vorwerfen. Deswegen müssen Sie mich recht verstehen: Ich fordere Sie hiermit ultimativ auf, Ihrem Doppelgänger – Corona hin, Corinna her – die Maske abzuziehen! Damit endlich meine Ehre wieder hergestellt wird.

Wie? Es gibt keinen Doppelgänger! Wissen Sie, was das für Sie bedeutet? Ganz einfach: Sie können anhand Gerlich 2018 lernen, was Diffamierung wirklich ist. Haben Sie mal hineingeschaut in diesen Band mit der grauenhaften Überschrift Nationalmasochismus? Nein? Wissen Sie eigentlich, was „Nationalmasochismus“ ist? Nein? Dann lassen Sie sich die Sache mal erklären, etwa von Ihrem Mit-Autoren in diesem Sammelband, Michael Mannheimer, der „Nationalmasochismus“, im Gegensatz wohl zu Nationalsozialismus, als willenloses Hinnehmen dessen beschreibt, was derzeit mit Deutschland geschieht, nämlich „Völkermord“, ergo gelte: „Nur ein Wunder kann unser schönes Land noch retten. Das Wunder eines Volksaufstands etwa wie 1989 – oder eine militärische Intervention durch patriotische Offiziere, die im Geist Stauffenbergs gegen eine verbrecherische Politik vorgehen.“ Oh nein, höre ich Sie klagen, das sei ja eine Aufforderung zum Putsch, das hätten Sie ja nicht gewusst, bis S. 67 seien Sie nicht gekommen – und Sie wüssten im Übrigen gar nicht, dass Herr Mannheimer ein so schlimmer Finger sei. Er betreibe einen „erfolgreichen politischen kleinen Blog gleichen Namens: michael.mannheimer.net“, heiße es lediglich auf S. 246 dieser in Schnellroda erschienen Publikation. „Wie? Da könne man doch einmal reinschauen, dann wisse man doch, worum es sich bei diesem Typen handelt?“

Okay, dann schaue ich mal ein wenig bei Ihnen vorbei, auf der Suche nach der verlorenen Unschuld. Und werde schon auf S. 148 fündig: Da reden Sie, werter Herr Gerling, 2018 doch tatsächlich ganz im Geiste des von Karlheinz Weißmann gefeierten neu-rechten Säulenheiligen Caspar von Schrenk-Notzing vom mit der US-Reeducation begonnenen „Marsch fünfter Kolonnen durch die Institutionen der Bundesrepublik“ bis hin zu dem Punkt, wo sich der „selbstauferlegten ‚Kult mit der Schuld‘ chronifizierte.“ Lieber Herr Gerlich, das müssen sie mir jetzt erklären: Wie verträgt sich Ihr Vorhalt, ich würde Sie „gewaltsam“ in „einen Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Antisemitismus bringen“, mit dieser Äußerung von Ihnen aus dem Jahr 2018? Nicht zu vergessen: Diese Rede vom „Kult mit der Schuld“ ist doch diesmal nicht, wie Sie mir vorhalten, maximal AfD avant la lettre 2013, nein: das ist Björn Höcke 2017, von Siegfried Gerlich 2018 in einer in Schnellroda erschienenen Publikation auf Vordermann gebracht. Oder etwa nicht?

In freudiger Erwartung Ihrer nächsten Gegendarstellung,

verbleibe ich, hochachtungsvoll,

Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin/Dresden, 20. April 2021

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Sehr geehrter Herr Niemeyer,

wenn Stil und Rhetorik Ihres Anschreibens auch unmißverständlich deutlich machen, daß Sie hier kein sachbezogenes Streitgespräch mit mir, sondern einen ad hominem gerichteten Schauprozeß gegen mich zu führen gedenken, will ich Sie angesichts Ihrer »freudigen Erwartung« meiner »nächsten Gegendarstellung« doch nicht im Regen stehen lassen.

Wenn ich recht sehe, haben Sie sich einen neuen Schauplatz ausgesucht, um davon abzulenken, daß die in Ihrem Nietzsche-Aufsatz gegen mich erhobenen Vorwürfe substanzlos waren: Sie können nicht bestreiten, daß ich mein Wagner-Buch zu einer Zeit schrieb, als die AfD noch nicht einmal in ihren Windeln lag; und ebenso wenig können Sie behaupten, daß Alexander Gauland sich jemals programmatisch auf Wagner bezogen und dabei mit meinem Buch herumgewedelt hätte. Derlei Insinuationen sind einfach abwegig, und da können Sie sich auch nicht auf ein wohlfeiles »avant la lettre« herausreden.

Kein Wunder jedenfalls, daß Sie nach einer neuen Angriffsfläche gesucht haben: Es wäre doch gelacht, wenn man diesen Gerlich, der sich als freundlicher Dr. Jekyll vorstellt, nicht als einen finsteren Mr. Hyde entlarven könnte! Der inquisitorische Eifer aber, mit dem Sie meinen dämonischen »Doppelgänger« überführen wollen, scheint Ihren detektivischen Scharfsinn getrübt zu haben, denn abermals ignorieren Sie die Chronologie der Ereignisse: So legen Sie mir meine Korrektur Ihres Fehlers, mein im Karolinger-Verlag erschienenes Wagner-Buch im Antaios-Verlag verortet zu haben, doch glatt als Verleugnung der unbestrittenen Tatsache aus, daß ich bis 2019 auch in letzterem Verlag publiziert habe. Aus Mangel an hellseherischen Gaben aber konnte ich mich in meiner ersten Gegendarstellung leider nur zu den auf mein Wagner-Buch bezogenen Anwürfen Ihres Nietzsche-Aufsatzes äußern und nicht bereits zu jenem ganz anderen Buch, das Sie erst jetzt ins Spiel bringen.

Um in medias res zu gehen: Im Zusammenhang mit der bei Antaios erschienenen Buchpublikation »Nationalmasochismus« gibt es nichts verschwörungstheoretisch Interessantes, das unvorsichtig auszuplaudern ich mich hüten müßte. Gewiß hätte auch ich mir einen weniger aggressiven Titel gewünscht; und wie schon andere Autoren, die ihre Mitwirkung an einem Sammelband frühzeitig zugesagt haben, ohne die endgültige Autorenliste noch einmal zu überprüfen, habe auch ich bei der Lektüre der sehr unterschiedlichen Beiträge dieses Bandes manche Überraschung erlebt. Vollkommen inakzeptabel ist zweifellos der von Ihnen zitierte Schlußsatz des Beitrags von Mannheimer, der auch nicht dadurch passabler wird, daß der Autor den von ihm erträumten Putsch im Stauffenberg-Stil in die Aura eines unwahrscheinlichen »Wunders« hüllt. Wie immer die anderen, mir mehrheitlich unbekannten Autoren dieses Bandes darüber denken mögen — was mich betrifft, so habe ich meine Zusammenarbeit mit Antaios im Jahre 2019 beendet.

Das bedeutet freilich nicht, daß ich meinen Beitrag, für den allein ich verantwortlich bin, nicht weiterhin verteidigen würde. Eine solche Verteidigung setzte allerdings voraus, daß Sie die Mitleser wenigstens umrißhaft über das thematisch weiträumig aufgefächerte Panorama meines Aufsatzes unterrichtet hätten. Da ich das von mir Geschriebene in Ihrer Anmoderation aber nur in fratzenhafter Entstellung wiedererkenne, will ich zumindest einige Aussagen daraus referieren bzw. zitieren, die Sie aufgrund Ihrer Vorurteilsstruktur konsequent ausgeblendet haben.

Im Wesentlichen geht es in meinem Beitrag »Charakterschwäche, Charakterwäsche« um das in der deutschen Geistes- wie Realgeschichte immer wieder zu beklagende »charakteristische Schwanken der Deutschen zwischen Selbsterniedrigung und Selbstüberhebung«. Und diese — aus der von Arnold Gehlen so genannten »Instabilität unseres Wesens« resultierenden — »gefährlichen Ambivalenzen«, die schließlich »im Nationalsozialismus zum Durchbruch kamen«, habe ich unter historischen, anthropologischen und psychoanalytischen Aspekten zu beleuchten versucht. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich dabei allen alt- oder neurechten Versuchen, die »Charakterpathologien« der Nachkriegsdeutschen »ausschließlich auf die Reeducation zurückzuführen«, eine »apologetische Einseitigkeit« bescheinige und klarstelle, daß gerade »das kollektive Schuldtrauma der Deutschen in den Massenverbrechen des Dritten Reiches selbst seinen Grund« hat. Darum habe ich selbstverständlich auch »die nationalsozialistische Umerziehung«, die sich die Deutschen »selbst verordnet hatten«, in meine Betrachtung einbezogen und die »Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit« für »moralisch wie politisch geboten« erklärt.

Aber freilich bin ich des weiteren auch pathologischen Fehlentwicklungen der ehemals so genannten Vergangenheitsbewältigung nachgegangen, und eben dies war Ihnen ein willkommener Anlaß, um unter Ausblendung jener Zusammenhänge einen hochselektiven, geradezu polit-pornographischen Blick auf scheinbar »schlimme Stellen« zu werfen. So isolieren und dekontextualisieren Sie Reizvokabeln, um diese dann automatisch mit Antisemitismus zu assoziieren. Und selbst dabei täuschen Sie noch darüber hinweg, daß Ausdrücke wie »Kult mit der Schuld« oder »Schuldkomplex« als Zitate kenntlich gemacht und quellenmäßig nachgewiesen sind, und daß sich in den Quellenangaben neben rechten Autoren wie Armin Mohler und Heinz Nawratil auch liberale Autoren wie Hermann Lübbe, Pascal Bruckner und Antonia Grunenberg finden, die des Antisemitismus ebenso unverdächtig sind wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die ihrerseits ein Unbehagen an der Behauptung einer deutschen Kollektivschuld zum Ausdruck brachten.

Wie in meinem Beitrag nachzulesen, hielt es Horkheimer bereits 1963 für »falsch, Schuldgefühle bei Menschen zu wecken, die keine Schuld tragen«, weil dies wahrscheinlich nur »Ressentiments« zeitigen werde; und Adorno bekannte 1965, »einem gesellschaftlich Denkenden« wie ihm sei »die These, es läge an den Deutschen als Volk, recht fremd«. Beide fürchteten, daß eine fehlgeleitete Aufarbeitung der Vergangenheit vorhandene Reflexe der Schuldabwehr noch verstärken und Strategien der Selbstentlastung befördern werde. Daß sich solche Ressentiments in den darauf folgenden Jahrzehnten nicht zuletzt in einem »sekundären Antisemitismus«, der auch hinter jedem »Antizionismus« lauert, Bahn brechen sollten, habe ich nun allerdings selber wiederholt thematisiert. Wenn Sie mich in diesem Zusammenhang auf der falschen Seite vermuten, dann könnte dies auch einfach daran liegen, daß Sie meine gegen den neuen Antisemitismus und Antizionismus gerichteten Beiträge nicht kennen.

Hier will ich nur auf meine in der »Sezession« (45/2011) erschienene Rezension einer der letzten Buchpublikationen Ernst Noltes hinweisen, denn über diesen so bedeutenden wie umstrittenen Geschichtsdenker hatte ich 2009 eine wohlwollende Monographie verfaßt. Als sich Nolte in seinen »Späten Reflexionen« jedoch dazu verstieg, Israel zu einer in faschistischer Tradition stehenden Weltmacht emporzustemmen, welche die vergleichende Probe aufs Exempel des Nationalsozialismus gefälligst zu bestehen habe, habe ich nicht lange gefackelt und ihm seine Verrechnung der Judenvernichtung mit der Palästinenservertreibung als »Affirmation des Nationalsozialismus« vorgehalten.

Ich hoffe nun, mit diesen Klarstellungen Ihre »freudige Erwartung« nicht allzu sehr enttäuscht zu haben, gestehe aber, daß ich selber einem weiteren Anschreiben Ihrerseits nicht ebenso freudig entgegensehen kann; denn zu einer fairen Auseinandersetzung sind Sie ja erklärtermaßen nicht bereit: Am Ende Ihres Nietzsche-Aufsatzes bezeichnen Sie mich als Verfechter eines »toten, endlich in Bann zu schlagenden Wissens«. Und dieser Drohkulisse eines »Banns«, den zu vollstrecken Sie sich berufen fühlen, mich weiter auszusetzen, sehe ich eigentlich keinen Grund, zumal es auch der Wahrheitsfindung kaum dienlich sein dürfte, »Wissen« zu verbannen.

Mit freundlichen Grüßen

Siegfried Gerlich

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Sehr geehrter Herr Gerlich,

über Ihr Buch mag ich nicht streiten, auch nicht über den Ton, den Sie anschlagen – wenn Ihnen dieser Satz bekannt vorkommt und Sie sich mithin schon an dieser Stelle meiner Replik langweilen, liegt die Schuld dafür, wie mich dünkt, nicht bei mir, sondern an Ihrer Unkenntnis von Nietzsches Satz: „Die Meisten brauchen eine plumpe Ausführlichkeit des Geschehens und hundertmalige Wiederholungen, und Einige haben Keulenschläge nöthig, um da hinter ein Erlebniß zu kommen und aufmerksam zu werden.“ Lesen Sie also meinen ersten Satz von heute als meinen Keulenschlag für Sie, begleitet von der Hoffnung meinerseits, Sie hätten nun verstanden, dass ich mich unter keinen Umständen von Ihnen auf die Bühne des Meinungsstreits inter pares locken lassen werde. Warum eigentlich nicht? Nun, eine Antwort folgt ganz zum Schluss. Denn erst einmal muss ich meinem finsteren Mr. Hyde die Leine geben, zumal er ordentlich an selbiger zerrt, in der Hoffnung auf einen Bissen wie diesen hier: Wissen Sie, werter Herr Gerlich, wer es war, der vor fast fünf Jahren die folgende These über Sie zur öffentlichen Ausstellung brachte, vielbeachtet und mehr als 400-mal im Internet kommentiert? Ich zitiere: „Ich erinnere mich an unzählige Nächte, in denen wir ‚alle Probleme der Menschheit endgültig gelöst‘ haben. Schon damals reizten mich meistens die von Dir vorgetragenen Ansichten zum Widerspruch, auch dann noch, wenn sie meine eigenen waren. Das Radikale faszinierte auch mich. Aber vom Gebräu aus dem Giftschrank der Rechten ließ ich die Finger.“ Werter Herr Gerlich, warum, um alles in der Welt, haben Sie damals nicht auf Ihren wohl besten Freund ever gehört, damals, im Mai 2016, statt nun erst, wie Sie uns glauben machen wollen, 2019? Das hätte uns allen viel erspart, vor allem ihren unsäglichen Text von 2018, den Sie noch immer, wie Ihre Gegendarstellung Nr. 2 zeigt, wortreich meinen verteidigen zu müssen, inklusive des Umstandes, dass er dort, in diesem Umfeld (gemeint ist offenbar das Schmuddelkind Michael Mannheimer), erscheinen konnte. Sie hätten leider versäumt, „die endgültige Autorenliste noch einmal zu überprüfen“, lautet Ihre Ausrede, wie dies auch „anderen Autoren“ widerfahren sei. Oh, werter Herr Gerlich, warum geben Sie nicht an dieser Stelle Ihrem Mr. Hyde Zucker – und sagen deutlich, wen Sie meinen? Verstehe, Sie zieren sich, wollen keinen Ihrer (ehemaligen?) Kumpel*inne verraten! Also gut, aber bitte mit Megaphon: „Herr Gerlich redet an der bezeichneten Stelle von des bedeutenden Germanisten Helmut Lethen Gattin Caroline Sommerfeld aus Wien! Bitte, Herr Professor Lethen, überwachen Sie in Zukunft die Kreise, in denen Ihre Gattin verkehrt! Meint, freundlichst: Siegfried Gerlich, Pianist!“ So recht, lieber Herr Gerlich?

Wie? Was mich autorisiert, Sie in dieser groben Weise zu imitieren? Und auf diese Weise (Ehe-) Streit in Wien zu säen? Zu dieser Frage nur so viel: Warum sollte ich hier anders agieren als Anfang des Jahres qua Sommerfeld-Rezension in Heft 1 der Zeitschrift für Sozialpädagogik? (Oh, wie süß, Sie wissen wieder nicht, wovon ich rede, nicht wahr? Tja, mein Lieber, diesen Verdacht habe ich schon länger: Sie schreiben zu viel und lesen zu wenig – eine ganz brisante Mischung, unter uns gesagt!)

Nun zur ersten Frage: „Was mich autorisiert…“ – nein Herr Gerlich, das glaube ich jetzt nicht, auch dies scheinen Sie vergessen zu haben: Ihr bester Freund ever vom Mai 2016 selbstverständlich. Der, als imitiere er Helmut Lethens damalige Empörung über seine 35 Jahre jüngere Frau Caroline Sommerfeld, ausführte, gleichsam die tiefsten Geheimnisse einer existentiellen Ehekrise verratend: „Ist es noch ein Relikt aus früherer Zeit, mir nicht vorstellen können, die Freundschaft zu einem Menschen aufrechtzuerhalten, der kurdischen männlichen Flüchtlingen vorhält, sie würden Frauen und Kinder in der Kampfzone zurücklassen, ihnen mangele es also an Ritterlichkeit? Will ich weiter mit jemandem verkehren, dessen Geschichtsbild unter einer ‚amerikanisch-russischen Doppelhegemonie‘ stand und der Meinung ist, dass die ‚Holocaust-Industrie mittlerweile auch die philosophischen Ideenmärkte erobert hat‘? Der mit rechtsnationalen und konservativen Publizistinnen und Publizisten befreundet ist, mit denen ich nicht einmal über das Wetter reden würde?“ Was dieser Satz mit der o.a. Frage zu tun hat, wollen Sie, werter Herr Gerlich, von mir wissen? Ganz einfach: Dieser Satz – das wissen Sie und das habe ich oben nur spaßeshalber verunklart, – ist nicht von Lethen und handelt auch nicht von Caroline Sommerfeld, sondern von Ihnen, und zwar von A bis Z, wobei hier vor allem das Z in Betracht kommt, also der letzte Satz: Ihre bester Freund ever – oder soll ich jetzt besser durchnummerieren, damit wir nicht durcheinanderkommen? Also gut: Ihr erstbester Freund warnt sie 2016 ausdrücklich vor den Schmuddelkindern unter Ihren Freunden – und Sie versuchen 2021 Ihrem zweitbesten Freund, also mir, zu erklären, derlei Warnung sei entbehrlich, und dies, wo er Sie, rückblickend auf 2018, in flagranti mit Schnmuddelkind Michael Mannheimer erwischt hat! Und Sie nichts Besseres zu tun wissen als, mit einem kaum verhüllten Fingerzeig auf Sommerfeld, darzutun, derlei sei ja auch „anderen Autoren“ widerfahren! Mag‘ schon sein, mein Lieber – auch, dass Ihr erstbester Freund kaum mehr taugt als Ihr zweitbester oder als Helmut Lethen, als Freund seiner Gattin betrachtet. Aber bitte und als Rat für’s nächste Mal (Gott verhüt’s!), werter Herr Gerlich: Versuchen Sie besser nicht ein zweites Mal, mich auf den Arm zu nehmen – wo ich, übrigens wie eine jede und ein jeder andere, doch nur zwei Klicks von der Wahrheit über Sie entfernt bin! Etwa jener, dass Sie – um auch den wichtigsten Teil des eben gegebenen Zitats einzubeziehen – 2016 offenbar tatsächlich der Meinung anhingen, die „Holocaust-Industrie“ habe „die philosophischen Ideenmärkte erobert.“ Oh nein, mein Lieber, dementieren geht nicht mehr! Sie haben es damals nicht getan und können es heute erst nicht – können damit aber auch schwerlich mir 2021 vorhalten, ich hätte Sie zu Unrecht des Antisemitismus beschuldigt.

Nicht vergessen sei schließlich der letzte Punkt aus dem Gerlich-Porträt vom Mai 2016, das sich durchaus als recht treffend ausnähme, wäre es aufgepeppt auf irgendeinen finsteren Mr. Hyde. Ihr bester Freund ever nämlich schreibt, auf irgendwie ergreifende Weise klagend: „Ich prüfe auch mich: Bin ich am Ende der ‚Faschist‘ oder ‚Stalinist‘, weil ich in mir den Rigorismus verspüre, Dich aus meiner Welt zu verbannen? Oder habe ich am Ende Angst, Dir zu gleichen? Sollte mir ein so sanfter, im Grunde zutiefst humaner, freundlicher Mensch wie Du im gegnerischen Lager nicht willkommener sein als ein Charakterschwein in den eigenen Reihen? Es ist wohl so, dass man den mehr liebt, der auf derselben Seite der Barrikade steht.“ Ich räume es gerne ein: Sie, werter Herr Gerlich, hier als sanften, zutiefst humanen Menschen beschrieben zu sehen, hat mich ein Stückweit für Sie eingenommen und meine These verfestigt, Sie seien eigentlich gar nicht so, wie Sie durch den aggressiven Sound in Ihrer zweiten Gegendarstellung erneut unter Beweis gestellt haben, kämen aber leider so selten dazu, dies zu zeigen. Nur Mut, mein Lieber, zumal Ihr bester Freund ever schon 2016 sah, dass Ihnen das, was Sie sein wollten, eigentlich gar nicht passte, nach des Freundes Wort: „Wie grotesk: Der, der eigentlich keiner Fliege etwas antun kann, wünschte sich immer, Teil eines verwegenen Stoßtrupps in gefährliche Gefilde des Denkens zu sein. […]. Früher störte mich das nicht so, weil ich dachte, so ein musischer Weichling wird in so einer männerbündischen Rotte gar nicht…“ „Musischer Weichling“? „Männerbündische Rotte“?

Oh, werter Herr Gerlich: das ist nicht von mir, das ist – endlich ist es heraus! – O-Ton des Kulturredakteurs Andreas Öhler aus seinem mit Adieu, ami, lieber Siegfried überschriebenen, Ende Mai 2016 in der von ihm mitredigierten Zeit-Beilage Christ & Welt, unter der rührenden Headline Der Riss in uns öffentlich gemacht. Schauen Sie sich, werter Herr Gerlich, bitte an, was aus Ihnen geworden ist in den fünf Jahren seitdem im Vergleich zu ihm! Sie – Entschuldigung, aber dazu kommt mir gerade das Bild Nietzsches post Wagner in den Sinn – „ganz mager, abgehungert: die Realitäten fehlten geradezu […], und die ‚Idealitäten‘ taugten den Teufel was!“ Und er, Öhler? Nun, er scheint mir nach allem, was das Internet über ihn preisgibt, nach wie vor das zu sein, wofür die im Vorhergehenden zitierten Briefauszüge Zeugnis geben: ein stilistisch brillanter, hochintelligenter, sensibler und menschenfreundlicher Beobachter seiner Zeitgenossen, der sich Rechtssein eigentlich nur erklären kann, wenn zuvor sozialisationsmäßig irgendetwas schief gelaufen ist. Etwa, wie in Ihrem Fall, werter Herr Gerlich: wenn – so meine von Öhler angeregte Diagnose – die entwicklungsnotwendige Geschlechtsrollenfindung schiefging und die finsteren Mr.-Hyde-Anteile vom Typ „männerbündische Rotte“ gegenüber dem „Weichling“ Dr. Jeckyll obsiegten. Und man hin und wieder durchaus mal wieder losprügeln kann, etwa auf irgend so einen Professor aus Dresden. Meine Diagnose für den Moment angesichts Ihrer nun zwei Gegendarstellungen: In Ihnen kämpft es im Moment wieder heftig. Kaum fraglich dürfte sein, wem ich bei dieser Schlacht die Daumen drücken. Sollte in Ihnen aber das Gute obsiegt haben – bitte, sagen Sie es (mir) klar und deutlich, sagen Sie allen, dass das fast schon mit Ewigkeitswert zu versehene Rein-Raus-Spiel mit dem Wendepunkt 2016 und dem Rückwendepunkt 2019 endlich ein Ende gefunden habe und Sie nun bereit sein zum Meinungsstreit sine ira et studio.

Abschließend noch das einleitend versprochene erklärende Wort zu der Frage, werter Herr Gerlich, warum ich – bis dato, wie ich jetzt gerne ergänzen würde – nicht auf Ihre Ausführungen im Einzelnen eingehe resp. eingehen werde. Die erste Antwort auf diese Frage soll Ihrer Profession und Professonalität Ehre einlegen. Oder wären Sie nicht etwa beleidigt, wenn ich mich bei einem Besuch bei Ihnen – man wird ja noch einmal alp-träumen dürfen – an den Flügel setzte, um Ihnen zu zeigen (wie weiland Nietzsche Wagner zeigen wollte), wie man so ein Instrument wirklich bedient? Das klingt noch freundlich, die Ausbuchstabierung nicht: Sie sind für mich, vice versa betrachtet und also auch meine Profession und Professionalität in Anschlag gebracht, schlicht nicht satisfaktionsfähig. Sie können jetzt nicht kontern mit: „Wie arrogant!“ Denn dieses Attribut träfe im Fall der Fälle dann auch sie. Die evidenzbasierte Variante dieses Vorhalts sei Ihnen nicht vorenthalten: Sie kennen nach gründlicher Prüfung meinerseits ad Nietzsche / Wagner die wichtigste Primär- und Sekundärliteratur nicht, machen ständig Fehler, zumeist im Vertrauen auf Ideologen – und können die meisten dieser meiner Vorwürfe an Ihre Adresse ab Juli bei Juventa auf mehr als 1.000 Seiten (davon ca. 780 Seiten Print) für den lächerlichen Preis von 39,95 € nachlesen. Warum mir also diesen Betrag aus Ihren Händen entgehen lassen, nur weil ich heute das Wasser nicht halten kann? Fragt Sie, in der sicheren Erwartung, es folge nun keine weitere Gegendarstellung mehr,

Ihr

Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin/Dresden, 26. April 2021

1 Kommentar

  1. Danke für diesen ausgezeichneten Beitrag, wenngleich der Eingangssatz: „Unser Autor, ein Nietzscheforscher, der nichts gegen Wagners Musik hat, …“, nachdenklich macht. Immer wieder. Denn es ist ausgesprochen häufig, dass man betont, Wagner ob seines Antisemitismus abzulehnen, allein seine Musik aber, die bewegt, die spürt man bis ins Innerste, die liebt man, denn sie ermöglicht Eins zu werden, ermöglicht zu verschmelzen mit dieser wunderbaren Musik; man muss Kunst und Persönlichkeit des erschaffenden Künstlers einfach nur trennen. Klappt auch, meistens.

    Für mich stellt sich in solchen Augenblicken dann die eigentliche, die Kernfrage danach, wie denn ein Kunstwerk wohl entsteht, woraus große Kunst erwächst, sich vor dem Betrachter, dem Zuhörer, dem Publikum mit Macht aufbaut, geradezu mit Gewalt dessen Sinne ergreift, ihn sozusagen mitreißt, Glück, Freude, Erfüllung und Zufriedenheit empfinden lässt?

    Was also ist die Basis, das Fundament, was ist der Humus, aus dem wirklich große Kunst erwächst?

    Denke da an Schicksale, denke da an dramatische Verzweiflung, an verzweifelte Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Liebe. Denke da an lebenslange bittere Armut zum Beispiel, aber auch an konditionierte Emotionen wie Hass gegenüber dem Anderen, dem Mitmenschen oder auch hingewandte Philanthropie, welche als Motor, als treibende Kraft, als Impuls zu Kreativität, als künstlerischer Schöpfungsgrund gesehen und sozusagen – mitempfunden – werden kann.

    Es ist also immer die Persönlichkeit eines Menschen, aus der Kunst entsteht. Der Mensch in seiner Gesamtheit kommt in seiner Kunst zum Ausdruck und zwar ausnahmslos und immer!

    Wenn man sich also mit Wagner auseinander setzt, muss man sich fragen, was eigentlich die Elemente seiner Musik sind, die auf so aufwühlende Weise Emotionen wecken, in ihren Bann ziehen, das Publikum in ungeahnte Höhen schwingen lässt? Was sind die Elemente seiner Musik, der Manifestation seines Eifers, seiner Überzeugungen, seines Strebens, seiner gesamten Persönlichkeit also als treibende schöpferische Kraft?

    Um das zu erfahren, braucht man sich bloß mit seinen Schriften befassen. Was dort zum Ausdruck kommt, ist natürlich von den genau gleichen Elementen getragen wie seine Musik. Man kann hier einfach nicht trennen, man kann nicht ganz einfach Wagners Hass, Wagners Antisemitismus abspalten, man hat es ja hier schwarz auf weiß: Es sind die Manifestationen seiner Kraft, seines Eifers, seiner Überzeugungen, seines Strebens, seiner gesamten Persönlichkeit, seiner psychischen Struktur also, als treibende schöpferische Kraft!

    Man muss Kunst und Persönlichkeit des erschaffenden Künstlers einfach nur trennen, sagen manche, speziell bei Wagner. Klappt oft, wenn auch defizient, sag ich, ist aber immer – insuffizient!

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