Frankreichs Dilemma im Kampf mit dem Islamismus

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Während Komplizen der Anschläge von 2015 auf „Charlie-Hedbo“ und den jüdischen Supermarkt „Hypercacher“ vor Gericht stehen, hält die Debatte über das Ausmaß der islamistischen Bedrohung und die Methoden zu ihrer Abwehr an…

Von Danny Leder, Paris

Der Islam wurde an diesem Abend eher zufällig zum Gesprächsthema. Ich war in einem Pariser Vorort bei Freunden eingeladen. Unter ihnen befand sich Miranda, die aus Chile eingewandert war und in einer Volksschule als Betreuerin arbeitet.

Sie erwähnte, dass die überwiegend aus muslimischen Familien stammenden Kinder sie wegen ihres dunklen Teints als Muslima betrachten.  „Deswegen werfen sie mir vor, dass ich während des islamischen Fastenmonats Ramadan tagsüber essen gehe,“ erzählte Miranda: „Aber sogar wenn ich ihnen sage, ich bin Christin, hören die Vorwürfe nicht auf. Dass ich Schweinefleisch esse, dass ich in die Kirche gehe, alles gilt als Sünde. Die Eltern dieser Kinder scheinen ihnen keinen Respekt vor anderen Religionen beigebracht zu haben. Diese Eiferer werden von Jahr zu Jahr mehr und ziehen die anderen Kinder in ihren Bann. Das bedrückt mich.“

Aber hat derartiges Kindergeschwätz überhaupt eine Bedeutung? Und gibt es zwischen solchen Mini-Belästigungen durch unreifen Nachwuchs und den Massenmorden der Dschihadisten, mit denen sich zurzeit das Gericht in Paris beschäftigt, einen Zusammenhang?   

Islamistische Biotope

Immer mehr Politiker, allen voran der liberale Staatschef Emmanuel Macron, unterschiedlich gefärbte Bürgermeister, Pädagogen und Soziologen, beantworten obige Fragen inzwischen defacto mit Ja. Durch Indoktrinierung durch Salafisten und Muslimbrüder seien in etlichen ärmeren Vierteln radikal-islamische Biotope entstanden. Die Anhänger einer besonnenen Glaubenspraxis würden zunehmend unter Druck geraten. In diesem Klima habe die Gewaltbereitschaft einer Minderheit gedeihen können.  

Macron hat erst kürzlich den Begriff des islamistischen „Separatismus“ geprägt.  Das Wort ist eine Überhöhung des im deutschen Sprachraum üblichen Begriffs der „Parallel-Gesellschaft“ und gehört neuerdings zum Regierungsvokabular. Einer der Wegbereiter dieser Wortwahl war der Schulinspektor Jean-Pierre Obin. Der politisch links angesiedelte Beamte hatte 2004 in einen Rapport Alarm geschlagen: unter Schülern sei die „Gleichstellung der Frauen im Rückgang“, der „Antisemitismus auf dem Vormarsch“ und der Dschihadisten-Terror akzeptabel. Sogar die Erörterung der Philosophen der Aufklärung wie Voltaire oder Jean-Jacques Rousseau führe im Unterricht zu Zwischenfällen mit muslimischen Schülern.

Der Bericht von Obin stieß unter Inspektoren-Kollegen zuerst auf heftige Ablehnung, er galt vielen als „islamophob“ und wurde unter Verschluss gehalten. Meistens waren es Anhänger der Linken, die eine derartige Bestandsaufnahme erschreckender Tendenzen unter den Jugendlichen aus muslimischen Familien herunter zu spielen versuchten. Aber unter den Kommunalpolitikern gingen auch so manche Konservative auf Stimmenfang unter Muslimen, in dem sie sich mit Islamisten verbündeten, ihnen zu entscheidenden Posten bei der Jugendbetreuung verhalfen und dabei deren gefährliche Schlagseiten geflissentlich übersahen.

Immerhin aber hatte das französische Parlament im März 2004, also knapp vor Erscheinen des Rapports von Obin, ein Gesetz beschlossen, dass das Tragen „auffälliger religiöser Symbole“ an öffentlichen Schulen untersagte – eine Premiere in Europa.

Dem Beschluss waren sechsmonatige Anhörungen und Diskussionen in einer Kommission zu Fragen des säkularen Schulwesens vorausgegangen. Das Verbot richtete sich gegen „große“ Kreuze, die jüdische Kippa und das islamische Kopftuch – defacto ging es vor allem um letzteres, nachdem sich in den Jahren zuvor die islamistische Agitation unter der Schuljugend in Vorstadtschulen ungemein verstärkt hatte: muslimische Schülerinnen, die es wagten, kein Kopftuch zu tragen, gerieten oftmals unter Druck islamistischer Rädelsführer. Jüdische Schüler wurden zur Zielscheibe von Mobbing und Angriffen, viele wechselten aus öffentlichen in jüdische und katholische Privatschulen.     

Der damalige – konservative – Unterrichtsminister Francois Fillon meinte 2004 zu Obin, die Umsetzung des neuen Verbotsgesetzes würde bereits für genug Schwierigkeiten sorgen, weshalb man die Publizierung seines Rapports „verschieben“ müsse, um nicht noch mehr Konfliktpotential anzuhäufen. Fillons Nachfolger, Gilles de Robien, erklärte wiederum den Bericht 2005 für „hinfällig“, weil das Gesetz gegen die religiösen Symbole an den Schulen inzwischen wirksam geworden worden war.

Der Rapport von Obin wurde trotzdem 2006 in einem Sammelband mit Beiträgen weiterer besorgter Intellektueller veröffentlicht. Einer der damaligen Mitautoren, der muslimische Reformer Ghaleb Bencheikh, erklärte kürzlich dem Magazin Le Point: „Ich würde ihnen gerne sagen, dass sich die Situation seither geändert hat. Das ist aber nicht der Fall“.

Eigene Umkleideräume für Muslime?

Auch Obin glaubt, dass sich die Lage nicht gebessert habe. In einem soeben erschienenen neuen Buch verweist er auf eine Umfrage unter Lehrern, wonach zwei von fünf mit religiös motivierten Problemen zu ringen hatten. Kinder, manchmal Eltern und sogar ein Imam würden sich nicht mehr damit begnügen, dass muslimische Schüler kein Fleisch in der Schulkantine serviert bekommen (weil die Tiere nicht nach islamischen Ritus geschlachtet wurden), sondern auch eigene, Muslimen vorbehaltene Speise-Tische sowie gesonderte Umkleideräume und Toiletten fordern.

Ungeklärt bleibt freilich die Häufigkeit derartig extremer Bestrebungen. Wobei auch Kinder und Eltern, die evangelikalen Neukirchen angehören (die ebenfalls in ärmeren Gegenden expandieren), für Konflikte an Schulen sorgen können, wenn es etwa um Sexualkunde oder Naturgeschichte geht.   

Zweifellos fühlen sich viele Muslime zu Unrecht an den Pranger gestellt, wie es der Vorsitzende des muslimischen Kultusrats, Mohammed Moussaoui, formuliert: „Wir werden von zwei Seiten als Geiseln benützt. Durch diejenigen, die uns ihre Verhaltensregeln aufzwingen wollen, und durch ein politisches Spiel, das unsere Spiritualität unter Dauerverdacht stellt.“ Unter den Jugendlichen aus arabischen und afrikanischen Familien, die erwiesenermaßen mit häufigen Diskriminierungen bei der Jobsuche zu kämpfen haben, wird die anhaltende Polemik um den Islam als zusätzliche soziale Hürde und vielfach auch als abermalige Ausgrenzung wahr genommen.

Die Warnung von Zineb El Rhazaoui

Die franko-marokkanische Journalistin Zineb El Rhazoui, die für „Charlie-Hebdo“ schrieb und dem Massaker in der Redaktion nur entging, weil sie sich damals in Marokko aufhielt, lässt solche Einwände nicht gelten: „Manchmal frage ich mich, was man gesagt hätte, wenn man nach dem zweiten Weltkrieg Nazi-Propaganda zugelassen hätte? Das ist genau, was wir mit dem Islamismus machen, obwohl es eine Ideologie ist, die zu Massenverbrechen geführt hat. Überall im öffentlichen Raum sieht man die Anzeichen für eine anschwellende islamistische Welle. Die Leute merken, dass sich etwas in sehr kurzer Zeit geändert hat, aber sie sind wie erstarrt.“

Bild oben: Ein Kranz von US-Außenminister John Kerry und dem französischen Außenminister Laurent Fabius vor dem Hyper Cacher in Paris in der Woche nach dem Anschlag. , Frankreich, hinterlassen hatten, um den Opfern der Schießereien der letzten Woche zu huldigen. Foto: U.S. Department of State