Das Gedächtnis des Namenlosen zu ehren

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Das kurze Leben des Freud-Patienten Ernst Lanzer…

Von Monika Halbinger 

Die Beschäftigung mit Sigmund Freud, einem der berühmtesten Söhne Wiens, lohnt immer, unterliegt aber auch gewissen wissenschaftshistorischen Wellen wie auch popkulturellen Trends. Momentan scheint das Interesse wieder ein wenig stärker zu sein, auch bedingt durch die Popularität der gleichnamigen Netflix-Serie, die historisch kaum präzise ist, ihre Faszination aber aus ihrer Verknüpfung der Psychoanalyse mit mystisch-übersinnlicher Fiction generiert. Darüber hinaus steht die Neueröffnung des Freud-Museums in Wien nach längeren Umbau- und Sanierungsmaßnahmen im Spätsommer 2020 an.

Eine hochinteressante, wissenschaftlich akkurate Annäherung an Freud leistet in diesem Umfeld der Psychoanalytiker Georg Augusta, der diesen zwar nicht in den Mittelpunkt seiner Forschung stellt, sondern Freuds Aufzeichnungen als Quelle für die Lebensgeschichte des Freud-Patienten Ernst Lanzer nutzt und gleichzeitig die biographischen Parallelen der beiden Männer aufzeigt.

Aufgrund seiner quälenden Zwangsvorstellungen suchte der junge Rechtsanwaltspraktikant Ernst Lanzer die Ordination Freuds in der Berggasse am 1. Oktober 1907 das erste Mal auf. Als Soldat der habsburgischen Armee hatte Lanzer am Ende eines Manövers im selben Jahr in Chryrów, in der heutigen Ukraine gelegen, die antisemitisch grundierte Provokation eines Hauptmanns erlebt. Dieser erzählte ihm von einer schrecklichen orientalischen Strafe, der „Rattenfolter“, die man an Viktor Adler, dem Begründer und Vorsitzenden der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, vornehmen sollte. Die Vorstellung dieser Strafe begann Lanzer zu verfolgen. Er konsultierte einige Ärzte, darunter auch den berühmten Wiener Neurologen Wagner-Jauregg, dessen auf Gegenseitigkeit beruhende Abneigung gegenüber Freud schon anekdotisch von Friedrich Torberg in den „Erben der Tante Jolesch“ beschrieben wurde. Erst die Behandlung bei Freud wird bei Lanzer erfolgreich sein.

Freud vereinbarte mit seinem neuen Patienten von Montag bis Samstag täglich Sitzungen von je einer Stunde. Die Sitzungsprotokolle umfassen einen Zeitraum von 4 Monaten, die letzte dokumentierte Sitzung stammt vom 20. Jänner 1908. Die Aufzeichnungen legen nahe, dass die Behandlung im Herbst 1918 für sehr kurze Zeit fortgeführt wurde.

Es ist anzunehmen, dass Freud von Beginn an mit der Absicht ausführlich dokumentierte, diese Notizen auch theoretisch verwertbar zu machen und den Fall in den einschlägigen Fachkreisen mit seinen Kollegen zu erörtern. Freud anonymisierte Lanzers Fall als „Rattenmann“, eine Bezeichnung, die in der Psychoanalyse mit einer Zwangserkrankung an sich verbunden blieb.

Über das medizinische Interesse hinaus geben Freuds Notizen Einblick in die Lebenswelt einer Epoche und für Freud wurde die Begegnung mit seinem Patienten zu einem Spiegel seines eigenen jüdischen Herkunftsmilieus. Augusta nutzt über Freuds Ausführungen hinaus auch die Erinnerungen von Elisabeth Freundlich, einer Nichte Lanzers, die die Geschichte ihrer Familie im Roman „Der Seelenvogel“ verewigt hat. Freundlich war mit dem Schriftsteller und Philosophen Günther Anders verheiratet und überlebte mit ihm gemeinsam im New Yorker Exil. Ihre Beschreibung der Familie Lanzer korrespondiert im Wesentlichen sehr genau mit Freuds Aufzeichnungen.

Freud war nicht nur angetan von der Intelligenz seines neuen Patienten, sondern sah auch die Übereinstimmungen mit seinem eigenen Leben, die häufig sogar unheimlich anmuteten. Lanzer war wie Freud selbst der älteste Sohn der Familie, in den die Eltern große Hoffnungen setzten. Die Vorfahren beider Familien stammten aus den sich angrenzenden Gebieten Mähren und Schlesien und waren nach Wien gekommen, um ihren Kindern, und hier vor allem den Buben, sozialen Aufstieg und soziale Sicherheit zu ermöglichen. Man verleugnete sein Judentum nicht, war aber eher weltlich orientiert. 1872 übersiedelte die Familie Lanzer aus dem ländlichen Simmering in die jüdisch geprägte Leopoldstadt. Im selben Haus wohnte auch die neunköpfige Familie Freud; Jahre später wohnten beide Familien – wieder ein Zufall – im selben Haus in der Pazmanitengasse, wo Ernst 1878 geboren wurde.

Lanzers Kindheit war nicht frei von Schicksalsschlägen. Zwar reflektierte die wachsende Anzahl des Dienstpersonals den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie, doch der Tod der neunjährigen Schwester hinterließ Spuren. Im Alter von 7 Jahren machte Ernst erste sexuelle Erfahrungen mit dem Dienstmädchen, damals nicht ungewöhnlich, aber heute eindeutig als sexualisierte Gewalt zu benennen. Diese Übergriffe sah Ernst Lanzer selbst als „Beginn der Krankheit“ an. Er assoziierte Sexualität mit dem Sterben, da er bei der Krebserkrankung seiner Schwester den Arzt vom „Neugebilde im Bauch“ reden hörte, was er wiederum mit den Schwangerschaften seiner Mutter in Verbindung brachte. Freud erkannte als einer der ersten den Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und sexuellem Missbrauch in der Kindheit.

Das Gymnasium war für jüdische Buben, die hier überproportional stark vertreten waren, ein Ort der Inklusion, der gesellschaftlichen Aufstieg verhieß, ohne die eigene jüdische Identität preisgeben zu müssen. Nach der Matura zeigte sich aber doch, dass die Karrieremöglichkeiten für Juden immer noch beschränkt waren und man letztlich nur zwischen Medizin und Jus als Studienfächer für freie Berufe wählen konnte. Die höhere Beamtenlaufbahn blieb verwehrt, wenn man sich nicht zur Konversion nötigen lassen wollte. Während Lanzer sich für die Rechtswissenschaften entschied, strebte Freud den Arztberuf an. Im Studium beschränkten sich die Freundeskreise beider nahezu ausschließlich auf ein jüdisches Umfeld. Wie nahe sich beide in ihrer Sozialisation waren, zeigt sich auch darin, dass Freud in seinen Originalaufzeichnungen noch die jiddischen Begriffe der Therapiegespräche verwandte, diese dann aber aus der wissenschaftlichen Abhandlung strich.

Die Jahre nach der Matura wurden überschattet von der unglücklichen Liebe zu Gisela Adler, einer entfernten Verwandten, die von den Eltern als mögliche Schwiegertochter nicht akzeptiert wurde, und dem Tod des Vaters 1899. Gewissensbisse, nicht am Sterbebett gewesen zu sein, und Probleme, sich von den Erwartungen der Mutter zu lösen, verstärkten die innere Anspannung Lanzers, die schließlich auch zur Zwangserkrankung beitrug.

Nach der erfolgreichen Therapie begann Lanzer im Jänner 1908 als Rechtsanwaltsanwärter zu arbeiten, im November 1910 heiratete er schließlich seine große Liebe Gisela und eröffnete 1911 seine eigene Rechtsanwaltskanzlei in der Bellariastraße.

Doch das Glück währte nur wenige Jahre. Im November 1914 wurde Ernst Lanzer als Soldat im 1. Weltkrieg vermisst. Sein Schicksal blieb zunächst ungeklärt. Erst im September 1919 wurde das Todesdatum mit 25. November 1914 rückwirkend festgelegt.

Im Jahr 1923 fügte Freud seinem Artikel „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“ in einer Neuveröffentlichung eine Art anonymisierten Nachruf auf Lanzer hinzu, in dem es hieß: „Der Patient , dem die mitgeteilte Analyse seine psychische Gesundheit wiedergegeben hatte, ist wie soviele andere wertvolle und hoffnungsvolle junge Männer im großen Krieg umgekommen.“[1]

Während Ernst Lanzers Frau Gisela keine neue Bindung mehr einging und 1933 in Wien starb, wurden seine Schwestern Hedwig und Rosalie 1942 in Treblinka ermordet – fast zeitgleich zu den Schwestern Freuds.

Lanzers Nichte Elisabeth Freundlich floh mit ihren Eltern in die USA. Die Rückkehr ihres Vaters Jakob Freundlich, der 1931 von der sozialistischen Nationalratsfraktion in den Verfassungsgerichtshof entsandt worden war, wurde nach 1945 von der SPÖ und seinem ehemaligen Freund Karl Renner verhindert. Dies als Randbemerkung, die nicht verwundert, wenn man den Umgang der österreichischen Eliten nach 1945 mit Emigranten kennt.

Georg Augusta ist es gelungen, exemplarisch an Ernst Lanzer die Lebensumstände einer unbekannten, aufstrebenden jüdischen Familie der Mittelschicht aufzuzeigen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Lanzer einer Generation angehöhrte, die viele österreichische Intellektuelle hervorbrachte. Diese hatten teilweise die Wiener Moderne entscheidend geprägt und gestaltet. Man denke beispielsweise an Stefan Zeig, Oskar Kokoschka oder auch Karl Kraus. Auch Lanzers Schulkollege Max Prels machte als Journalist Karriere und war einige Jahre mit der populären Schriftstellerin Vicky Baum verheiratet.

Allerdings fiel Lanzer im 1. Weltkrieg und sein Schicksal steht auch stellvertretend für viele junge Männer dieser Generation, denen es nicht vergönnt war, ihre Begabungen zu entwickeln und zu leben. Georg Augusta erinnert an einen Mann, dessen Leben tragisch durch das Weltgeschehen endete und nur ein Toter in einer Statistik geblieben wäre. Diese jungen Männer haben kaum Spuren hinterlassen, häufig auch nicht im längerfristigen Familiengedächtnis, gerade vor dem Hintergrund des noch kommenden Unheils der Shoah.

Ein weiterer großer Verdienst des Autors ist es, die Aufzeichnungen Freuds als historisch-biographische Quelle zu nutzen. Bisher wurden die Aufzeichnungen für medizinisch-klinische Forschungszwecke verwandt und Augustas Herangehensweise ist ein hervorragendes Beispiel, wie eine Quelle für unterschiedlichste Fachdisziplinen mit völlig differierenden Fragestellungen erkenntnisbringend sein kann.

Auch nicht unerwähnt bleiben soll das berührende Nachwort von Mario Lanzer, einem Nachkommen der Familie, in der die Geschichte der Vorfahren nicht zum selbstverständlichen Narrativ gehörte. Mario Lanzers Vater, ein Neffe Ernsts, hatte – wie dies in so vielen betroffenen Familien der Fall war – nie von der Vergangenheit erzählt. Dieses Schweigen führte beim Sohn zu eher abstrakten Vorstellungen von Verwandtschaftsbeziehungen und wirkte letztlich auch traumatisierend. Erst 2011 erfuhr Mario Lanzer durch eine zufällige Internetrecherche vom Schicksal seiner Familie und hatte somit nicht mehr die Möglichkeit, Elisabeth Freundlich, die bis zu ihrem Tod 2001 in unmittelbarer Nähe in Wien lebte, kennenzulernen. Das Bedauern des Zuspätkommens beim Aufspüren von Verwandten kann gewissermaßen auch als jüdische Erfahrung gesehen werden.

Ein Zitat von Walter Benjamin, das Augusta dem 1. Kapitel seines Buches voranstellt, sei hier zum Abschluss angeführt, da es das Dilemma der historischen Erinnerung beschreibt: „Schwerer ist es, das Gedächtnis des Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“ Georg Augusta hat verdienstvollerweise dem Gedächtnis Ernst Lanzers zur Ehre verholfen.

Georg Augusta: Unter uns hieß er der Rattenmann. Die Lebensgeschichte des Sigmund-Freud-Patienten Ernst Lanzer, Wien/Berlin 2020, Euro 16,00, Bestellen?

[1] Freud, Sigmund (1909): Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, in GW VIII, Frankfurt am Main, S. 381-466, hier: S. 463.

1 Kommentar

  1. Danke für diesen wertvollen Buchhinweis! Ohne die grundlegenden Unterschiede zwischen Täter- und Opferfamilien nivellieren zu wollen, möchte ich doch erwähnen, dass es das Schweigen über die Shoah und die daraus resultierende Unsicherheit über Verwandschaftsverhältnisse natürlich auch bei den Täterfamilien gibt.

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