Von Geflüchteten zu humanitären Helfenden

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Chad/ Darfuri Refugees / A HIAS community mobilizer meets with Amneh Yakum Abbakah, 40, who learned to make baskets through HIAS activities and now runs her own shop with the income she generated from selling them. / November 6, 2013 / Photo by Glenna Gordon

Igor Chubaryovs Großeltern flohen vor den Pogromen. Seine Eltern verließen die Ukraine mit anderen Juden und Jüdinnen, nachdem die Nazis angriffen. Als er 24 Jahre alt war, floh er vor den Verfolgungen in Russland und ließ sich in New York nieder. Heute hilft Chubaryov Geflüchteten in New York als Programm Manager für HIAS…

Von Ilan Cohn
Direktor HIAS Europa

Sabrina Lustgartens Großeltern flohen vor den Nazis in Polen und fanden Zuflucht in Lateinamerika. Heute ist Lustgarten die Direktorin von HIAS‘ Einsatz in Ecuador, der hunderttausenden Geflohenen aus Kolumbien und Venezuela hilft.

Chubaryov und Lustgarten sind durch ihre jüdische Identität und Familiengeschichte motiviert, anderen Menschen zu helfen. Das Gleiche gilt für viele ihrer KollegInnen in HIAS, der globalen jüdischen Nichtregierungsorganisation (NGO), die Geflüchteten, Asylsuchenden und anderen schutzbedürftigen Menschen hilft. Unsere Organisation wurde 1881 gegründet, um jüdischen Geflüchteten aus Russland und Osteuropa zu helfen. Heute helfen wir weiterhin Juden und Jüdinnen in Not, meine KollegInnen in Venezuela leisten humanitäre Hilfe für jüdische Gemeinden, die dem Risiko der Verdrängung ausgesetzt sind. Heute sind jedoch die wenigsten Geflüchteten jüdisch. HIAS verfügt über 80 Außendienststellen mit über 1‘000 Angestellten, von Tschad über Kolumbien zu Ukraine, die nicht-jüdischen Geflohenen helfen.

Am 19. August feiern die Vereinten Nationen humanitäre Helfer und Helferinnen am World Humanitarian Day. Dieses Jahr war die humanitäre Arbeit wegen Covid-19 besonders schwierig. Zwischen lockdowns und Einschränkungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit riskieren humanitäre HelferInnen ihr Leben, um jenen zu helfen, die vor Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung fliehen.

In einem Großteil Europas sind christliche Organisationen wie Caritas und World Vision schon lange an der humanitären Front. Die Generaldirektion Europäischer Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission (ECHO) arbeitet mit 45 christlichen und fünf muslimischen NGOs zusammen, jedoch mit keiner jüdischen NGO. Durch unsere jüdische Geschichte und Werte sind wir verpflichtet, eine solche Zusammenarbeit mit ECHO und gleichgesinnten NGOs anzustreben.

Geflohenen zu helfen ist inzwischen wichtiger denn je. Ende 2019 waren 80 Millionen Menschen weltweit gewaltsam vertrieben – die höchste Zahl in der Geschichte! Im Gegensatz zum verbreiteten Irrglauben, dass die meisten Geflüchteten in Europa und dem Westen beherbergt werden, sind es Entwicklungsländer wie Jordanien und Türkei, die 95% aller Geflohenen aufnehmen.

Ecuador: HIAS Mitarbeiterin im Einsatz in Ecuador (HIAS)

Durch Covid-19 könnte die Krise der Geflüchteten zu einem wahrhaften humanitären Desaster werden. Bereits vor der Pandemie konnten Geflüchtete kaum genug für den Erhalt ihre Familien verdienen. Da Jobs immer weniger werden, können 70% der EmpängerInnen von HIAS’ Hilfe kaum noch ihr Grundbedürfnis nach Nahrung befriedigen – im Gegensatz zu den nur 15% vor dem Ausbruch des Virus.

In vielen Ländern ist HIAS eine Rettungsleine. Wir arbeiten mit lokalen Supermärkten in Ecuador zusammen, damit Asylsuchende mit auf Kredit einkaufen können. In Israel haben wir ein Netzwerk von Freiwilligen aufgebaut, das Lebensmittel liefert und in Kenia bieten wir weiterhin unsere psychologischen Dienste online an.

Wir bekämpfen Covid-19 auch direkt: In Flüchtlingslagern in Tschad haben wir Stationen zum Händewaschen aufgestellt, Schutzmasken verteilt und Informationen über die Verbreitung des Virus zur Verfügung gestellt.

Zwischen den dunklen Wolken der Pandemiebekämpfung zeigen sich auch Lichtstrahlen. Viele dieser Lichtmomente kommen von Geflohenen, die Zuflucht gefunden haben und nun etwas zurückgeben möchten. Bhagawat nutzte seine betriebswirtschaftlichen Kompetenzen, um Schutzmasken und -kleidung an die BewohnerInnen in Washington D.C. zu verteilen, während Zacha Mahlzeiten für Geflohene in Peru zubereitet. Mehr dazu in diesem Video.

Was können Sie tun, um zu helfen?

Spenden. Über 100 jüdische und israelische Organisationen haben kürzlich eine zehntägige Kampagne lanciert, um Gelder für Geflohene zu sammeln und Solidarität auszudrücken. Gelder werden nun mehr denn je gebraucht, nicht nur wegen dem wachsenden Bedürfnis, sondern auch weil viele philanthropische Organisationen ihre Mittel zurückhalten oder sie für die inländische Bekämpfung des Covid-19 ausgeben.

Sich informieren. HIAS hat zahlreiche Ressourcen entwickelt, viele zu jüdischen Feiertagen, mit welchen die Thematik der Flucht mit lokalen Gemeinschaften verbunden werden kann. Kürzlich haben wir unsere HIAS Haggadah ins Französische übersetzt, um lokale Initiativen in Europa zu unterstützen.

Unterstützen. Unsere Regierungen müssen wissen, dass uns geflüchtete Menschen wichtig sind. Die Europäische Kommission bereitet einen neuen Pakt für Migration und Asyl vor, der die Errichtung neuer Asylzentren an den europäischen Grenzen vorsieht. Diese Zentren müssen genutzt werden, um nicht nur Ablehnungen schneller auszustellen, sondern um legitime Asylanträge zügiger (oder rascher) zu bearbeiten.

Die Stimme unserer Gemeinschaft in Brüssel sollte weiter als Antisemitismusbekämpfung und Unterstützung Israels reichen. Wir sollten uns gemeinsam mit anderen Glaubensgemeinschaften dafür einsetzten, dass die Europäische Union Lösungen für Geflüchtete und ihre verarmten Aufnahmeländer findet. Die Kontrolle der externen Grenzen ist zwar wichtig, aber wird alleine nicht das Problem der Zwangsmigration lösen.

Wie mein Kollege Igor Chubaryov sollten Juden und Jüdinnen nicht vergessen, dass wir in der Vergangenheit selbst zu oft Geflüchtete waren. „HIAS begann zu helfen, weil die Geflüchteten damals Juden und Jüdinnen waren“, sagt Chubaryov. „Heute hilft HIAS, weil es das ist, was wir jüdische Menschen tun: Wir helfen“.

Bild oben: Tschad: Eine Freiwillige von HIAS trifft sich mit Amneh Yakum Abbakah, die mit HIAS gelernt hat, Körbe zu flechten und inzwischen ihr eigenes Geschäft führt (Glenna Gordon)