„That’s really serious“

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Geburtstag in Corona-Zeiten …

Von Anita Haviv-Horiner

Gestern leerte ich gerade den Müll in die Tonne, als eine Nachbarin mit ihrem Hund vorbei spazierte.
„Ich habe gesehen, dass du letzte Woche mehrere Blumensträuße erhalten hast. Was war der Anlass? „, konnte sie ihre Neugier nicht verbergen.
„Es war mein 60. Geburtstag“, outete ich mich leicht betreten.
„Oh, that’s really serious“, lautete ihre spontane Reaktion.

Ja, sie hat Recht. 60 zu werden ist in der Tat eine ernste Angelegenheit, eine sehr ernste sogar. Und in Corona Zeiten eine noch wesentlich ernstere.

Ich hatte ein Fest geplant, um die einschüchternde Schwelle zur neuen Lebensphase zusammen mit Familie und Freunden zu überschreiten. In guter jüdischer Tradition sind viele meiner Lebensmenschen nicht in Israel, sondern in der Diaspora anzutreffen.

Die Hoffnung auf eine Live Begegnung hatte das tückische Virus gnadenlos zerschlagen. Betrübt verschickte ich Absagen. Klein beizugeben war noch nie meine Stärke. Und ausgerechnet Covid 19 sollte mich in die Knie zwingen? Immer mehr regte sich der vertraute Trotz in mir. Warum sollte man Zoom eigentlich nur für seriöse Veranstaltungen in Anspruch nehmen? Abgesehen davon, war mir schon vor dem erschrockenen Ausruf meiner Nachbarin klar, dass es sich beim Wechsel der Jahrzehnte-Vorwahl um eine ernste Angelegenheit handelt. So reifte in mir die Idee zu einer digitalen Geburtstagsfeier. Ganz sicher war ich meiner Sache nicht, doch das Experiment verstand ich als eine persönliche Kampfansage an das Virus.

Zweifel hin, Zweifel her: Die Bauchtanz- Lehrerin Orly sowie alle abgesagten Angehörigen und Freunde wurden wieder zusammengetrommelt. Einige reagierten mit Erstaunen auf die seltsame Einladung, manche winkten ab, doch erstaunlicherweise waren die meisten erfreut. Durch den ungebremsten Enthusiasmus am Einladen verlor ich den Überblick über die Gästeliste. Doch im Sinne der Corona-bedingten Erkenntnis, dass das Leben einfach nicht planbar ist, beschloss ich, mich einfach überraschen zu lassen.

Als Verstärkung hatte ich Co-TänzerInnen ins Wohnzimmer geholt, ganz alleine wollte ich nun doch nicht vor den Zoom-Kacheln abrocken. Die Frage der Ansteckungsgefahr schoss wohl allen Anwesenden durch den Kopf, doch wurde sie rasch verdrängt. Sicherheitshalber riss ich die Fenster weit auf.

Natürlich streikte anfangs der Sound. Der einzig zuverlässige Faktor bei digitalen Events sind – wie wir inzwischen alle wissen – nun mal Pannen. Doch Orly bezwang auch die Tücken der Technik.

Als die Verbindung endlich hergestellt war, überwältigte mich das Gäste-Mosaik. In der Wolke befanden sich über 70 Menschen aus allen meinen Lebensphasen. Die Miniaturen am Bildschirm waren zwar weit entfernt, doch sie waren DA. Und sie winkten mir zu. Nach meiner tränenreichen Begrüßung stießen wir digital an.

Prost heißt auf Hebräisch “Lechaim”, sprich „auf das Leben“. Selten habe ich den Sinn dieses Ausdrucks so stark gespürt wie in diesem Moment. Vergessen war Corona, vergessen war unsere unsägliche Regierung, vergessen war die angedrohte Annexion des Westjordanlandes, vergessen war der Antisemitismus in Europa, vergessen waren die Sorgen der letzten Monate und vergessen waren sogar die existentiellen Zukunftsängste. Durch den Blick auf den Bildschirm existierte nur der gegenwärtige Moment mit den Co-Feiernden.

Dann legte Orly los, sie wirbelte mit ihrem Schleier durch den Raum. Wir folgten ihr, wenn auch nicht so ganz souverän. Doch schließlich schwangen Alle ihre Hüften im Takt des Bauchtanzes der Lebensfreude. „Ich habe mich seit Beginn der Pandemie noch nicht so frei, lustig und vor Allem tanzend gefühlt”, schrieb mir am nächsten Tag eine Freundin.

Heute traf ich meinen Nachbarn auf der Straße. „Du hast deinen 60ten gefeiert. Ich werde in zwei Wochen 70 und habe die geplante Party“ abgesagt, erzählte er mir traurig.
„70, oh that’s really serious“, antwortete ich. “Efraim, lass Dich nicht unterkriegen. Organisiere doch auch ein digitales Fest.” Zunächst sah er sehr skeptisch drein, doch je begeisterter ich ihm von der rauschenden Ballnacht berichtete, desto mehr hellte sich sein Gesicht auf.
“Mal sehen, was meine Söhne dazu sagen”, ließ er sich breitschlagen.

Ich bin gespannt, wann bei uns im Viertel jemand 80 wird. Dann wird es nämlich so richtig serious.