Miljenko Jergović‘ schreibt in seinem Roman Ruth Tannenbaum gegen das Vergessen an…
Von Karl-Josef Müller
„‘Jüdin‘, konstatierte Binickički geistesabwesend, nachdem Ruth den Raum verlassen hatte. ‚Was wollen Sie damit sagen?‘, brauste Mikoci erschrocken auf. ‚Nichts, gar nichts.‘ ‚Dann halten Sie sich bitte künftig mit solchen Invektiven zurück, mein Herr.‘ ‚Warum?‘, wehrte sich Binickički. ‚Damit keiner denkt, Sie hätten etwas sagen wollen.‘“
Endlich hat Branko Mikoci die Idealbesetzung für das Stück „Haus der Barmherzigkeit“ gefunden, wir schreiben den 29. Oktober 1935 in Zagreb. Er hat Ruth Tannenbaum aus einer Unmenge junger Mädchen unter zehn Jahren erkoren, die kroatische Shirley Temple zu werden. Ruths große Augen haben es ihm angetan, treiben ihm die Tränen in die Augen und verschlagen ihm die Sprache.
Isidor Binickički hingegen reagiert refelxartig. Er denkt sich nichts dabei, so wie all die anderen Figuren in Miljenko Jergović‘ Roman Ruth Tannenbaum sich nichts dabei denken, wenn sie von Juden, Katholiken oder Serben anstatt von Individuen sprechen. Bevor Menschen als solche kenntlich werden, sind sie schon Angehörige einer bestimmten Gruppe, die religiös oder national definiert wird. Oder rassistisch, denn in dem kroatischen Kosmos, den Jergović in seinem Roman schildert, kann man den jüdischen Glauben ablegen und bleibt doch Jude. So wie ein Kroate katholisch sein muss, selbst wenn er sich keinen Deut um Jungfrauengeburt oder Auferstehung schert, bleibt ein Jude ein Jude, egal ob er in die Synagoge geht wie der Großvater von Ruth oder ob ihm der Glaube wie Ruths Vater gleichgültig ist.
Im Anhang seines Romans skizziert Miljenko Jergović die Entstehungsgeschichte seines Romans über Ruth Tannenbaum: „Lange reizte es mich, die Biografie von Lea Deutsch zu schreiben. Sie war eine gefeierte Schauspielerin und wurde im Alter von sechzehn Jahren ermordet. Bei meinen Recherchen fand ich wenig über ihr Leben, dafür aber viele Gründe, warum man in Zagreb ungern über sie spricht und einem nur wenige Menschen stockend und widerwillig ein paar Selbstverständlichkeiten anvertrauen.“ Anschließend betont der Autor die Eigenständigkeit seiner literarischen Konstruktion gegenüber der historischen Figur Lea Deutsch, um dieser dann doch seine Reverenz zu erweisen. Die Familie Tannenbaum wohnt im Roman in der selben Straße, in der Lea Deutsch mit ihrer Familie bis zu ihrer Ermordung gelebt hat: „Lea Deutsch gewährte mir Zugang zu ihrer Straße, und mit diesem Roman lege ich ihr einen kleinen Stein auf ihre Türschwelle, denn ein anderes Grab hat sie nicht.“
Die knappen biografischen Anmerkungen von Martina Bitunjac zu Lea Deutsch heben deren besondere schauspielerische Begabung hervor, und auch Jergović unterstreicht dieses außergewöhnliche Talent seiner fiktiven Ruth. Bitunjac hat vergangenes Jahr eine Biografie von Lea Deutsch vorgelegt. In einer Rezension des Büchleins legt Martin Arndt eine Spur, auf die auch Miljenko Jergović aufmerksam macht:
„Vielleicht lässt ja jetzt bald die kroatische Hauptstadt wenigstens eine Gedenktafel in der Gundulićeva Strasse 29 errichten. Aber warum eigentlich nicht auch ein Museum? Deutschland könnte über die Deutsche Botschaft auf die lokalen Behörden einwirken; hoffentlich lassen sich zudem viele deutsche Pädagogen motivieren, Lea in der Erinnerung deutscher Kinder wach zuhalten.“
Im Original ist der Roman von Jergović 2006 erschienen, zu diesem Zeitpunkt war die Erinnerung an Lea Deutsch wohl völlig erloschen: „Die Stadtverwaltung benannte keine Straße, keine Schule, nichts nach Lea Deutsch. Man will sie vergessen – das ist immerhin besser, als wenn man das Verbrechen entschuldigen würde.“
Zwei Jahre später erschien dann doch eine Biografie: „Über Lea Deutsch (jiddisch ausgesprochen: Dajč=Daitsch), die ‚jüngste Tochter der Zagreber Göttin Thalia‘, erschien erst 2008 eine in kroatischer Sprache geschriebene Biographie von Pavao Cindrić unter dem Titel Lea Deutsch – Zagrebačka Anne Frank (=die Zagreber Anne Frank).“ Etwa seit 2007 ist eine Straße nach Lea benannt, laut Wikipedia auch eine Schule. Doch was folgt daraus? Dazu die Stimme von Dubravka Ugresić: „Neulich habe ich in Zagreb die Fernsehsendung ‚Guten Morgen, Zagreb‘ gesehen, die Lieblingssendung meiner Mutter. Darin wurde die Geschichte des kleinen Mädchens Lea Deutsch, einer beliebten Schauspielerin und ‚kroatischen Shirley Temple‘, erzählt. Die Fotoabfolge auf dem Bildschirm wurde von der liebenswürdigen Stimme einer Sprecherin kommentiert: Und dann steckte man eines Tages Lea Deutsch in den Zug nach Auschwitz. Sie kam jedoch nie an, da sie im Zug verstarb. Nach so langer Zeit wurde erst voriges Jahr in Zagreb eine Strasse nach ihr benannt . . . Warum wurde das Mädchen in den Zug gesteckt? Wer hat sie in den Zug gesteckt? Und soll der Hinweis, dass erst nach so langer Zeit eine Strasse nach ihr benannt wurde, besagen, die Kommunisten hätten sich dagegen gesträubt? Und dass es der neuen, demokratischen Regierung zu verdanken ist, dass jetzt eine Strasse ihren Namen trägt?“
In einem Interview vom November vergangenen Jahres äußerst sich Dubravka Ugresić zur politischen Situation in Kroatien: „Some of my former contemporaries remain dedicated fascists, and others are just a little bit fascist as it suits them. It turns out that nationalism benefits some people very well, which I think is an insight into some of the political rhetoric we’re seeing on the rise again now.“ Man muss wohl Bertolt Brecht zitieren: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“
Bleibt noch zu erwähnen, dass Miljenko Jergović mit Ruth Tannenbaum einen Roman geschrieben hat, der in seinem lakonisch-sarkastischen Tonfall – kongenial übersetzt von Brigitte Döbert – nichts beschönigt und den man gerade deshalb gerne liest. Denn die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, um es in den Worten Ingeborg Bachmanns zu sagen, und in dieser zumutbaren Wahrheit liegt, wenn schon nicht unbedingt Trost, dann doch so etwas wie Würde.
Miljenko Jergović: Ruth Tannenbaum. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert, 448 S., Geb., € 26,00, Bestellen?