Ein neuer Sammelband über Antisemitismus in Deutschland heute…
Von Armin Pfahl-Traughber
Dass es einen Anstieg des Antisemitismus in Deutschland gibt, lässt sich von Alltagserscheinungen über Diskursverschiebungen und Schulhofmobbing bis zu Straftaten konstatieren. Nachdem auch der zweite Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages seinen bilanzierenden Bericht vorgelegt hat, gab es zu der damit verbundenen Entwicklung keine Gesamtdarstellung mehr mit einer weiten Perspektive. Dafür erschienen aber Sammelbände zum Thema, die zu unterschiedlichen Detailfragen wichtige Informationen lieferten. Dazu gehört auch der Band „Das neue Unbehagen. Antisemitismus in Deutschland“, der von dem Historiker Olaf Glöckner und dem Soziologen Günther Jikeli herausgegeben wurde. Er enthält zwölf Beiträge, die von bekannten Experten zu den jeweiligen Themen stammen. Autoren und Herausgeber wollen damit alte und neue Formen der Judenfeindschaft beschreiben und einschätzen.
Gideon Botsch blickt auf den „neuen Antisemitismus“ im Rechtsextremismus, welcher in seiner Dimension bislang noch verkannt werde. Dass dem Antiimperialismus auch ein Antisemitismus bei vielen Linken innewohne, thematisiert Samuel Salzborn. Mitherausgeber Jikeli liefert eine bilanzierende Darstellung zu den Ergebnissen der empirischen Sozialforschung, die sich auf den Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland wie in Europa beziehen. Dass es einen Kontext von islamischem Antisemitismus, deutscher Iran-Politik und der existentiellen Bedrohung Israels gibt, ist bei Stephan Grigat der inhaltliche Schwerpunkt. Demgegenüber erinnert Mitherausgeber Glöckner noch einmal bezogen auf antisemitische Aspekte an die Beschneidungsdebatte in Deutschland von 2012, wobei auch die europäischen Reaktionen thematisiert werden. Monika Schwarz-Friesel erörtert, wie der Gefühlswert des Hasses eine Grundlage für die Judenfeindschaft ist.
Dass es auch Antisemitismus in deutschen Qualitätsmedien gibt, macht Kai Schubert an vielen Beispielen als kleinen Fallstudien deutlich. Einen besonderen Freiraum hat die Judenfeindschaft durch das Internet erhalten, was von Matthias J. Becker und Hagen Troschke auch mit Einschätzungen zu den Bekämpfungsstrategien thematisiert wird. Alltagsformen von Antisemitismus erfasst mittlerweile das Meldenetzwerk RIAS, was bezogen auf Arbeitsverständnis und Praxis Daniel Poensgen und Benjamin Steinitz erläutern. Dass Antisemitismus auch aus der Blickrichtung der Juden stärker thematisiert werden sollte, machen Jonas Fedders und Levi Salamon deutlich. Sergey Lagodinsky fragt danach, ob Bildung toleranter macht und geht auf Ressentiments bei Studierenden ein. Und schließlich wird das antisemitische Mobbing an deutschen Schulen thematisiert, ist dort doch „Du Jude“ nach Jérome Lombard schon längst wieder ein Schimpfwort geworden.
Wie diese Ausführungen zu den einzelnen Beiträgen veranschaulichen, geht es in der Schwerpunktsetzung und Thematik durcheinander. Das ist aber ein Eindruck, den man bei den meisten Sammelbänden haben kann. Weder Autoren noch Herausgeber behaupteten Vollständigkeit. Legt man diesen Anspruch nicht an, liest man den Band mit Gewinn. Auch wenn manche Autoren bekannte Einsichten wiederholen, findet man viele Rosinen in dem Sammelband. Zwei Beispiele: Dazu gehört etwa die Analyse von Salzborn, der auf den Antiimperialismus-Antisemitismus-Kontext bei Linken mitunter in scharfem, aber nicht unberechtigtem Tonfall verweist. Die Daten zu judenfeindlichen Einstellungen unter Muslimen, die Jikelli präsentierte, verdeutlichen ein bislang noch nicht genügend berücksichtigtes Problem. Man kann darüber klagen, dass viele interessante Aspekte nicht behandelt wurden. Aber noch einmal: Das ist den meisten Sammelbänden eigen.
Olaf Glöckner/Günther Jikeli (Hrsg.), Das neue Unbehagen. Antisemitismus in Deutschland heute, Hildesheim 2019 (Georg Olms Verlag), 264 S., Euro 19,80, Bestellen?