Beautiful Traitors

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Zu Nick Broomfields Dokumentarfilm „Marianne & Leonard: Words Of Love“…

Von Miriam N. Reinhard

Zu Beginn des Films „Marianne & Leonard: Words Of Love“ sehen wir ein Photo: Eine junge Frau steht vor einer I-Ging-Statue, es ist Marianne Ihlen. Es ist ein wirklich schönes, nahezu kunstvolles Bild, ein Bild wie es das Cover von „Vogue“ zieren könnte. Doch die Szene ist nicht gestellt, sondern ein Ausschnitt aus Mariannes Lebenswelt: Sie hat als junge Frau diese Statue regelmäßig aufgesucht, dies war Teil ihrer spirituellen Selbstfindung, sie war eine Suchende, eine Zeitlang, so erzählt sie es, sei sie „ein Flüchtling“ gewesen. Ein Flüchtling, wie der Dichter und Sänger Leonard Cohen. Ihre Wege kreuzten sich auf der griechischen Insel Hydra, 65 Kilometer von Athen entfernt; dieser Ort war damals, in den frühen 1960er Jahren ein Flucht-Ort, der Intellektuelle, Künstler und Aussteiger anzog, die der Enge des bürgerlichen Lebens zu entkommen versuchten. Marianne kam 1962 mit ihrem damaligen Ehemann, dem Schriftsteller Axel Jensen, und dem gemeinsamen Sohn „little Axel“, noch ein Kleinkind, dort an. Die Ehe bröckelte, Axel, so wird uns berichtet, sei gewalttätig gewesen, vermutlich nicht direkt gegen sie, aber jähzornig, unberechenbar. Marianne traf Leonard im Eingang eines Geschäftes – eine Begegnung, die beider Leben prägte.

Um die Geschichte von Marianne und Leonard zu erzählen, verwendet Broomfield Archivmaterial, Interviewsequenzen von Marianne und Leonard und lässt auch das gemeinsame Umfeld zu Wort kommen, das zum Teil auch mal sein eigenes Umfeld gewesen ist. Broomfield war selbst als junger Mann auf Hydra, ist selbst einer von Mariannes Liebhabern gewesen – und hat sich selbst zum Bestandteil seines Dokumentarfilms gemacht. Man kann die Frage stellen, ob nicht dies der zentrale Motor seiner Produktion gewesen ist: Ein Mann will uns beweisen, dass er auch mal dabei gewesen ist, mitgespielt hat; doch er geht so geschickt dabei vor, dass man Gefahr läuft, sich in den rührenden Momenten des Films zu verfangen und den Narzissmus zunächst zu übersehen.

Wir sehen am Beginn des Films malerisch-schöne Aufnahmen von Hydra, sehen Photos von der Gemeinschaft, die dort unter den aus den Metropolen Geflüchteten entstand. Leonard verfasste in der griechischen Hitze seinen Roman „Beautiful Losers“, Marianne war seine ihm zu Füßen sitzende Muse, sie hielt ihm den Rücken frei, sorgte für das leibliche Wohl des Autors, dessen Ernährung zum großen Teil aus LSD bestand. Doch „Beautiful Losers“ sollte kein Erfolg werden – der Roman war für die damaligen Leser zu sperrig, zu unkonventionell, „verbale Masturbation“ urteilte die Kritik über ihn. Leonard beschloss, in die Musikbranche zu wechseln, er reiste von Hydra nach New York, suchte die Folksängerin Judy Collins auf, die seine nun beginnende Musikkarriere entscheidend anschieben und begleiten konnte.

„Ich wollte dir nur sagen, dass du mein Leben ruiniert hast“, soll Marianne ihr später mitgeteilt haben, der schnell klar geworden sein muss, dass das gemeinsame Leben mit Leonard nun ein Ende gefunden hatte und für die es schwierig war, ohne Leonard zu sein. Aus alten Interviewaufnahmen, möglicherweise aus einem Rundfunkinterview, weil ohne Bild unterlegt, hören wir sie sagen, sie sei suizidal gewesen, als die Liebesbeziehung mit Leonard endgültig zerbrach.

Marianne und Leonard blieben zwar in Kontakt, er schickte Geld, Telegramme, Konzerttickets, erkundigte sich nach ihrem Sohn, der zunehmend Schwierigkeiten hatte, sich im sozialen Leben zurecht zu finden – aber er führte sein eigenes Leben in der Welt der Musik, bewundert und verehrt besonders von vielen Frauen. Marianne kam in dieser Gegenwart primär nur noch als Vergangenheit vor, kunstvoll bezeugt mit dem Lied „So long, Marianne“.

Aus Leonards Leben nach Marianne erzählt uns Broomfield dann so Einiges:

Bedenklich: Leonards ständige Begleiter auf Konzerten sind das Beruhigungsmittel Mandrax und LSD gewesen. Sein Gitarrist Ron Cornelius erinnert sich, dass sie einmal 23 Nächte hintereinander LSD konsumierten. An einem der Abende wollte er auf der Bühne nach einem Akkord greifen, verlor den Halt und landete auf seinem Gesicht.

Berührend: Leonard trat eine Zeitlang in Psychiatrien auf, weil er davon ausging, dass in seinen Liedern besonders die Menschen sich wiederfinden können, die sich schon einmal besiegt gefühlt haben. Leonard litt wohl selbst unter teilweise schweren Depressionen und zog sich zeitweise völlig von anderen Menschen zurück.

Erstaunlich: „Hallelujah“ – das wohl berühmteste seiner Lieder sollte zuerst nicht erscheinen. Walter Yetnikoff, der gerade neu bei Columbia angefangen hatte, hielt es für nicht gut genug, um produziert zu werden.

Grotesk: Während der Arbeit an „Death of a Ladies‘ Man“ mit Musikproduzent Phil Spector, schob Waffennarr Spector ihm einen Revolver in den Nacken und sagte: „I love you, Leonard!“ Leonard antwortete: „I hope you do, Phil.“

Kurios: Als Leonard 2004 nach fünf Jahren Aufenthalt in einem Zen-Kloster wieder in den Alltag zurückkehrte, hatte seine damalige Managerin Kelley Lynch mehrere Millionen seines Vermögens durchgebracht, er war pleite und ging auf Tournee, um eine Rente zu haben. Er war sich nicht sicher, ob dies funktionieren würde – doch die Konzerte waren ausverkauft, brachten ihm mehrere Millionen Dollar im Jahr.

Vertiefenswert: Zu Dichter Irving Layton hatte Leonard schon als junger Mann eine sehr enge Beziehung. Seine Exfrau Aviva Layton erinnert sich, beide hätte vom jeweils Anderen als eine Erleuchtung gesprochen. Sie sagt, die Nähe zwischen den Beiden sei auch durch ihre jüdische Identität begründet gewesen, die für sie lebensweltlich bedeutend gewesen ist.

Wunderlich: Bei einem Konzert in Jerusalem kam Leonard nicht so richtig in Stimmung, er wollte das Konzert abbrechen, da entschied er, sich das Gesicht zu rasieren. Er rasierte sich hinter der Bühne und setzte das Konzert fort.

So interessant und unterhaltsam solche Episoden auch sind – mit Marianne haben sie wenig bis gar nichts zu tun, denn sie war meistens nicht dabei. Ihre Geschichte wird aber nicht mit derselben Intensität weitererzählt, wie dies mit der Geschichte von Leonard geschieht. Wir erfahren noch von Momenten aus ihrem Leben, wo sich ihre Wege erneut mit denen Broomfields gekreuzt haben, etwa als sie ihn 1968 in London besuchte, ihn in die Welt der Protestbewegungen einführte und dazu motivierte, seinen ersten Dokumentarfilm zu drehen. Wir erfahren, dass er sie in London zur Abtreibungsklinik begleitete– denn sie war schwanger von Leonard und entschied, keine gemeinsamen Kinder mit ihm zu haben.

Zwar erfahren wir auch noch, dass Marianne irgendwann zurück nach Norwegen ging, dort ein bürgerliches Leben als Sekretärin begann, einen Norweger heiratete, sich von ihm scheiden ließ, ihn dann erneut heiratete – aber über ihr weiteres Leben in Norwegen hören wir nichts. Dies ist auch deswegen erstaunlich, da Broomfield sogar ihre Biographin Helle Goldman ins dokumentarische Ensemble geholt hat, die sicher etwas mehr über Mariannes Leben hätte berichten können, hätte man sie nur gezielt dazu gefragt.

Eine letzte gemeinsame Aufnahme von Marianne und Leonard sehen wir, als sie eine alte immer noch schöne Frau geworden ist: Sie sitzt in einem Konzert in Oslo, Leonard, ein alter immer noch schöner Mann, steht auf der Bühne und singt das vor Jahrzehnten für sie komponierte, so großartige Liebeslied „So long, Marianne“, sie singt mit, ist sichtbar gerührt, winkt ihm zu – ihr Ehemann Jan sitzt neben ihr. DAS sind „Words Of Love“, die man nicht schöner hätte zeigen können.

Broomfields Dokumentarfilm wäre eine in sich heterogene Collage gewesen, mit guten Aufnahmen von Leonard Cohen und interessanten, vielleicht auch bislang teilweise unbekannten Episoden seines bewegten Lebens; er könnte als ein kleines, zeitgeschichtliches Portrait von Hydra gelten, das die Chancen und Schattenseiten eines vermeintlichen Aussteigerparadies aufzeigt, und damit eine soziologische Topographie en miniature verfasst.

Der dem Film eingeschriebene Narzissmus wäre verzeihbar gewesen, hätte er mit der Aufnahme des Cohen-Konzertes und Mariannes Rührung über den für sie komponierten Song geendet.

Doch Broomfield hat noch exklusives Filmmaterial über Marianne von einem gemeinsamen Freund erhalten, das er uns zeigen muss, und das Zeigen dieser Szene ist endgültig Verrat an ihr. Sicher: Man könnte diese Szene auch anders lesen, in ihr eine Chance sehen, Menschen zu berühren in einer Gesellschaft, die immer mehr abzustumpfen droht, in einer Gesellschaft, in der das Ende des Lebens aus der Sichtbarkeit möglichst verbannt werden soll, in der wir mit Alter und Sterben nicht konfrontiert werden wollen, und in der zu trauern verlernt worden ist.

Ich verstehe diesen Gedanken und er berührt mich – dennoch kann ich mich ihm nicht anschließen. Wir sollten von der gezeigten Aufnahme nichts wissen, denn wir sind mit ihr nicht adressiert. Diese Aufnahme hat einen eindeutig benannten Adressaten – wir, ein unbekanntes Millionenpublikum in Kinosälen, sind damit nicht gemeint. Wir arbeiten unsere gesellschaftlichen Defizite nicht auf, wir werden nicht empathischer füreinander, wenn wir ausgerechnet an einer Stelle hinsehen, die uns mit dramaturgischem Geschick und Kalkül am Ende eines Films präsentiert wird, um sich mit ihr der Rührung seines Publikums zu versichern; im Gegenteil: Wir verlieren gesellschaftlich, wir machen uns zu Komplizen eines Verrats. Mit der Verwendung der Aufnahme hat der Dokumentarfilm eine ethische Grenze überschritten.

Ganz zum Schluss, im Abspann, noch einmal das Photo: Marianne, die vor der I-Ging-Statue verweilt. Schade, dass Broomfield Marianne nicht aus der ästhetischen Erstarrung, der Figuration der Muse entlassen konnte, sie unabhängig werden lassen konnte von den großen Männern, die ihr Leben geprägt haben, und von denen sie sich aber auch immer wieder befreite. Broomfields Film befreit sie nicht. Sie ist, so kann man denken, Broomfields Beautiful Picture, das er ansehen möchte, in dem er sich und seine Geschichte spiegeln kann – es scheint, er habe in erster Linie nach sich selbst und seinem Platz in der Geschichte gesucht und Mariannes Geschichte zur Legitimation seines Sprechens gebraucht. Vielleicht ist es gut, dass Marianne nicht noch einmal miterleben muss, wie ein Mensch, dem sie sich einst nahe fühlte, sie dann für seine Kunst verrät.

So long, Leonard: Danke für so viel klangvolle Poesie, die noch immer die Menschen zusammenzuführen, zu bewegen und zu berühren vermag.
So long, Marianne: Danke für deine ganze eigene Art, mit der du in deinem Leben auf der Suche warst.

Bild oben: Screenshot aus dem Trailer