Die Zahlen hinter den Zahlen – Bibis Bilanz

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Israels Wirtschaft steht so robust da wie noch nie. Das jedenfalls behauptet Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und erklärt den jahrelangen konjunkturellen Aufschwung zu seinem ganz persönlichen Verdienst. Grund genug, einmal Bilanz zu ziehen…

Von Ralf Balke

Endlich geschafft! Seit dem 20. Juli kann Benjamin Netanyahu für sich den Titel in Anspruch nehmen, Israels am längsten regierender Ministerpräsident zu sein. Mit genau 4.876 Tage im Amt konnte er damit am Samstag vergangener Woche Staatsgründer David Ben Gurion, den bisherigen Rekordinhaber, überholen. Als einer der ersten Gratulanten meldete sich US-Präsident zu Wort. „Unter Ihrer Führung konnte sich Israel in ein technologisches Powerhouse verwandeln und stieg zu einer Weltklasse-Volkswirtschaft auf“, twitterte Donald Trump. „Viel wichtiger aber ist die Tatsache, dass Sie Israel mit einem klaren Bekenntnis für die Werte der Demokratie, der Freiheit und der Chancengleichheit regiert hatten, die beide unsere Nationen so hochhalten und teilen.“ Diese Zeilen dürften ein wenig Balsam für den gestressten Ministerpräsidenten gewesen sein. Denn mit der Bildung einer neuen Regierung nach dem Wahlen im April hatte es nicht so richtig klappen wollen und die Staatsanwaltschaft ist ihm aufgrund diverser Verfahren wegen Vorteilsnahme im Amt und anderer Vergehen weiterhin dicht auf den Fersen. Deshalb wird am 17. September zum zweiten Mal in diesem Jahr gewählt. Ob Netanyahu es erneut schaffen könnte, ausreichend Stimmen auf sich zu vereinigen, das weiss man erst am Tag darauf. Was aber jetzt schon mit Gewissheit gesagt werden kann: Im laufenden Wahlkampf wird der Ministerpräsident immer wieder auf die ebenfalls von Trump erwähnte robuste Wirtschaft des Landes verweisen, deren Aufstieg und Dynamik er gerne mit seiner Person in Verbindung bringt.

Vor allem die vergangenen zehn Jahre werden oftmals als das „goldene Zeitalter“ der israelischen Wirtschaft bezeichnet. Und in der Tat, die makroökonomischen Daten sind beeindruckend – auf den ersten Blick jedenfalls. So wuchs das Volumen des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Zeitraum laut Weltbank zwischen 2008 und 2018 von knapp 216 Milliarden Dollar auf fast 370 Milliarden Dollar. Auch im internationalen Vergleich fiel das Wachstum überdurchschnittlich hoch aus. In manchen Jahren legte das BIP um sogar fünf Prozent und mehr zu. Selbst als Europa und die Vereinigten Staaten vor zehn Jahren in die Rezession abrutschten, verzeichnete man in Israel noch ein Plus von immerhin 1,2 Prozent. Die Inflation, lange Zeit ein Sorgenkind, beträgt seit der Jahrtausendwende im Durchschnitt nur noch 1,6 Prozent im Jahr und auch die Daten vom Arbeitsmarkt sehen sehr gut aus. In Israel herrscht quasi Vollbeschäftigung und die Arbeitslosenrate beträgt aktuell gerade einmal vier Prozent. Sie liegt damit 1,3 Prozentpunkte unter dem Durchschnittswert der OECD-Länder. Genau diese Daten sind es, die Netanyahu stets ins Feld führt, um auf seine Leistungen zu verweisen. So zum Beispiel auf der Israel Business Conference in Jerusalem im vergangenen Dezember. Dort erklärte er, dass in Israel Massenproteste wie die der sogenannten Gelbwesten in Frankreich einfach undenkbar wären. „Weil die Menschen die Wahrheit kennen. Die israelische Wirtschaft ist eine gigantische Erfolgsgeschichte.“ Ganz offensichtlich hat Netanyahu da eine kleine Gedächtnislücke. Denn schon 2011 gingen Zehntausende Israelis auf die Straße, um gegen soziale Ungerechtigkeiten, horrende Preise und die wachsende Schere zwischen Arm und Reich zu demonstrieren – von den Zeltlagern der Protestierenden auf dem Rothschild-Boulevard dürfte auch er in den Medien erfahren haben.

Aber wenn die Rede von der grassierenden sozialen Ungleichheit ist, verweisen Netanyahu und andere Verantwortliche in Jerusalem immer wieder gerne auf die rasante Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf. Dieses legte zwischen 2009 von 27.512 Dollar auf satte 39.835 Dollar im vergangenen Jahr zu, ein Wachstum von fast 45 Prozent. Im selben Zeitraum stieg dieser Wert im Durchschnitt in der OECD um nur 34 Prozent, und zwar von 33.990 Dollar auf 45.647 Dollar. Bereits dann sehen die Zahlen schon ganz anders aus: Israels BIP pro Kopf liegt also fast 6.000 Dollar unter dem OECD-Durchschnitt. Sowohl im Vergleich der Zuwachsraten als auch in absoluten Zahlen steht das Land plötzlich nicht mehr so gut da. Beispielsweise wuchs das BIP pro Kopf im selben Zeitraum in Lettland um 81,5 Prozent und in Litauen sogar um 95 Prozent. Und selbst Irland, nicht unbedingt als Mitglied im Club der Superreichen verschrien, hat deutlich bessere Werte. Auf der grünen Insel wuchs das BIP pro Kopf von 52.100 Dollar im Jahr 2009 auf 79.500 Dollar im Jahr 2018.

Wenn es um die sogenannte Purchasing Power Parity (PPP), zu deutsch: Kaufkraftparität, geht, um dann das BIP pro Kopf auch richtig einschätzen zu können, sieht es für Israel ziemlich finster aus. Zur Erklärung: Im Rahmen der PPP werden die Ausgaben für einen bestimmten Warenkorb in den jeweiligen Ländern als auch die tatsächlichen Wechselkurse mit in die Berechnungen einbezogen und in ein Verhältnis gesetzt. Nur auf diese Weise lassen sich Wirtschaftsdaten verschiedener Länder auch wirklich sinnvoll vergleichen. Die OECD bescheinigt Israel zwar eine Verbesserung in Sachen Kaufkraft um 50 Prozent seit Mitte der 1990er Jahre, aber selbst Staaten wie Bulgarien konnten diesen Wert um das dreifache im selben Zeitraum steigern. Als ein weiterer Aspekt, der negativ für die Bilanz von Netanyahu ist, erweisen sich die mittlerweile astronomisch hohen Lebenshaltungskosten. Nach einer Untersuchung des Information and Research Center der Knesset liegen diese in Israel offiziell ziemlich genau um ein Viertel höher als im OECD-Durchschnitt. Bezogen auf einige Lebensmittel des täglichen Bedarfs wie Milchprodukte oder Eier können es auch schon mal 70 Prozent sein. Israelis müssen auch bei Ausgaben für Transport, Gesundheit oder kulturelle Aktivitäten deutlich tiefer in die Tasche greifen als die Menschen anderswo. Zudem kommen noch zahlreiche Steuern, die dafür sorgen, dass die Preise für Benzin in Israel die vierthöchsten in der Welt sind und die für einen Neuwagen die fünfthöchsten. Last but not least müssen die Ausgaben für das Wohnen mit einbezogen werden. So haben sich in den vergangenen zehn Jahren die Preise für Wohnungen und Häuser glatt verdoppelt. Aber auch diese Angaben sind mit Vorsicht zu geniessen, weil es nur Durchschnittswerte sind und die Daten sowohl aus Tel Aviv als auch aus Sderot oder Kiriyat Shmona mit in die Statistik einfließen. In der Peripherie dürfte die Teuerung deutlich geringer ausgefallen sein, in den urbanen Zentren und ihren Speckgürteln dagegen um so dramatischer.

All diese Faktoren zusammen genommen, lassen die guten Nachrichten vom Wirtschaftswunderland Israel in einem anderen Licht erscheinen. So hat das Taub Center zwar festgestellt, dass sich die Gehälter in den untersten beiden Lohngruppen zwischen 2012 und 2017 dank der Anhebung des Mindestlohns und veränderter Steuergesetzen um immerhin 19 Prozent ansteigen konnten. Trotzdem verdient nur ein Drittel aller Israelis in einem Beschäftigungsverhältnis mehr als den Durchschnittslohn von monatlich derzeit umgerechnet 2.987 Dollar. Wer mit diesem Geld nur sich selbst versorgen muss, kommt mit einem solchen Betrag vielleicht halbwegs über die Runden, bei Familien wird es dann zum Monatsende oft eng.

In der Ära Netanyahu hat sich ein großer Trend herauskristallisiert, der sich ebenfalls negativ in der Bilanz auswirkt und geradezu emblematisch für seine Regierungszeit stehen könnte: Der israelischen Mittelschicht geht es sprichwörtlich an den Kragen. Seit Jahren bereits leidet sie unter massiver Schwindsucht. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle OECD-Studie. Zwar gibt es in Israel mehr Personen mit einem hohen Einkommen als im OECD-Durchschnitt, nämlich zwölf Prozent im Vergleich zu neun. Dafür zählen nur noch 54 Prozent der Israelis zu Mittelschicht, während es im OECD-Durchschnitt 61 Prozent sind. Geht es um den Anteil der weniger Begüterten, so schneidet Israel geradezu katastrophal ab: 19 Prozent gelten als arm, der OECD-Durchschnitt liegt bei gerade einmal elf Prozent. Auch im historischen Vergleich sieht es nicht rosig aus: Konnten noch 62 Prozent (OECD-Durchschnitt: 68 Prozent) der sogenannten Babyboomer, also derjenigen der zwischen 1942 und 1964 Geborenen in Israel damit rechnen, eines Tages zur Mittelschicht zu gehören, sind es bei der Generation X, den zwischen 1965 und 1982 zur Welt Gekommenen, nur noch 56 Prozent (OECD-Durchschnitt: 64 Prozent) und bei den zwischen 1983 und 2002 geborenen sogenannten Millennials gerade einmal 55 Prozent (OECD-Durchschnitt: 60 Prozent).

Das sich dieser Trend verschärfen könnte, dafür gibt es auch einige gute Gründe: Während in den allermeisten Industriestaaten sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die ersten Lebensjahre eines Neugeborenen entscheidend sind, um spätere Diskrepanzen in den Bereichen Bildung oder sozialer Status zu vermeiden und deshalb überall kräftig in den Ausbau frühkindlicher Erziehungsangebote investiert wird, sind in Israel derartige Angebote seit einigen Jahren nicht mehr umsonst, sondern kostenpflichtig, was wiederum ganze Bevölkerungsgruppen von derartigen Fördermaßnahmen ausschließen dürfte und noch zu einer Hypothek für die Zukunft werden könnte. Schon jetzt ist Israel Schlusslicht bei den staatlichen Ausgaben für den Nachwuchs. Gerade einmal 2.700 Dollar im Jahr und pro Kind macht Jerusalem dafür locker, der OECD-Durchschnitt beträgt 12.300 Dollar.

Ungeachtet all dieser Daten zählt Israel zu den zehn Ländern mit der glücklichsten Bevölkerung weltweit. Wie das Israel Democracy Institute vergangenes Jahr herausfand, sagen 60 Prozent aller Israelis, dass sie entweder „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ mit ihrer Lebenssituation seien. Zugleich aber, und das bestätigen die Zahlen, äußern sich ebenso viele „besorgt“ oder „sehr besorgt“ darüber, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder so zu unterstützen wie es ihre Eltern bei ihnen getan hatten. Und 65 Prozent gaben an, dass sie befürchten, nicht genug Geld für die Zukunft beiseite legen zu könne. All das sind alarmierende Angaben und führen zu einer wichtigen Frage: Wenn Israel wirklich das Powerhouse ist, wie es Netanyahu und Co. immer wieder behaupten, warum kann man dann nicht mehr für seine Bürger tun?

Bild oben: Premier Netanyhu, 2015, (c)  Foreign and Commonwealth Office