Jacob Jacobson – Retter der jüdischen Familienforschung

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Wer sich mit der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt, kommt kaum an Namen wie Leo Baeck oder Selma Stern vorbei. Ihre Leistungen in der Wissenschaft und deren Auswirkungen sind bis heute spürbar und nicht mehr wegzudenken. Ein jahrelanger Weggefährte und Freund dieser beiden berühmten Persönlichkeiten war Jacob Jacobson. Er war, obwohl beinahe in Vergessenheit geraten, der größte jüdische Genealoge des vergangenen Jahrhunderts…

Von Jennifer Herold

Jacob Moses Jacobson, am 27. November 1888 in eine traditionsreiche Rabbinerfamilie hineingeboren, wuchs in seiner Geburtsstadt Schrimm in Posen und in Hamburg auf. Dort besuchte er die Talmud Tora Schule und legte sein Abitur in Gnesen in Posen ab.

Ab dem Wintersemester 1907/1908 studierte er, unter anderem an den Universitäten München und Berlin, Geschichte und Philosophie. Bevor Jacobson hier seine Dissertation beenden konnte brach der Erste Weltkrieg aus. Als studentisches Mitglied des KJV (Kartell jüdischer Verbindungen) meldete er sich 1914 zur freiwilligen Kriegsteilnahme. Zweimal wurde Jacobson an der Front schwer verwundet. 1917 trug er eine Kopfverletzung davon die so schwer war, dass er nicht mehr an die Front zurückkehren konnte. 1919 wurden ihm für seinen Einsatz das Eiserne Kreuz II. Klasse und das Verwundetenabzeichen verliehen.

Nach seiner Genesung reichte er schließlich zum Ende des Jahres seine Dissertation Die Stellung der Juden in den 1793 und 1795 von Preußen erworbenen polnischen Provinzen zur Zeit der Besitznahme an der Universität Marburg ein und wurde am 10. Dezember des selben Jahres zum Dr. phil. promoviert.

Ebenfalls 1919 übersiedelte Jacobson nach Berlin, wo er ab 1920 die Leitung des Gesamtarchivs der deutschen Juden übernahm – eine Stelle, die für seinen weiteren Werdegang wegweisend sein sollte.

Das im Jahr 1905 mit der Hilfe der Großloge des Orden Bne Briss gegründete Archiv, dessen erster Leiter Eugen Täubler war, befand sich nach dem Ersten Weltkrieg und der darauffolgenden Hyperinflation in großen finanziellen Schwierigkeiten. Nur durch die finanzielle Unterstützung des preußischen Landesverbandes der jüdischen Gemeinden, des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes sowie durch wiederholte Hilfe durch den Orden Bne Briss konnte das Archiv weiterhin bestehen.

Nach seinem Dienstantritt als Leiter des Gesamtarchivs machte es sich Jacobson zur Aufgabe, möglichst viel Archivmaterial aus möglichst vielen jüdischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum nach Berlin zu holen. 1926 beherbergte das Archiv bereits Material aus 344 Gemeinden, hinzu kamen zahlreiche Akten und anderes Archivgut von Privatpersonen. Große Gemeinden wie Frankfurt am Main konnte Jacobson nicht für sein Archiv gewinnen – sie hatten gemeindeinterne Archive. Die einzige große Gemeinde, die dem Gesamtarchiv wertvolles Archivgut, unter anderem Ehe- und Beschneidungsbücher, zur Verfügung stellte, war die jüdische Gemeinde zu Berlin.

In den darauffolgenden Jahren warb Jacobson unermüdlich für das Zusammentragen und den Erhalt jüdischer Eheregister, Totenbücher, Gemeindelisten und anderer Güter, die die Geschichte und Genealogie jüdischer Gemeinden und Familien festhielt. In zahlreichen Zeitungsartikeln, unter anderem für das Israelitische Familienblatt in Hamburg oder in der Jüdisch-Liberalen Zeitung für Berlin und Breslau rief er Gemeinden und Privatpersonen dazu auf, alles, was ihnen für den Erhalt des jüdischen Erbes wertvoll erschien, seien es Torawimpel oder Akten jeglicher Art, dem Gesamtarchiv in Berlin zukommen zu lassen. Selbst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten publizierte er weiterhin Artikel über die Wichtigkeit der Arbeit seines Archivs – vermutlich wohlwissend, wie wichtig die Bewahrung jüdischen Erbes noch sein würde.

Schnell wurde Jacobson in Wissenschaftskreisen für seine genealogische Expertise bekannt. Sein umfangreiches Wissen, gepaart mit seinen Sprachkenntnissen des Hebräischen, erregte nicht nur unter Historikern aufsehen. Auch dem nationalsozialistischen Regime entgingen Jacobsons Fähigkeiten nicht. Die Regierung versuchte Jacobsons Arbeit für sich zu nutzen. Stückweise verdrängten die Nationalsozialisten die Mitarbeiter des Gesamtarchivs, die Räumlichkeiten in der Oranienburger Straße wurden peu à peu von der Reichsstelle für Sippenforschung, später Reichssippenamt (RSA), vereinnahmt. Allein Jacobsons Stellung wurde im Zuge der schleichenden Übernahme des Archivs nicht in Frage gestellt. Noch 1938, kurz vor den Novemberpogromen, veröffentlichte er sein genealogisches Werk Jüdische Trauungen in Berlin 1723–1759.

Nach dem 9. November 1938 wurden die Akten des Archivs kurzzeitig beschlagnahmt. Durch Jacobsons persönlichen Einsatz wurde das Quellenmaterial nur wenige Tage später wieder freigegeben. Jetzt allerdings war das spätere Reichssippenamt offizieller Besitzer des Archivgutes, das Gesamtarchiv der deutschen Juden wurde endgültig geschloßen und Jacob Jacobson zur Zwangsarbeit für das RSA gezwungen.

Über Jahre wurde Jacobsons Expertise von den Nazis für die Vergabe von „Ariernachweisen“ missbraucht. Auch wenn er alles in seiner Macht stehende tat, um bei nicht eindeutiger jüdischer Herkunft der Ausstellung eines „Ariernachweises“ zuzustimmen, konnte er nicht alle retten, deren Akten durch seine Hände gingen.

Auch er selbst bekam die antisemitische Politik der Nationalsozialisten am eigenen Leib zu spüren. Im Mai 1943 wurde Jacobson nach Theresienstadt deportiert. Auch hier verlangten die Nazis von ihm, sich den „Jüdischen Wissenschaften“, wie es Jacobson selbst in seinen Terezin-Aufzeichnungen aus dem Jahr 1946 nannte, zu widmen.

Nach der Befreiung Theresienstadts am 8. Mai 1945 emigrierte Jacobson zu seiner Frau und seinem Sohn nach London. Beide konnten Deutschland bereits kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verlassen. Nach Jahren beruflicher und finanzieller Schwierigkeiten bekam Jacobson 1957 eine Anstellung am Londoner Leo Baeck Institut. Bis zu seinem Tod 1968 brachte er sein Know-how nicht nur dort ein, sondern beriet auch seine Freundin Selma Stern bei ihrem Werk Der preussische Staat und die Juden, welches 1962 veröffentlicht wurde.

Jacob Jacobson war der wohl umtriebigste und bekannteste Archivar und Genealoge der Weimarer Republik. Durch seine Zwangsarbeit für das nationalsozialistische Regime und dem damit einhergehenden Verdacht auf Kollaboration begann sein Stern zu sinken. Trotz seiner Arbeit für das LBI und die Publikation seiner zwei wichtigsten Werke in den 1960er-Jahren erlangte er nie wieder denselben Status wie zur Zwischenkriegszeit und geriet mit den Jahrzehnten fast in Vergessenheit. Doch Jacobsons Arbeit ist bis heute von enormer Relevanz für die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und für die Judaistik im Besonderen. Nicht nur die Wissenschaft ist Jacobson zu Dank verpflichtet. Ohne seine jahrzehntelange unermüdliche Arbeit für die jüdische Genealogie würde vielen Juden auf der Welt ein großes Stück Familiengeschichte fehlen.

Jennifer Herold ist Autorin einer Jüdischen Miniatur zu Jacob Jacobson, die soeben bei Hentrich & Hentrich erschienen ist.