Nach dem Raketenbeschuss ist vor dem Raketenbeschuss

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Erneut hat die Hamas beinahe einen handfesten Krieg mit Israel vom Zaun gebrochen. Was aber bezwecken die im Gazastreifen herrschenden Islamisten mit ihren ständigen Versuchen einer Eskalation des Konfliktes? …

Von Ralf Balke

Irgendwie erinnert das Bild an ein absurdes Theaterstück. Da posiert Hamas-Chef Ismail Haniyeh am Mittwoch mit dem Victory-Zeichen vor den Trümmern eines Hauses, worin sich noch wenige Stunden zuvor sein Büro befand, und erklärt vollmundig: „Der Widerstand hat eine klare Ansage gemacht und Israel verstand die Botschaft. Ich gratuliere allen, die mit dazu beigetragen haben, der zionistischen Arroganz im Gazastreifen ein Ende zu setzen.“ Vorangegangen war ein erneuter Schlagabtausch zwischen seiner Organisation und der israelischen Armee, der am Donnerstag den 14. März seinen Anfang nahm. Das erste Mal seit dem Gazakrieg von 2014 waren im Großraum Tel Aviv die Sirenen zu hören, weil sich zwei Raketen näherten, die jedoch keinerlei Schaden anrichten konnten. Kurz danach folgten neun weitere auf israelische Ortschaften rund um die Küstenenklave. Sowohl die Hamas als auch die noch radikalere Konkurrenz vom Islamischen Dschihad bemühten sich sofort, den Vorfall herunterzuspielen und erklärten, dass der Abschuss „ein Versehen“ gewesen sei, der durch „Wartungsarbeiten“ hervorgerufen wurde und man keinerlei Interesse an einer Eskalation des Konflikts mit Israels habe. Die israelische Luftwaffe reagierte trotzdem und nahm rund 100 Ziele im Gazastreifen ins Visier, wobei vier Personen verletzt wurden.

Dann erfolgte am Montag ein weiterer Angriff auf das israelische Kernland. Eine Rakete traf das Wohnhaus einer Familie im nur wenige Kilometer nördlich des Ballungsraums von Ra’anana und Kfar Saba gelegenen Dörfchen Mishmeret und verletzte eine siebenköpfige Familie. Erneut wies die Hamas jegliche Verantwortung von sich und behauptete in einer offiziellen Erklärung, dass der Abschuss ebenfalls unbeabsichtigt war und sehr wahrscheinlich durch „schlechtes Wetter“ ausgelöst worden sei. Wenig überraschend für alle Beteiligten schlug die israelische Luftwaffe sofort zurück, was wiederum die Hamas zum Anlass nahm, dutzende Raketen auf die israelischen Kibbuzim und Moschavim in unmittelbarer Nachbarschaft abzufeuern. Und wie immer nach einigen Tagen Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen sowie israelischer Militäraktionen darauf als Antwort reisten eilends Vermittler aus Ägypten an, um eine Waffenruhe einzufädeln, die seit Mittwoch von beiden Seiten eingehalten wurde – vorläufig jedenfalls.

Doch wie lautete nun die Botschaft, von der Haniyeh so siegessicher schwadronierte? Und was genau soll der politische Gewinn für ihn und seine Hamas gewesen sein? Natürlich können die regierenden Islamisten sich nun damit brüsten, dass sie die Reisepläne von Ministerpräsident Benjamin Netanyahus durcheinandergewirbelt hatten und ihm seinen geplanten Auftritt auf der jährlichen AIPAC-Konferenz in Washington vermasseln konnten, weil er aufgrund der sich zuspitzenden Situation vorzeitig nach Israel zurückkehren musste. Doch lohnen sich dafür dutzende zerstörte Häuser und das bewußte Inkaufnehmen von Toten? Aus der Perspektive der Hamas mag das zweifellos der Fall sein, so die These von Avi Issacharoff. Denn am Image von Netanyahu als „Mr. Security“ vermochten sie so ein weiteres Mal ordentlich zu kratzen, ist der Kenner der politischen Szene unter den Palästinensern überzeugt. „Jedes Kind in Gaza weiss doch längst, dass es im Interesse der israelischen Regierung liegt, wenn die Hamas die Kontrolle über die Küstenenklave behält.“ Natürlich würden das weder Netanyahu, noch einer seiner Minister jemals zugeben, aber die Alternativen zur den aktuellen Islamisten sind derart finster, dass Jerusalem immer wieder bereit ist, sich auf Kompromisse mit ihnen einzulassen. Und vor einem Waffengang, der den Einsatz von Bodentruppen mit sich brächte, schrecken die Israelis weiterhin zurück. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Hamas mit dem jüngsten Beschuss des israelischen Kernlands eine rote Linie überschritten hatte.

Aktuell sehen diese Zugeständnisse, die Israel eingehen soll, wohl folgendermaßen aus: Die Zahl der Lastwagen, die jeden Tag aus Israel einreisen dürfen, um die Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen, soll deutlich aufgestockt werden. Ebenso fordert man eine erneute Erweiterung der Fischereizone auf zwölf Seemeilen sowie eine Erhöhung der Stromlieferungen. Im Gegenzug würde die Hamas dafür sorgen, dass keine weiteren Ballons mit Brandsätzen mehr israelisches Territorium erreichen. Aber viel bedeutsamer wäre das Versprechen, dass die für den 30. März anlässlich des Jahrestages des Beginns der wöchentlichen „Marsch der Rückkehr“-Demonstrationen geplante Massenkundgebung am Grenzzaun ohne Gewalt verlaufen wird. Genau dieses Datum wird wohl der Testfall sein, ob die jüngste Waffenruhe anhält oder nur eine erneute Atempause vor dem nächsten Schlagabtausch ist.

Perspektivisch ergibt sich für die Hamas auf jeden Fall eine Win-Win-Situation. Geht die geplante Großkundgebung ohne größere Zwischenfälle über die Bühne, kann sie das als Beweis dafür verbuchen, dass sie die Lage im Gazastreifen weiterhin voll im Griff hat – angesichts der aktuellen Proteste gegen die katastrophalen Lebensbedingungen, mit denen sich ihre Sicherheitskräfte neuerdings herumschlagen müssen, ein wichtiges Signal nach außen. Kommt es aber zu Gewalt und Bilder von toten oder verletzten Demonstranten machen die Runde, dann haben die Islamisten ihre „Märtyrer“, um Israel in der Weltöffentlichkeit an den Pranger zu stellen und sich selbst als letzte Bastion im Kampf gegen den zionistischen Erzfeind zu inszenieren. Auf diese Weise kann man gleichfalls gegen die Konkurrenz in Ramallah punkten. Denn der aktuelle Schlagabtausch zwischen Israel und der Hamas gleicht nur auf dem ersten Blick allen vorangegangen Runden. Jetzt wird ebenfalls gegen Ramallah scharf geschossen – zumindest verbal. So behauptete Sami Abu Zuhri, Führungsmitglied der Hamas und zugleich ihr Sprecher, dass Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas bei den jüngsten Luftangriffen auf Gaza mit Israel gemeinsame Sache gemacht hätte. „Eine Untersuchung hat ergeben, dass der Geheimdienst der Palästinensischen Autonomiebehörde hinter den Telefonanrufen und Textnachrichten stand.“ Seit Jahren bereits warnen die israelischen Streitkräfte vor Luftschlägen auf Objekte, die sie im Visier haben, auf diese Weise im Vorfeld die Bewohner in der Umgebung, um so zivile Opfer zu vermeiden. Nun sei es wohl die „schmutzige Aufgabe der Palästinensischen Autonomiebehörde“ gewesen, als Kollaborateur diese Rolle zu übernehmen, so Abu Zuhri weiter.

Die Hamas wird auch in Zukunft hoch pokern. Zu groß ist die Versuchung, Israel zu beweisen, dass es ihre Entscheidung bleibt, ob die Bewohner von Sderot, Ashkelon oder den kleinen Ortschaften rund um den Gazastreifen die Nächte in den Luftschutzbunkern verbringen oder nicht. Und neuerdings soll das ebenfalls für die bis dato weitestgehend verschonten Tel Aviver gelten. Ihr Wille zum Widerstand reicht sogar, um Einfluss auf die israelische Innenpolitik zu nehmen oder –wie ganz aktuell – auf die Wahlen am 9. April, so die Selbstwahrnehmung der Hamas. Zugleich wollen die regierenden Islamisten aller Welt zeigen, dass sie Israel ihre Bedingungen diktieren können und keine bloßen Erfüllungsgehilfen sind wie die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah. Und ihre Kritiker in Gaza können angesichts der drohenden israelischen Interventionen schnell als Verräter gebrandmarkt werden, weil sie der Hamas mit ihren Protesten in den Rücken fallen würden. Aktuell mag das Spiel funktionieren, ob es in Zukunft genauso nach Plan läuft, darf bezweifelt werden. Dafür könnten allein schon die Ägypter sorgen, die zunehmend Ungeduld zeigen. Als am 14. März bekannt wurde, dass zwei Raketen Richtung Tel Aviv unterwegs waren, sass zeitgleich General Ahmed Abd Khalek, zuständig für Kairos Kontakte zu den Palästinensern, mit Yahya Sinwar, Hamas-Boss in Gaza, an einem Tisch, um über weitere Verhandlungsangebote an Israel zu sprechen. „Wollt ihr Krieg“, soll er ziemlich ungehalten über den Vorfall gesagt haben. „Dann kommt bitte anschließend nicht wieder heulend zu uns und bettelt darum, gerettet zu werden. Ihr wollt langfristig Ruhe? Dann meldet euch erst wieder, wenn ihr die Voraussetzungen dafür akzeptiert habt.“

Auch von den Israelis wird die bisherige Politik gegenüber Gaza immer kritischer gesehen. „Unsere Umgang mit der Gazakrise ist ein Versagen auf ganzer Linie“, bringt Ben Dror-Yemini die Stimmung auf den Punkt. „Niemals zuvor hat sich Israel so vernünftig und zugleich so idiotisch gezeigt“ schreibt der politische Kolumnist. „Ein ganzes Jahrzehnt ist vergangen und es gibt immer noch keine kohärente Gazapolitik. Es war ein Jahrzehnt der Routine-Raketenangriffe und militärischen Aktionen. Und die Vorfälle von dieser Woche werden uns zu weiteren militärischen Aktionen zwingen, die uns zu einer militärischen Aktion in vielleicht fünf Jahren führt. Kurzum, das ist keine Politik, das ist Wahnsinn.“ In einer militärischen Bodenoffensive sieht er aber auch keinen Sinn. Er fordert eine Lockerung der Blockadepolitik, um eines besiegen zu können, und zwar die „Propaganda-Maschinerie der Hamas“. Andere dagegen befürworten ein deutlich härteres Durchgreifen gegen die Hamas.

Natürlich hat das Thema Gaza auch den israelischen Wahlkampf erreicht. Netanyahus Herausforderer von der zentristischen Liste Blau Weiß, Benny Gantz, attestierte dem Ministerpräsidenten ein Versagen auf ganzer Linie seit dem Krieg im Jahr 2014. Auch in den aktuellsten Umfragen spiegelt sich diese Meinung wider. Laut einer Erhebung des TV-Senders Kan bewerten 53 Prozent der Israelis die militärischen Antworten auf die jüngsten Raketenangriffe aus Gaza als „zu schwach“, nur 29 Prozent bezeichneten sie als „angemessen“. Und laut Armeeradio sind 54 Prozent der Israelis mit dem Management der Gazakrise durch Netanyahu „unzufrieden“, 30 Prozent davon sogar „sehr unzufrieden“. Nur 35 Prozent erklärten ihre Zustimmung zu den aktuellen Gegenmaßnahmen. Vielleicht ist ja diese Botschaft, die Hamas-Chef Ismail Haniyeh am Mittwoch meinte.

Bild oben: Das zerstörte Haus in Mishmeret, Screenshot Facebook IDF