2019 feiert die (Neue) Universität zu Köln ihr hundertjähriges Bestehen. »school is open« 4.0 und der von Gudrun Hentges geleitete Lehr- und Forschungsbereich Politikwissenschaft beteiligen sich mit einem Teilprojekt zum Thema „100 Jahre Allija von Alumni der Universität zu Köln“…
Seit 2017 ist Gudrun Hentges Professorin für „Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung“ an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und befasst sich derzeit vor allem mit der extremen und populistischen Rechten in Deutschland und Europa. Ende 2018 erschien ihre Studie „Rechtspopulisten im Parlament. Polemik, Agitation und Propaganda der AfD“, vorlegt gemeinsam mit ihren Kollegen Christoph Butterwegge und Gerd Wiegel.
Gudrun Hentges gab anlässlich dieses Projektes Jantje Unger, Studentin und Mitarbeiterin von »school is open« 4.0, in den Räumen der Humanwissenschaftlichen Fakultät ein Interview.
Jantje Unger: Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass Antisemitismus auch im akademischen Kontext ein zentrales Thema ist. Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gemacht, und welche Formen des Antisemitismus sind Ihnen dabei begegnet?
Prof. Dr. Gudrun Hentges: Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass israelische Kolleg_innen immer wieder berichten, dass viele Universitäten weltweit Israelis boykottieren. Sie werden nicht zu Konferenzen und Tagungen eingeladen, man möchte nicht mit ihnen kooperieren, sie werden nicht an Projektanträgen etc. beteiligt. Ganz unabhängig von ihren politischen Positionen, ganz unabhängig davon, ob sie auf der Seite des Likud stehen oder mit Meretz sympathisieren. Und diese Boykottbewegung, die ja initiiert wurde durch den BDS, und vor allem an britischen und US-amerikanischen Universitäten einflussreich ist, führt zu einer massiven Marginalisierung und Ausgrenzung von israelischen Wissenschaftler_innen.
Ebenso habe ich vor einigen Jahren die Erfahrung gemacht, dass ein Student an einem meiner Seminare zum Thema „Holocaust Education in der Grundschule“ teilgenommen hat. Er hat von Woche zu Woche antisemitischere Positionen vertreten. Dann wurde deutlich, dass er im Umfeld der Muslimbruderschaft tätig war. Er hat mein Seminar zum Thema Holocaust Education als politische Bühne genutzt.
100 Jahre Neugründung der Uni Köln und somit auch jüdisches Leben an der Uni Köln. In dem Projekt „100 Jahre Alija von Alumni der Universität zu Köln“ werden Geschichten Kölner Alumni zwischen Köln und Israel dokumentiert. Anlässlich dieses Jubiläums setzt sich die Universität auch mit ihrer Vergangenheit auseinander. Welche Rolle spielte(n) die Universität bzw. auch andere Universitäten nach 1933 – also nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten? War es überhaupt möglich, als Jüdin oder Jude zu dieser Zeit zu studieren?
Der Prozess der Entrechtung und Verfolgung von Juden und Jüdinnen im NS-Regime vollzog sich Schritt für Schritt. Bereits wenige Wochen nach der Machtübertragung verfügte ein Gesetz (25. April 1933), dass höchstens 1,5% der Studierenden im ersten Semester sog. „Nicht-Arier“ sein durften. Promovierten Jüdinnen und Juden wurden ab 1939 die Doktorgrade aberkannt. Grundlage war das „Gesetz über die Führung akademischer Grade“ (7. Juni 1939). An der Uni Köln waren ca. 70 jüdische Akademiker_innen von einer solchen Depromotion betroffen. Jüdinnen und Juden wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt, sodass sie emigrieren mussten, sofern sie konnten. Insofern halte ich es für absolut erforderlich, nicht nur 100 Jahre Neugründung der Uni Köln zu feiern, sondern sich auch damit zu beschäftigen, in welcher Weise eine antisemitische Hochschul- und Wissenschaftspolitik einen Prozess der Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung vorangetrieben hat. Somit wurde die Emigration zum einzigen Ausweg für verfolgte Wissenschaftler_innen.
Es wird über das Jahr hinweg Seminare, Workshops und Vorträge an der Uni Köln geben, unter anderem von Ihnen. Worum wird es in ihrem Symposium gehen?
Das Symposium, das am 13. November 2019 stattfinden wird, versammelt unterschiedliche Perspektiven auf das Thema. In einem Teil werde ich Ergebnisse eines Forschungsprojekts vorstellen. Unter dem Titel „Views on Europe – from an Israeli perspective“ werde ich Ergebnisse eines Interviewprojekts präsentieren, das sich mit der Frage beschäftigt hat, welche Perspektive Israelis – insbesondere Wissenschaftler_innen, Journalist_innen – auf die Politik der Europäischen Union haben. Die Interviews, die wir mit israelischen Kolleg_innen geführt haben, beziehen sich z. B. auf die Debatte um Kennzeichnungspflicht von Waren aus der Westbank oder auf die Förderung von NGOs in den palästinensischen Gebieten aus EU-Mitteln, die keinen Hehl daraus machen, dass sie nicht dazu bereit seien, das Existenzrecht Israels anzuerkennen. Viele Wissenschaftler_innen sprachen davon, dass die Institutionen der EU und viele EU-Mitgliedsstaaten mit einem doppelten Standard arbeiten: Israel werde in Bezug auf Menschen- und Minderheitenrechte mit einem anderen Maß gemessen als andere Länder.
Außerdem werden wir Kölner Alumni einladen, die sich im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte für eine Auswanderung nach Israel entschieden haben, beispielsweise Roby Nathanson oder Grisha Alroi-Arloser. Sie werden uns aus ihrer Perspektive berichten, was für sie die entscheidenden Motive waren, ausgehend von der Uni Köln und den hier erworbenen Abschlüssen, sich für die Alija zu entscheiden, um in Israel zu leben.
Könnten Sie uns bitte einen kleinen Ausblick geben, welche Vorträge wir noch erwarten dürfen?
Zum Auftakt hat am 29. Januar Prof. Dr. Frank Stern von der Uni Wien referiert, der sich seit vielen Jahren sehr intensiv mit der Filmgeschichte beschäftigt hat, der immer wieder im Archiv in Jerusalem gestöbert hat, alte Filme ausfindig gemacht hat und seine historischen und zeitgeschichtlichen Recherchen systematisch mit der Filmgeschichte der Alija verknüpft. Herr Stern begeisterte rund 150 Gäste mit seiner Präsentation des historischen Filmmaterials zur Jugendalija aus den 1930er Jahren. Unter anderem ging es um die Flucht von jüdischen Kindern und Jugendlichen aus deutschsprachigen Ländern vor antisemitischer Verfolgung. Durch die zunächst legal, dann illegal organisierte Jugendalija konnten eine Million jüdische Kinder und Jugendliche vor der Shoah gerettet werden.
Vielleicht greife ich noch einen anderen Vortrag am 14. Mai 2019 heraus, der von großer Relevanz ist. Prof. Dr. Julia Bernstein (Hochschule Frankfurt am Main), die auch einige Jahre an der Uni Köln gelehrt hat, wird aktuelle Befunde zu Antisemitismus in Schulen vorstellen.
Was verbindet Sie mit Israel?
Persönlich verbindet mich ein großes Interesse an deutsch-israelischen Beziehungen. Seit einem Jahrzehnt reise ich regelmäßig nach Israel – ich besuchte dort Tagungen und Konferenzen oder (befreundete) Kolleginnen und Kollegen an Universitäten, mit denen ich kooperiere.
Sie haben wissenschaftliche Verbindungen auch zu Israel, woran haben Sie gemeinsam gearbeitet und sind weitere Kooperationen geplant?
Zunächst gibt es eine längere und auch recht gut etablierte Beziehung mit dem Hadassah Academic College in Jerusalem, vor allem mit Prof. Dr. Dov Shinar, der sich als Kommunikationswissenschaftler mit dem Thema Politik und Kommunikation beschäftigt und einen Studiengang mit diesem Schwerpunkt aus der Taufe gehoben hat.
Gemeinsam mit »school is open« 4.0 boten wir im Rahmen der CologneSummerSchool eine Studienreise nach Israel an zum Thema: „Views on and of the Israeli Society“. Wir besuchten zahlreiche Orte, Institutionen und Personen. Einen ausführlichen Bericht gibt es unter: https://schoolisopen.uni-koeln.de/ccsil18.html
Eine zweite Kollegin, mit der ich seit einigen Jahren zusammenarbeite, ist Prof. Dr. Nelly Elias. Sie ist Soziologin und Kommunikationswissenschaftlerin an der Ben Gurion University of the Negev, Be’er Scheva. Mit ihr arbeite ich gerade an einem Projektantrag zur Lebenssituation von Geflüchteten in Israel und Deutschland. Unser Fokus liegt auf den Neuen Informationstechnologien bei Geflüchteten, in Bezug auf die Organisation der Flucht, den Kontakt zur Familie und zu Freund_innen in den Herkunftsländern, aber auch mit Blick auf die Bedeutung des Smartphones, wenn es darum geht, im Aufnahmeland eine Community aufzubauen.
Wir planen für den Sommer 2019 eine weitere Cologne Summer School, initiiert durch eine Bildungsreferentin, die in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Krzyżowa (Kreisau) in der Nähe von Wrocław (Breslau) in Polen arbeitet. Derzeit planen wir eine Trilaterale Studierendenbegegnung unter Beteiligung von Studierenden aus Jerusalem und Köln sowie aus einer polnischen Universität. Wir werden uns dort u.a. mit dem Thema „Hate Speech“ und „Cybermobbing“ beschäftigen, d.h. mit der Digitalisierung als Herausforderung für Bildungsprozesse.
Mit welchen Eindrücken und Erinnerungen kamen Sie persönlich zurück aus Israel? Und denken Sie, dass Begegnungen wie Reisen nach Israel eine Methode sind, mit der man einem israelbezogenen Antisemitismus präventiv begegnen kann?
Auch wenn das jetzt nicht das erste Mal war, dass ich das Land bereist und mit unterschiedlichen Personen gesprochen habe, seien es Kolleg_innen, Journalist_innen, Wissenschaftler_innen, Aktivist_innen etc., wurde mir noch mal so ganz deutlich vor Augen geführt, dass Israel ein Land ist, das im Grunde genommen die gesamte Welt wie in einem Brennglas dokumentiert – es gibt derart viele Geschichten von Familienbiografien, so viele Geschichten von Einwanderung aus den unterschiedlichen Kontinenten, Ländern und Regionen der Welt. Das ist quasi die Welt in einem Land. Das finde ich immer wieder sehr faszinierend, diese unglaublich große Heterogenität und Diversität in diesem Land zu erleben. Gleichzeitig gibt es noch dieses eine Element, das alle vereint – oder mehr oder weniger alle vereint – das Bekenntnis zum Zionismus. Und zwar in dem Sinne, dass es ein Land geben muss, dass für alle Jüdinnen und Juden eine Heimstadt sein sollte, aufgrund der jahrhundertelangen Verfolgungsgeschichte. Das ist quasi der Zionismus als kleinster gemeinsamer Nenner, was nicht unbedingt bedeutet, dass alle religiös sind.
Eine Auseinandersetzung auf der kognitiven Ebene, mit Geschichte, Zeitgeschichte, Verfolgungsgeschichte ist ein enorm wichtiger Prozess. Man braucht Wissen, um bestimmte Entwicklungen besser einschätzen zu können. Wenn dieses Wissen wiederum verknüpft wird mit konkreten Erfahrungen, dann heißt das, dass auch bestimmte Dimensionen des konkreten Erlebens – aber auch Dimensionen von Emotionalität – angesprochen werden. Wir wissen, dass Lernprozesse ohne Emotionalität gar nicht möglich sind. Meiner Ansicht nach sind studentische Studienreisen bzw. Exkursionen nach Israel – verbunden mit einer sehr guten Vorbereitung – eine ausgezeichnete Prävention gegen israelbezogenen Antisemitismus, weil man als Reisender oder als Student_in die Möglichkeit hat, sich differenziert mit diesem Land auseinanderzusetzen.
Vielen Dank für dieses ausführliche und spannende Interview Frau Hentges!
Die nächste Veranstaltung zu „100 Jahre Alija von Alumni der Universität zu Köln“ findet am 2.Mai 2019 statt. Lesung des Autors Martin Doerry „Mein Verwundetes Herz“ 19:30 Uhr – 21:00 Uhr.
Informationen gibt es unter https://schoolisopen.uni-koeln.de/30879.html
»school is open« 4.0 engagiert sich mit unterschiedlichen Formaten für die pädagogische Arbeit gegen israelbezogenen Antisemitismus. Unter der Leitidee „Discover Inclusion and Diversity“ entdecken Studierende die Diversität in Israel. »school is open« reiste bereits mit Studierenden nach Israel, arbeitet momentan in der Lernwerkstatt „Erziehung im Nahostkonflikt“ gemeinsam mit Studierenden an digitalen Lernmaterialien gegen Antisemitismus und dokumentiert im Projekt „100 Jahre Alija von Alumni der Universität zu Köln“ die Geschichten Kölner Alumni zwischen Köln und Israel. Das Projekt steht unter der Schirmherrschaft des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein.
»school is open« 4.0 sucht auch weiterhin nach Alumni der Universität, oder deren Nachkommen, die nach Israel ausgewandert sind und ihre Geschichten erzählen möchten.
Informationen gibt es unter: https://schoolisopen.uni-koeln.de/100-jahre-alija.html
Ansprechperson an der Humanwissenschaftlichen Fakultät:
Silke Bettina Kargl
»school is open« 4.0
Humanwissenschaftliche Fakultät | Universität zu Köln
Telefon 0221 470 – 2185
E-Mail silke.kargl@uni-koeln.de
Bild oben: v.l. Laura Franke, Gudrun Hentges, Frank Stern, Frieder Schumann, Silke Kargl