Leitkultur aus „deitschen“ Landen

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Der politische Aschermittwoch ist ein Populismuswettbewerb und offenbart einiges über den deutschen Geisteszustand. Eine Nachlese…

Von Detlef zum Winkel
Zuerst erschienen bei: Telepolis, 21.02.2018

Rustikal soll es am Aschermittwoch zugehen, und die Akteure geben sich alle Mühe, den an sie gerichteten Erwartungen gerecht zu werden. Man darf also nicht jedes ihrer Worte auf die Goldwaage legen. Wem an intellektueller Hygiene gelegen ist, der schaltet am besten zehn bis zwölf Stunden ab, bis die „überspitzte Politsatire“, so der AfD-Politiker André Poggenburg über sich selbst, vorbei ist.

Gleichwohl präsentiert der Tag nach den närrischen Tagen eine spezifische Form des innerdeutschen Diskurses, wie es der Thing bei den alten oder der Reichsparteitag bei den neueren Germanen war. Er dient der Austragung eines Populismuswettbewerbs, dessen Sieger traditionell in Passau gekürt wird, in diesem Jahr also Markus Söder an Stelle des erkrankten Horst Seehofers. Der designierte Ministerpräsident markierte die Dreiländerhalle sogleich als sein „Revier“. Die CSU verklärte er zu einer Partei der bürgerlichen Mitte, die aber auch „die demokratische Rechte“ bei sich vereinen wolle.

Christianisierung gegen Islamisierung

Dieser Eingebung folgend bekannte sich Söder zu Heimatliebe und Leitkultur. „Das wichtigste emotionale Gefühl unserer Bürgerinnen und Bürger“ dürfe nicht lächerlich gemacht werden, weil es „der seelische Anker ist, den ein jeder braucht“. Es gibt Gefühle, z.B. Durst, und es gibt „emotionale“ Gefühle, z.B. Heimatliebe. Sie artikuliert sich in deutlichen Botschaften an die EU: „Europa ist stark, weil es Deutschland gibt. Aber Deutschland ist nur so erfolgreich, weil es uns Bayern gibt.“ Riesenjubel.

Was für Außenstehende tatsächlich nach Satire klingt, ist in Passau keineswegs so gemeint. Auch mit der Leitkultur will Söder Ernst machen, weil der Islam und erst recht die Scharia „kulturgeschichtlich“ nicht zu Bayern gehörten. Daher will er die bayerische Verfassung um ein Bekenntnis zum christlichen Abendland ergänzen. An allen staatlichen Einrichtungen sollen christliche Kreuze angebracht werden. Denn es habe ihn geschmerzt, als er kürzlich lesen musste, dass dieses Symbol in einem Gerichtssaal abgehängt wurde.

Söder will die sogenannte Islamisierung also mit einer Christianisierung beantworten. Es ist ein erstaunlicher Purzelbaum: wer die Scharia ablehnt, soll ihr Grundprinzip übernehmen, dass die Religion über die Rechtsprechung wacht. Was soll das Kreuz hinter dem Rücken der Richter sonst bedeuten? Laizismus gehört nach Ansicht der CSU definitiv nicht zur Leitkultur.

Viel Zeit widmete der werdende Landesvater der Sicherung der Landesgrenzen und dem Dank an die Polizei. Seinen „Kampf um die Lufthoheit über den Stammtischen“ will er aber nicht als Rechtsruck verstanden wissen; er wolle lediglich zurück zur „alten Glaubwürdigkeit der CSU wie in den Zeiten von Franz Josef Strauß“. Riesengelächter? Nein, ergriffener Beifall. Angehörige der Generation Ü80 erheben sich mühsam aus ihren Sitzen. Sie möchten Bravo rufen, aber ihre Stimmen werden von Tränen erstickt.

Die konservative Revolution

Ein derart überwältigendes Echo kann die Schwesterpartei nicht hervorrufen. Jens Spahn, der als Merkel-Kritiker und Hoffnungsträger aller zu kurz gekommenen CDU-Größen (Roland Koch, Friedrich Merz, Volker Rühe, Norbert Röttgen) gleich zwei Aschermittwochs-Sausen absolvierte, versuchte es im Trachtenlook und mit reichlichem Biergenuss. Er ernannte die CDU zur „Partei der Leitkultur“ und steuerte eine Definition bei. Vielfalt könne zwar bereichern, es sei aber nicht alles bereichernd.

„Zwangsheirat und Ehrenmord sind es nicht. Und da kann man doch nicht immer sagen, das ist eine andere Kultur, dafür müssen wir Verständnis haben. Das müssen wir nicht. Das ist der Unterschied zwischen Leitkultur und Multikultur.“

Eine exotische These, aber sie wird unermüdlich verbreitet, um der „konservativen Revolution gegen die 68er“ (Alexander Dobrindt) den Weg zu ebnen. Eine besondere Nettigkeit hielt Spahn für Griechenland bereit. Tsipras solle sich keine Hoffnungen machen, wenn die SPD das Finanzministerium übernimmt. Hämisches Lachen.

In einem vorläufigen Zwischenstand gewinnt die Leitkultur bei den Unionsparteien folgendes Profil: Sie steht rechts und möchte als demokratisch anerkannt werden, sie ist Heimatliebe, christliches Bekenntnis, Lufthoheit über den Stammtischen, Ablehnung von Ehrenmord und Zwangsheirat, Stärkedemonstration und Spardiktat in Europa, Grenzsicherung, Dankbarkeit gegenüber der Polizei und Glaubwürdigkeit wie von Franz-Josef Strauss. Spahn fordert, dass sowas in den Schulen unterrichtet wird.

Wo liegt dann eigentlich Ostdeutschland?

Die konservative Revolution war derweil in Nentmannsdorf bei Pirna bereits im Gang. Dorthin hatten vier Landesverbände der AfD (Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt) zu einer „Kracherveranstaltung“ eingeladen. De facto war es eine Versammlung des völkisch-nationalen Flügels. Wer sich die dort gehaltenen Reden auf YouTube anhört und die Publikumsreaktionen zur Kenntnis nimmt, braucht sich nicht mehr mit der NPD zu beschäftigen. Das erübrigt sich dann.

Der Ort war ausgewählt worden, weil er im Wahlkreis Sächsische Schweiz/Erzgebirge von Frauke Petry liegt, wie Björn Höcke erklärte. „Diese Dame“ (Sprechchor „Volks-ver-räter“) habe die AfD um ein Mandat betrogen, „das ihr hier erkämpft habt“. Darüber hinaus liegt ein geografischer Feinsinn in der Ortswahl. Auffallend oft lokalisierten die Redner ihre Aschermittwochsbühne in „Mitteldeutschland“ oder „in der Mitte Sachsens“. Allerdings liegt Nentmannsdorf ca. 15 km von der tschechischen Grenze entfernt. Bis zur polnischen Grenze sind es auch nur 120 km. Wenn hier „das Herz Mitteldeutschlands schlägt“, wo liegt dann eigentlich Ostdeutschland? Offenbar fängt es jenseits der aktuellen Staatsgrenzen überhaupt erst an, ganz zu schweigen davon, wo es enden soll.

So enthielt denn auch die musikalische Einstimmung vor Beginn der Redeschlacht ein Bekenntnis zum sudetendeutschen Brauchtum. Neben den „Alten Kameraden“, passend zur Zusammensetzung des Publikums, und dem „Prosit auf die Gemütlichkeit“, die sich allerdings nicht einstellen wollte, wurde ein Lied des hochgeachteten Heimatdichters Anton Günther intoniert: „Deitsch on frei wolln mer sei, on do bleibn mer aah derbei, weil mer Arzgebirger sei!“

Der Song gehört zum Genre des legendären German Soul und sollte die Sudeten zu Beginn des vorigen Jahrhunderts darauf einschwören, der deutschen Heimat „bis zum letzten Tropfen Blut“ die Treue zu halten. „Deitsch on frei“ heißt folglich das arzgebirgische Mitteilungsblatt der NPD, wie es auch den Fans des Zweitligavereins Erzgebirge Aue als Motiv für bewegende Choreografien dient.

Wir sind das Volk

Höcke ergriff als Letzter der vier Landesvorsitzenden der AfD das Wort. Zu diesem späten Zeitpunkt war er schon ziemlich betrunken, andererseits hatten seine Vorredner mit populistischen Sprüchen abgeräumt, was abzuräumen war. Er gefiel sich in einer staatsmännischen Pose und schwelgte in historischen Dimensionen. Wie alt das geliebte Deutschland schon sei, tausend Jahre, und Europa sogar dreitausend Jahre. Heute sei nur noch „Schwund“ davon übrig.

Dies führte ihn zu der überraschenden Wendung, im Vergleich zu Merkel (Sprechchor „Volks-ver-räter“), Seehofer, Lindner, Özdemir (Sprechchor „Ab-schie-ben“) oder von der Leyen sei Erich Honnecker ein wahrer Staatsmann gewesen (kein Sprechchor). Höcke fühlt sich vom „Mantel der Geschichte“ gestreift, den die Patrioten wie 1989 ergreifen müssten (Sprechchor „Wir-sind-das-Volk“).

Unter der Veranstaltungsregie litt auch Jürgen Elsässer, der seine Redezeit für die politische Feinjustierung nutzte. Der Compact-Herausgeber fand die Sprechchöre „Mer-kel-nut-te“ nicht etwa anstößig, aber unpassend. Eine Prostituierte verkaufe nur sich selbst, befand der Experte, Merkel hingegen das ganze Volk. Elsässer mahnte die Anwesenden, nicht so sehr auf das Parlament als vielmehr auf die Straße zu setzen. Seinen politischen Weitblick bewies er mit der Benennung von Viktor Orbán und Wladimir Putin als Vorbilder für die Bewegung (kein Sprechchor). Die Namen Putin und Honnecker wurden von den Strategen Höcke und Elsässer dermaßen unvermittelt in den Raum geworfen, dass man sich fragt, welche Sponsoren damit umworben werden sollten.

Wo hört ein rustikales Gepolter auf und wo fängt Volksverhetzung an?

Man ahnt es schon: Den Höhepunkt der Party hatte zuvor ein Anderer erklommen, André Poggenburg. Der AfD-Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt echauffierte sich über eine Kritik der türkischen Gemeinde, die es angesichts der deutschen Geschichte problematisch findet, aus dem Innenministerium ein Heimatministerium zu machen.

Da brannten dem André alle Sicherungen durch. „Diese Kümmelhändler haben selbst einen Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern am … und die wollen uns irgendetwas über Geschichte und Heimat erzählen? Die spinnen wohl! Diese Kameltreiber sollen sich dahin scheren, wo sie hingehören“, nämlich „weit hinter den Bosporus, zu ihren Lehmhütten und Vielweibern“. Das Zitat ist hier unvollständig wiedergegeben. Das geschieht nicht aus Scheu vor dem von Poggenburg verwendeten Kraftausdruck, sondern aus Abscheu vor dem von ihm vorgebrachten Inhalt.

Die mediale Öffentlichkeit beurteilte diese Sätze als braune Hetze und quittierte der AfD, ein Sammelbecken für Rechtsextreme geworden zu sein. Die Ankündigung der türkischen Gemeinde, rechtliche Schritte unternehmen zu wollen, traf auf ein zustimmendes Echo. Dabei geht es um offensichtliche Diskriminierungen wie „Kümmelhändler“ oder „Kameltreiber“. Wo hört ein rustikales Gepolter auf und wo fängt Volksverhetzung an?

Über dieser Auseinandersetzung gerät die Kernaussage Poggenburgs in den Hintergrund. Sagen oder vielmehr herausbrüllen wollte er, dass türkisch-stämmige Bürger, die er umstandslos zu Türken macht, nicht das Recht hätten, den Deutschen ihre Völkermord-Geschichte vorzuwerfen, weil die Türkei ebenfalls einen Genozid in ihrer Geschichte zu verantworten hat. Selber Völkermörder! Ihr habt es gerade nötig, den Deutschen etwas vorzuhalten.

Die Nachkommen der Täter werden den Opfern die Verbrechen nie verzeihen

Seine wütende Reaktion impliziert, dass er die Naziverbrechen nicht bestreitet. Poggenburg stellt sich nicht als Holocaustleugner vor, jedenfalls nicht in dieser Rede. Das mag zu einem ersten Zusammenzucken der AfD-Vordenker geführt haben, deren Position in dieser Frage noch nicht ausgemacht ist. Elsässer beispielsweise legt großen Wert auf gute Beziehungen zu erklärten Holocaustleugnern. Auf die Erinnerung daran reagiert Poggenburg allerdings mit offener Aggression; das will er sich nicht gefallen lassen. Es ist das gleiche Verhaltensmuster, das sein Parteifreund Höcke bei seiner Tirade gegen das Berliner Holocaust-Mahnmal zeigte.

Dafür, dass Poggenburg die Erinnerung an die deutschen Verbrechen unangenehm ist, zumal sie ja im Namen eines Patriotismus begangen wurden, dem er sich politisch verbunden fühlt, könnte man noch ein gewisses psychologisches Verständnis aufbringen. Derartige Abwehrreaktionen gibt es nicht nur in der AfD, sondern in allen Parteien. Aber sein ungebremster Hass hat ihn zu einer entlarvenden Bildsprache greifen lassen. Poggenburgs „Kracher“-Auftritt ist ein Paradebeispiel für die These, dass die Nachkommen der Täter den Opfern (!) die Verbrechen nie verzeihen werden. Der Satz klingt erstmal polemisch und zugespitzt. Aber er erklärt diesen Typ aggressiver Trotzreaktionen.

„Deitsch on frei wolln mer sei.“ Poggenburg brachte die Halle von Nentmannsdorf zum Toben. Heftige, womöglich sogar emotionale Gefühle kamen zum Ausbruch. Nun stellt sich die Frage, ob es in diesen Turbulenzen einen seelischen Anker gibt, an dem die erregten Gemüter zur Ruhe kommen können. Es liegt an Söder, den Arzgebirgern klarzumachen, wo die Grenzen liegen. Schließlich hat er sich in Passau zum obersten Grenzschützer ernannt.

Bild oben: André Poggenburg, 2015, (c) Author rufusmovie