Jamal

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Jamal Alkirnawi ging im 17. Viertel von Rahat, der größten Beduinenstadt der Welt, auf die Schule. Rahat in der israelischen Negev Wüste hat mehr als 62.000 Einwohner und ist unter knapp drei Dutzend Familienclans in Viertel mit jeweils eigener Infrastruktur aufgeteilt…

Von Oliver Vrankovic
Erschienen in: www.derkichererbsenblog.com

Jamal war ein ruhiger und guter Schüler, der wegen seiner Brille oft gehänselt wurde. Als er 15 Jahre alt war, stand ein Austausch mit einer Schule aus Rehovot an. Jamal erinnert sich, wie zwei Wochen lang die Schule geputzt und dekoriert wurde und überhaupt das ganze Viertel in heller Aufregung war. Jamal und seine Klassenkammeraden mussten in Vorbereitung auf den Besuch aus Rehovot Darbietungen einstudieren. Der Tag, an dem sich die beduinischen und jüdischen Schüler schließlich begegneten, änderte für Jamal alles.

Während die Kinder aus Rehovot zwanglos, unbekümmert und laut aus dem Bus springen, stehen die Schüler aus Rahat aufgereiht und genau instruiert da. Jamal, der Rahat bis dato nie verlassen hatte, offenbart sich eine Freiheit, die ihm unbekannt war. Während die Direktoren der beiden Schulen Förmlichkeiten austauschen, nimmt er all seinen Mut zusammen, tritt aus der Reihe der beduinischen Schüler und geht auf einen jüdischen Schüler zu, der wie er selbst eine Brille trägt, und lädt ihn zu sich nach Hause zum Essen ein. Eran erweist sich als Schülersprecher der Schule in Rehovot.

In den weniger als zwei Stunden, die Jamal und Eran haben, eröffnet sich dem beduinischen Jungen, der es gewagt hatte, auszuscheren, ein Einblick in die Welt jenseits von Rahat. Mitsprache in Schulangelegenheiten waren ihm und seinen Mitschülern unbekannt und undenkbar. Bevor er sich verabschiedet gibt Eran Jamal die Nummer der für Schülervertretungen zuständigen Abteilung des Bildungsministeriums. Jamal fasst sich ein Herz, ruft an, und behauptet, der Schulsprecher seiner Schule in Rahat zu sein. Begeistert davon endlich einen Schulsprecher aus einer arabisch sprechenden Schule zu haben, wird Jamal nach Beer Sheva auf eine Versammlung der Schulsprecher aus den Schulen des Negev eingeladen. Am besagten Tag schwänzt Jamal die Schule und verlässt Rahat in Richtung Beer Sheva. Jamal ist nicht nur die große Attraktion der Versammlung sondern wird auch zum Delegierten in die nationale Schülervertretung gewählt.

Eltern und Schule sind zunächst schockiert ob der Eigeninitiative von Jamal. Sie vermögen ihn gleichwohl nicht einzuschüchtern und der Direktor sieht sich schließlich genötigt, tatsächlich eine Schülervertretung wählen zu lassen. Jamal wird vom vorgeblichen zum tatsächlichen Schülersprecher.

Als Mitglied der nationalen Schülervertretung fährt er nach Tel Aviv und Jerusalem, spürt Freiheit und eignet sich praktisches Wissen an. In der Zeit habe er den Wert nicht-formaler Bildung erkannt, erzählt Jamal.

Er habe sich gegen alle Widerstände durchgesetzt, erinnert er sich. Wobei der größte Widerstand die Tradition gewesen sei. In der beduinischen Gemeinschaft wird Modernisierung als Bedrohung des kulturellen Erbes wahrgenommen. Schüler würden aus Angst vor Wandel krass kontrolliert, erklärt Jamal.

Mehr als jeder Vierte Bewohner der israelischen Wüste ist Beduine. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten 90 Stämme des Nomadenvolks über Saudi-Arabien und den Sinai in den Negev ein. 1900 gründete das Osmanische Reich in der biblischen Stadt Beer Sheva die erste ständige Siedlung für die Beduinen. Von den 65.000 Beduinen, die vor dem israelischen Unabhängigkeitskrieg halb sesshaft im Negev lebten, blieben 19 Stämme, denen zusammen weniger als 11.000 Beduinen angehörten.

Anfang der 1950er Jahre siedelte die israelische Armee elf der verbliebenen Stämme in ein geschlossenes Gebiet im Norden des Negev um, wo auch die anderen acht Stämme lebten und das unter dem Namen Sajag bekannt wurde. 1968 wurde in Tel Sheva (arabisch Tel as-Sabi) die erste Beduinengemeinde gegründet. Heute gibt es sieben anerkannte Beduinengemeinden, in denen offiziell 72.500 Menschen leben: Ar’ara, Hura, Kseife, Lakiya, Tel Sheva, Segev Shalom (arabisch Shaqib al-Salman) und Rahat. Dazu leben zwischen 55,00 und 77.000 Beduinen in schätzungsweise 50 nicht anerkannten Siedlungen im Negev.

Nach offiziellen Regierungsstatistiken stehen die Beduinen des Negev auf der niedrigsten sozioökonomischen Sprosse der israelischen Gesellschaft. Die Schulabrecher-Quote der Beduinen beträgt 35%, nur 5% erwerben eine Hochschulzugangsberechtigung. Beduinen aus dem Negev mit akademischem Abschluss sind die Ausnahme von der Regel. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen der Beduinen im Negev beträgt ungefähr die Hälfte des durchschnittlichen israelischen Haushaltseinkommens. Die Beduinengemeinden im Negev verzeichnen die höchste Arbeitslosenquote in Israel.

2015 wurde der Industriepark Idan HaNegev bei Rahat eröffnet und Soda Stream verlagerte seine Produktion aus Mishmar HaAdumim in die Wüste. Die Arbeitslosigkeit in der Stadt Rahat fiel von 1/3 auf weniger 1/6. Gleichwohl liegt dies weit über dem israelischen Durchschnitt von weniger als 5%. Dazu kommt, dass die Beduinengemeinschaft im Negev jung und das Bevölkerungswachstum hoch ist. 60% der Bewohner von Rahat sind unter 18 Jahre alt.

Als Jamal die Schule beendet hatte, leistete er freiwillig Zivildienst und begann danach an an der Ben Gurion Universität in Beer Sheva öffentliches Gesundheitswesen zu studieren. Er zog in eine WG mit jüdischen Mitbewohnern und engagierte sich in der Nachbarschaftshilfe.

Während seiner Studienzeit lernte er sich anzupassen. Vom Freizeitverhalten bis zu sozialen Normen, so sagt er, habe er sich vieles aneignen müssen, um zurechtzukommen. Integration, so sagt er, sei der Schlüssel zu Weiterkommen und Erfolg.

An der Ben Gurion Universität fällt Jamal die Segregation auf dem Campus auf. 2007-14 ist er Studentenberater und erlebt die beduinischen Studenten als durch den Kulturschock belastet und gleichzeitig unwillig, sich helfen zu lassen. Er kommt zu der Erkenntnis, dass sich die mangelnde Integration der Beduinen nicht auf dem Campus lösen lässt, sondern die Segregation in der Universität die Segregation der Gesellschaft spiegelt und möglichst früh aufgebrochen werden muss.

Jamal beschreibt die beduinischen Jugendlichen als unsichtbare große Gemeinschaft, die vor dem riesigen Übergang steht, von dort, wo ihre Eltern sind, nach da wo sie eine Zukunft haben.

Die Beduinengesellschaft pflege einen ausgeprägten Stolz als Söhne der Wüste, sagt Jamal. Die Tradition gibt auf der einen Seite einen identitätsstiftenden Halt. Auf der anderen Seite hemmt sie das Fortkommen.

Jamal fordert von den Beduinen, die Moderne als Tatsache zu akzeptieren und sieht jeden Einzelnen verpflichtet, mit ihr in den Dialog zu treten.

Nach einer Tätigkeit im Gesundheitswesen und einem Stipendium in Kanada, dass ihm noch eine Außensicht ermöglicht hatte, festigte sich in Jamal die Gewissheit, den Wandel als Aktivist zu fördern. Er gründete die beduinisch-jüdische NGO A New Dawn in the Negev.

Die Eröffnung des Soda Stream Werkes sieht Jamal Alkinarwi sehr positiv, weil Arbeitslosigkeit ein grundlegendes Problem ist. Gleichwohl ist er sich sicher, dass die Probleme der Beduinen des Negev nicht allein durch die Ansiedlung von Industrie gelöst werden können. Es gibt gemeinsame Projekte von A New Dawn mit der Firma, aber die Kooperation ist punktuell und laut Jamal kein Ersatz für zivilgesellschaftliches Engagement.

Rekrutierung zur Armee als Voraussetzung für die Integration in die israelische Gesellschaft sieht Jamal kritisch, da sie seiner Meinung nach falsche Erwartungen bedient. Ihr Einfluss auf Integration werde überschätzt, sagt er und verweist auf die Frustration, die sich einstellt, wenn sich die hohen Integrationserwartungen an die Rekrutierung nicht erfüllen.

Jamal und ich, © Rebecca Pini

Bei einem Rundgang durch Rahat offenbart sich das ganze Elend, gegen das anzugehen Jamal als seine Aufgabe ansieht. Die Stadt wirkt auf den ersten Blick trostlos und auf den zweiten verwahrlost. Nach der Haltung der Bewohner von Rahat zum Staat befragt, verweist Jamal auf das Gefühl der Diskriminierung und die Frustration darüber, „abgehängt zu sein“. Die Bevölkerung habe gleichzeitig Angst vor Wandel, weil sie in diesem keinen Gewinn sehe. Dies sei einerseits einer tatsächlichen Vernachlässigung der Stadt und andererseits aber auch der Opfermentalität geschuldet. Mit der NGO A New Dawn wirbt Jamal für Ressourcen, um das Lebensniveau in Rahat auf das anderer Städte zu heben. Es dürfe nicht von Nachteil sein, aus Rahat zu kommen, verlangt Jamal.

Gleichzeitig fordert er die beduinische Gemeinschaft auf, aus lähmenden Konventionen auszubrechen. Jamal hält es für elementar wichtig, Gestaltungswillen zu zeigen. Jeder sollte das Recht auf einen eigenen Lebensentwurf haben. Diejenigen, die die Moderne annehmen unterstützt die NGO und ist dabei auch Ansprechpartner für Beduinen aus anderen Städten und aus den informellen Siedlungen. Repräsentanz und Forderungen an die Politik, sein Anliegen versteht Jamal als gesamtgesellschaftliches Thema.

Zu den Projekten von A New Dawn in the Negev gehört Youth at risk, bei dem Schulabbrecher im Jugendzentrum der NGO betreut werden. Ein weiteres Projekt ist die qualitativ hochwertige Musikerziehung Strings of Change für Kinder ab dem Grundschulalter mit dem Ziel, die soziale Realität der Beduinen des Negev zu verändern. Außerdem gibt es u.a. eine anonyme Notfall-Hotline auf Arabisch, Begegnung von Jugendlichen aus Rahat mit Jugendlichen aus den umliegenden Kibbutzim und Austausch mit Deutschland.

Jamal ist getrieben von seinem Anliegen, dass Rahat Anschluss an die Moderne findet. Er vermutet, dass die Meinungen zu seiner Arbeit geteilt sind, ist aber mit seinen Projekten noch auf keinen Widerstand gestoßen. Tatsächlich ist es so, dass der Direktor, den er einst mit seiner Initiative überrumpelt hat, heute mit ihm kooperiert.

Bild oben: Rahat, © Oliver Vrankovic

1 Kommentar

  1. Sehr einfühlsamer und differenzierter Bericht. Danke dafür. Menschen wie Jamal verdienen jegliche Unterstützung weil sie mit ihrer Arbeit den Anschluss der Beduinen an die Moderne erleichtern oder gar erst möglich machen.

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