Die psychischen Bedingungsfaktoren des Islamismus

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Der Psychoanalytiker Fethi Benslama legt mit „Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt“ eine Deutung zu den Ursachen vor, welche insbesondere auf Ent-Identifizierung- und Re-Identifizierungswahrnehmungen abstellen. Der Essay nimmt die individual-psychologischen Bedingungsfaktoren ins Visier, wirkt aber etwas zu assoziativ und unsystematisch konstruiert…

Von Armin Pfahl-Traughber

„Wie lässt sich das Verlangen, sich im Namen des Islam zu opfern, das so viele junge Menschen ergriffen hat, verstehen? Was zieht sie in den Bann und treibt sie zu den furchtbarsten Taten?“ (S. 9). Diese beiden Fragen finden sich als erste Sätze in der Schrift „Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt“, die Fethi Benslama als Essay konzipiert und vorgelegt hat. Der Autor arbeitet als Psychoanalytiker mitunter mit solchen Jugendlichen und ist Professor für Psychoanalyse an der Universität Paris-Diderot. Er will aus seiner Erfahrung mit zur Erklärung dieses Phänomens beitragen. Dabei geht es ihm um ein bestimmtes Deutungsmuster, das sich mit der Formulierung „Übermuslim“ verbindet. Der Autor bricht damit aus der Engführung auf soziale Lagen aus, denn von einschlägigen Missständen seien Viele betroffen, Dschihadisten würden aber nur Wenige von ihnen. Man müsse für eine Erklärung sowohl das Klinische wie das Soziale berücksichtigen. Benslama betont dabei den Erkenntnisgewinn aus der psychoanalytischen Methode.

Zunächst geht es ihm um die Radikalisierung als Bedrohung und als Symptom: Dabei werden auch Daten aus einem Präventionszentrum ausgewertet, wonach 60 Prozent der dort betreuten Jugendlichen aus der Mittelschicht, 30 Prozent aus der Unterschicht und 10 Prozent aus wohlhabenden Schichten stammten. Dies ist für Benslama nur eines von vielen Indizien dafür, dass eben die soziale Not nicht eine alleinige oder entscheidende Ursache sein kann. Er betont darüber hinaus, dass zwei Drittel der erfassten Gefährder zwischen 15 und 25 Jahre alt sei und ihre Entwicklung demgemäß etwas mit ihrem persönlichen Entwicklungsprozess zu tun hätte. Entwurzelungsgefühle würden auch eine Radikalisierung als Sinnstiftung und Symptom mit erklären. Das Angebot des Dschihadismus treffe auf eine entsprechende Nachfrage von Personen, was als individueller Prozess die Psychoanalyse gut erklären könne. Der Islamismus eröffne „den an sich selbst und in ihrer Welt Verzweifelten den Zugang zur Idealisierung“ (S. 49). Er beinhalte als Glaube einen Identitätsmythos.

Für den Autor ist der Islamismus eine von Muslimen auf der Grundlage des Islam erfundene antipolitische Utopie, die sich zwar einerseits gegen den Westen richtet, andererseits sich aber dessen Errungenschaften bedient. Die Absicht des Islamismus sei aber nicht die Politisierung der Religion, sondern die Absorbierung des Politischen durch das Religiöse. Erst nach diesen Ausführungen stellt Benslama seinen hauptsächlichen Erklärungsansatz vor, welcher seiner Schrift den Titel gegeben hat: „Mit ‚Übermuslim‘ soll die Zwangsvorstellung bezeichnet werden, das (sic!) einen Muslim drängt, den Muslim, der er ist, durch die Vorstellung von einem Muslim, der noch muslimischer sein muss, zu überbieten“ (S. 83). „Übermuslim“ sei eine Diagnose des psychischen Lebens der Muslime, die vom Islamismus durchdrungen wären und von Schuldgefühlen und vom Opfergedanken geplagt werden würden. Einer Ent-Identifizierung durch das Leben in der westlichen Gesellschaft werde durch einschlägige Deutungsangebote eine Re-Identifizierung und Wieder-Verwurzelung gegenübergestellt.

Benslama gehört zu den wichtigsten französischen Islamismusforschern und ist im Gegensatz zu Gilles Kepel und Olivier Roy hierzulande noch nicht so bekannt. Das Besondere an ihm besteht in der psychoanalytische Perspektive, wobei er sich auch auf Eindrücke vom Leben junger Muslime in den Problemstadtteilen stützen kann. Der Autor macht dabei deutlich, dass der Dschihadismus auch eine Funktion für seine Sympathisanten hat. Nur so erklärt sich seine Akzeptanz sowohl als Deutungsmuster wie als Handlungsstil. Das dadurch entstehende Gefahrenpotential wird indessen nur eingeschränkt thematisiert, müsste man doch die Konsequenzen gescheiterter Integrationspolitik hier weiter denken. Bilanzierend betrachtet handelt es sich bei dem Buch um einen Essay, der von einem echten Fachmann stammt. Ein Essay bedeutet hier aber auch fehlende Struktur. Der Autor präsentiert seine Betrachtungen eher assoziativ, weniger stringent. Daher bettet er seine Erklärungen nicht in ein komplexes Ursachenbündel ein. Genügend Anregungen dazu liefert sein Buch durchaus.

Fethi Benslama, Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt, Berlin 2017 (Matthes & Seitz), 141 S., Euro 18,00, Bestellen?