Netanyahus Nein zum gemeinsamen Beten von Frauen und Männern an der Klagemauer sorgt derzeit für reichlich Unmut in der jüdischen Welt. Und es ist nicht der einzige Streitpunkt…
Von Ralf Balke
Koalition erst einmal gerettet, Diaspora und vielen Israelis vor den Kopf gestoßen. Auf diese Formel ließe sich die überraschende Entscheidung des israelischen Kabinetts vom vergangenen Sonntag bringen, die derzeit für reichlich Zoff sorgt. Dabei war eigentlich längst alles in trockenen Tüchern. Im vergangenen Jahr hatte man sich nach langem hin und her auf einen Kompromiss geeinigt: Frauen und Männer sollten in einem separaten und eigens für sie einzurichtenden Pavillon vor der Klagemauer beten und damit ganz offiziell Zugang zu dem wichtigsten jüdischen Heiligtum erhalten. Damit wäre eine alte Forderung der Anhänger der liberalen und konservativen Strömung im Judentum endlich in Erfüllung gegangen. Doch das wiederum schmeckte den Ultraorthodoxen, die die Oberhoheit über das gesamte Areal dort für sich beanspruchen, überhaupt nicht. Auch die Tatsache, dass es bis 1948 überhaupt keine Trennung zwischen Beterinnen und Betern gab, interessiert sie herzlich wenig. Ihre politischen Repräsentanten, Shass sowie die Partei Vereinigtes Tora-Judentum, beide Koalitionspartner von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, drohten daher mit dem Ausstieg. Und so wurde der Plan wieder auf Eis gelegt. Aber nicht nur das. Noch am selben Tag verabschiedete die Knesset eine Gesetzesvorlage, die dem Oberrabbinat in Israel quasi das Monopol für alle Konversionen zum Judentum zugestehen soll.
Damit war der Konflikt vorprogrammiert. Natan Sharansky, Chef der Jewish Agency, die die Einwanderung von Juden nach Israel koordiniert, war von den Entscheidungen derart entsetzt, dass er tags darauf ein geplantes Dinner mit Netanyahu platzen ließ. „Ich bin zutiefst enttäuscht“, sagte er sichtlich verärgert. „Vor fünf Jahren bat mich der Ministerpräsident alles zu unternehmen, damit eine funktionierende Formel gefunden wird, damit die Kotel – so lauteten damals seine Worte – „eine Mauer für ein Volk“ werden kann.“ Zugleich betonte Sharansky, dass dies keinesfalls nur eine innerisraelische Angelegenheit sei. „Nach vier Jahren intensiver Verhandlungen hatten wir endlich eine Lösung erreicht, die alle wichtigen Strömungen im Judentum akzeptierten und in der gesamten jüdischen Welt begrüßt wurde.“
Derart explizite Kritik seitens der Jewish Agency an der israelischen Regierung hatte man bis dato noch nie gehört. Denn beide Beschlüsse signalisieren eine staatliche Bevorzugung der Ultraorthodoxie gegenüber der Reformbewegung und Anhängern einer konservativen Ausrichtung im Judentum. Und das kann nicht ohne negative Folgen für das Verhältnis zwischen Israel und der Diaspora bleiben. Und noch viel mehr: „Das Gesetz über Konversionen zum Judentum verstärkt die Stellung des Oberrabbinats und droht damit, Hunderttausende von Israelis vom Judentum auszuschließen“, hieß es in einer offiziellen Erklärung der Jewish Agency. Vor allem die vielen Israelis, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen und aufgrund nichtjüdischer Elternteile aus halachischer Sicht nicht als Juden gelten, seien betroffen. Ebenso Juden aus Äthiopien, die historisch bedingt abweichende Traditionen haben.
Auf Reaktionen aus der Diaspora musste man nicht lange warten. Besonders in den Vereinigten Staaten war man entsetzt über die Kehrtwendung Jerusalems. „Ich glaube, diese Entscheidung sorgt für eine tiefe Entfremdung seitens unserer nicht-orthodoxen Brüder und Schwestern“, so Jerry Silverman, Präsident der Jewish Federations of North America. Rabbi Rick Jacobs von der Union of Reform Judaism wurde sogar noch deutlicher und erklärte: „Netanyahus plötzliches „Nein“ zu seinem vorherigen „Ja“ ist für die Mehrheit der Juden eine unverschämte Beleidigung.“ Rabbi Philip Scheim, Vorsitzender der Rabbinical Assembly of Conservative Rabbis dagegen drückte sich etwas diplomatischer aus. „Viele Juden in der Diaspora empfinden diese Entscheidung als einen Mangel an Respekt.“ Zugleich warnte er vor einer Hegemonie der Haredim im jüdischen Staat. Besonders enttäuscht zeigte sich die Gruppe Women of the Wall, die sich seit 1988 für Gleichberechtigung von Frauen an der Kotel einsetzt und treibende Kraft hinter dem Plan der Einrichtung eines egalitären Bereichs war. „Das ist schon ein schrecklicher Moment, wenn der Ministerpräsident die Rechte von Frauen in Israel opfert, nur um vor einer Handvoll religiöser Extremisten den Kotau zu machen“, so Anat Hoffman, die Vorsitzende von Women of the Wall.
Ob die Rechnung Netanyahus, mit den Zugeständnissen an die Haredim seine Koalition zu retten langfristig wirklich aufgeht, mag ebenfalls in Frage gestellt sein. Denn jetzt rumort es kräftig in den anderen Parteien seines Regierungsbündnisses. Angefangen von Michael Oren, Abgeordneter der zentristischen Kulanu-Partei, und Verteidigungsminister Avigdor Lieberman, mehren sich die Stimmen, die erklärt haben, gegen das Gesetz über Konversionen zum Judentum zu votieren, wenn es der Knesset zur Entscheidung vorgelegt wird. Auch die Opposition wittert Morgenluft. „Netanyahu ist nicht länger der Ministerpräsident von Israel, sondern nur noch eine Marionette der Ultraorthodoxen“, hieß es seitens des Yesh Atid-Vorsitzenden Yair Lapid.
Anders dagegen die Reaktionen der Haredim. Sie jubeln nicht nur, sondern zeigen sich geradezu euphorisiert. Anders kann man die Häme nicht erklären, die aus ihren Reihen seither kommt. „Die Reformbewegung und die konservative Strömung mögen doch bitte schön so freundlich sein und in den USA bleiben“, höhnte stellvertretend für viele von ihnen der Knesset-Abgeordnete Menachem Moses von der Partei Vereinigtes Tora-Judentum. Doch nicht nur das Konkurrenzdenken und der Machtanspruch der Ultraorthodoxen hat sich zu einer Belastungsprobe für das Verhältnis zwischen Israel und der Diaspora entwickelt. So attestiert Sharansky den Verantwortlichen in der Politik darüber hinaus ein hohes Mass an Ignoranz und Unkenntnis über die Verhältnisse in den jüdischen Gemeinden in der Welt. „Als ich die Regierung vor einem oder zwei Jahren fragte, ob sie sich überhaupt der Tatsache bewusst seien, dass 85 Prozent aller Unterstützer von AIPAC entweder der Reformbewegung oder den konservativen Strömungen nahestehen, zeigte sich die Hälfte der Anwesenden geschockt. Sie hatten wirklich gedacht, dass dies alles Leute seien, die die Boykottbewegung gegen Israel unterstützen oder es sich um die Irren von J Street und Breaking the Silence handelt.“ Auch gibt es zahlreiche Israelis aus allen politischen Lagern, die die Reformbewegung und das konservative Judentum für Anhänger einer Sekte halten, deren Ziel die Zerstörung des Judentums von innen ist.
Was verwundert: Netanyahu mit seinen intimen Kenntnissen der amerikanischen Verhältnisse hätte eigentlich wissen müssen, dass die Zugeständnisse an die Ultraorthodoxen nicht ohne Reaktionen aus der Diaspora bleiben würden. Vielleicht hatte er nur nicht mit der Heftigkeit gerechnet, mit der sie erfolgten. Deshalb ruderte der Ministerpräsident mit dem Hinweis auf die Kritik aus dem Ausland am Freitag auf einem Kabinett-Meeting auch ein Stück weit wieder zurück. Er will die Gesetzesvorlage über Konversionen zum Judentum für sechs Monate liegen lassen und erst dann endgültig darüber abstimmen lassen. Diesen Schritt will Innenminister Aryeh Deri von Shass jedoch nur mitmachen, wenn von vornherein klar ist, dass der Oberste Gerichtshof gegen den Wortlaut der Gesetzesvorlage keinen Einspruch mehr erheben kann. Das aber konnte ihm keiner versprechen, weshalb das Treffen mit einem Eklat endete und die Vertreter von Shass und Vereinigtem Tora-Judentum unter Protest den Raum verließen. Der Streit um den egalitären Bereich an der Kotel und das Gesetz über Konversionen ist also noch lange nicht entschieden – der Diaspora sei Dank.