Bikkur Cholim

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Die Begleitung Kranker und Sterbender im Judentum…

Schwer kranke und sterbende Menschen benötigen nicht nur eine gute medizinische Behandlung, sie brauchen auch eine multiprofessionelle psychosoziale, spirituelle und seelsorgerische Begleitung. Viel zu oft übersieht unsere hochtechnisierte und ökonomisierte Medizin den individuellen Menschen und reduziert das Kranksein auf das Nichtfunktionieren eines Organs oder Organsystems. Daneben erleben wir ein antisolidarisches Klima gesellschaftlicher Kälte, in dem alte, kranke und hinfällige Menschen zunehmend als Last empfunden und an den Rand gedrängt werden.

Die jahrhundertealte Tradition des Bikkur Cholim als „nichtärztliche psychosoziale Begleitung“, aber auch das traditionelle jüdische Verständnis von Medizin und Pflege zeigen, wie den genannten Fehlentwicklungen begegnet werden kann.

In diesem Band setzen sich Experten verschiedenster Fachdisziplinen vor dem Hintergrund unserer modernen Lebenswirklichkeit mit religiösen, psychologischen, sozialen, medizinischen, spirituellen, ethischen und palliativmedizinischen Aspekten der Begleitung kranker und sterbender Menschen aus jüdischer Sicht auseinander. Sie zeigen, warum Bikkur Cholim gerade in unserer Zeit so wichtig und wertvoll ist.

Mit Beiträgen von Yizhak Ahren, Tovia Ben-Chorin, Uwe Flick, Eckhard Frick, Dina Herz, Walter Homolka, Jan Jungehülsing, Larissa Karwin, Admiel Kosman, Tom Kučera, Silke Migala, Gerhard Nerlich, Stephan M. Probst, Aviad E. Raz, Silke Schicktanz, Michael Schmiedel, Mark Schweda, Anita Silvers, Olga Sokolova, Schimon Staszewski, Shani Tzoref, Sarah Werren, Katja Wolgast

Stephan M. Probst (Hg.), Die Begleitung Kranker und Sterbender im Judentum. Bikkur Cholim, jüdische Seelsorge und das jüdische Verständnis von Medizin und Pflege, Hentrich & Hentrich Verlag 2017, 272 S., Euro 19,90, Bestellen?

LESEPROBE

Bikkur Cholim im heutigen Gesundheitssystem

Warum aus Sicht eines Palliativmediziners Bikkur Cholim auch und gerade heute so wichtig und wertvoll ist

Von Stephan M. Probst

KRANKHEIT UND ALTER IN UNSERER POSTMODERNEN GESELLSCHAFT

Das Sorgen für hinfällige alte Menschen, Schwerstkranke und Sterbende wird in unserer Zeit immer wieder als zunehmende Herausforderung und Belastung für die Gesellschaft gesehen. Mehr und mehr wird der „Wert“ eines Menschen an seinem Status und seiner Leistungsfähigkeit gemessen und die Vorstellung eines in allen Bereichen selbstbestimmt geführten, „erfolgreichen“ und vor allem produktiven Lebens, wurde längst zum erstrebenswerten Ideal. Wer aber an diesem Lebensentwurf nicht festhalten kann, weil er wegen seines Alters oder einer Krankheit seine Leistungsfähigkeit und Selbstständigkeit verliert, wird nicht selten von sich selbst oder der Gesellschaft als nutzlos erachtet. Vor allem dann, wenn ihre Versorgung und Pflege Zeit und Geld kosten, gelten Kranke und Sterbende nicht bloß als unnütz, sondern sie werden als Last für ihre Familien und die Gesellschaft insgesamt empfunden. Die mit dem demografischen Wandel in der Zukunft in noch viel größerer Zahl zu erwartenden Kranken und Pflegebedürftigen, muss eine solche Gesellschaft zwangsläufig als Bedrohung erleben. (…)

In diesem gesellschaftlichen Klima alt oder krank zu werden, macht Angst und tatsächlich führen Alter und Krankheit nicht selten zu innerer und äußerer Vereinsamung. Statt den letzten Lebensabschnitt als wertvolle und intensive Zeit des Abschiednehmens zu nutzen, erleben viele Kranke die zunehmende Abhängigkeit von der Unterstützung anderer und den Verlust von Selbstständigkeit bloß als Ausgeliefertsein und Würdeverlust. Deshalb treffen sie am Lebensende häufig extreme, oft sogar erschreckend falsche Entscheidungen. Sie haben Angst, einer Medizin ausgeliefert zu sein, die sich nur am technisch Machbaren orientiert und angeschlossen an Apparate oder unter Nebenwirkungen sinnloser Behandlungen, ihre Würde zu verlieren. Um dies zu verhindern oder um weder ihren Familien, noch der Gesellschaft zur Last fallen, suchen manche im Nachdenken über (assistierten) Suizid oder Sterbehilfe nach einer Lösung. Umgekehrt gibt es viele Fälle, in denen das Festhalten an unbegründeter Hoffnung auf Heilung tatsächlich zu einer unmenschlichen und wirklich würdenehmenden Übertherapie führt. Vielen erscheint es unmöglich, auf Therapiemaßnahmen zu verzichten oder bereits begonnene zu beenden, auch wenn klar sein müsste, dass sie längst mehr schaden, als helfen.

Fachleute betonen, dass dringend ein Wandel im Verständnis von Heilkunde, sowohl bei Ärzten, als auch in der breiten Öffentlichkeit notwendig sei. Sie hoffen, dass die frühe Integration von Palliativmedizin in alle Bereiche der Medizin gleichermaßen vor Würdeverlust, Suizidwünschen und Übertherapie schützen könnte. Zudem muss die Gesellschaft wieder lernen, dass selbstverständlich auch ein Mensch in größter Pflegebedürftigkeit „wertvoll“ ist, allein weil er Mensch ist.

Mindestens so wichtig, wenn nicht noch wichtiger, als der geforderte Dialog zwischen Experten verschiedener Fachdisziplinen auf dem Weg zu diesem Wertewandel, ist der Austausch und die Kooperation zwischen Kranken, Familien, Ärzten, Pflegekräften, professionellen und ehrenamtlichen Helfern im jeweils konkreten Einzelfall. Für Menschen, die sich religiös oder spirituell im Judentum verorten, gehören auch Gemeindemitglieder aus den Bikkur Cholim Gruppen und Rabbiner zu wichtigen Partnern in diesem Dialog.

Verblüffend ist, dass die jahrhundertealte Tradition des בקור חולים (Bikkur Cholim = Krankenbesuch) und das traditionelle jüdische Verständnis von den Verpflichtungen des Arztes schon längst alle Prinzipien und Grundhaltungen der Palliativmedizin enthalten, die als etwas scheinbar ganz neues und subversives in den letzten Jahrzehnten „erfunden“ wurden und deren Integration in die Behandlung Schwerkranker und Sterbender unser Gesundheitswesen aus den oben geschilderten Fehlentwicklungen herausführen soll. Damit hat der traditionelle jüdische Krankenbesuch auch und gerade in unserer Zeit einen sehr hohen, leider aber unterschätzten oder gar nicht erst erkannten Stellenwert. Er stellt ein effektives Gegengewicht zu antisolidarischen Tendenzen im Umgang mit den Schwächsten in unserer Gesellschaft dar. Es lohnt sich unbedingt, Ehrenamtliche aus den Bikkur Cholim Gruppen der Gemeinden enger mit Ärzten und Pflegekräften ins Gespräch zu bringen, damit sie gegenseitig von einander lernen und die so dringend notwendige Zusammenarbeit auf den Weg bringen. Bikkur Cholim als מצוה (Mizwa = religiöse Pflicht/Gebot), die von der ganzen Gemeinde erfüllt wird, ist ein wunderbares und deutliches Signal, dass das Judentum Alte, Kranke und Hinfällige nicht an den Rand drängt, sondern sie in die Gemeinschaft integriert. Darüberhinaus ist die sehr achtsame Grundhaltung, mit der das religiöse Gebot des Krankenbesuches erfüllt wird, ein guter Weg, die Kranken durch die ihnen zuteil werdende Zuwendung besser zu verstehen und sie damit zur authentischen Selbstbestimmung zu befähigen. Die Begleitung auf diesem Weg erhält die Würde des Kranken und hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dies gibt auch den Tagen der Krankheit Wert und Sinn.

BIKKUR CHOLIM ALS SELBSTBESTIMMUNGSERMÖGLICHENDE SORGE

Autonomie und zwischenmenschliche Gebundenheit sind im Judentum wesentliche und sich keineswegs ausschließende Leitprinzipien. Der Mensch kann aus freien Stücken Erwägungen anstellen, Entscheidungen treffen und sich mit seinen Mitmenschen über die Gründe seiner Entscheidung austauschen. Diese Fähigkeit, verantwortlich Entscheidungen zu treffen, macht den Menschen überhaupt erst zu einem moralfähigen Lebewesen. Juden orientieren sich in ihren moralischen Entscheidungen an der ההלכ (Halacha = jüdisches Religionsgesetz), die für die einen autoritativ und strikt gilt, für andere eher eine allgemeine Grundlage für die zu treffenden Entscheidungen darstellt. All dies gilt ohne Unterschied für gesunde, junge, alte, behinderte oder kranke Menschen. Trotzdem ist es für Menschen, die durch Alter oder Krankheit vielfältige Funktionsverluste und Belastungen hinnehmen müssen, nicht immer einfach, diese Autonomie zu realisieren. Autonomie in Krankheit und Alter zu bewahren heißt, seinem Lebensentwurf getreu weiter zu leben – nicht nur am Leben zu bleiben, sondern vor allem im Leben zu bleiben.

Die Gefahr, mit dem Selbstbestimmungsrecht aber alleine gelassen zu werden und Entscheidungen zu treffen, die nur scheinbar authentisch sind, ist groß. Gar nicht selten treffen Menschen „autonome“ Entscheidungen, die aber ganz und gar nicht ihren wirklichen Wünschen entsprechen. Sie treffen „anderen zuliebe“ Entscheidungen, um niemandem zur Last zu fallen oder niemanden zu enttäuschen. Eine gelingende Kommunikation kann helfen, die wirklichen Wünsche und die konkrete Situation mit ihren realistischen Perspektiven sowie Art und Tragweite von Entscheidungen richtig zu erfassen. Nur dann sind stimmige Entscheidungen erst möglich. Fürsorge muss nicht, wie oft unterstellt wird, die Autonomie dessen, der die Fürsorge erfährt, verletzen. Wenn Fürsorge nämlich Zuwendung und Unterstützung bedeutet, so, wie es im Bikkur Cholim geschieht, ist sie „selbstbestimmungsermöglichende (Für-) Sorge“. Sie ist eine Hilfe, die die Individualität und das Wertesystem des Gegenübers wahrnimmt und damit authentische Autonomie wahrt bzw. überhaupt erst ermöglicht.

Nicht nur aus der klassischen rabbinischen Literatur, sondern besonders auch von Martin Buber und Emmanuel Lévinas können wir vieles über zwischenmenschliche Gebundenheit, Beziehung und Begegnung lernen, was für eine „selbstbestimmungsermöglichende Sorge“ von großer Bedeutung ist. Grundlage für gelingende Kommunikation und ein verstehendes Begleiten Kranker ist die unmittelbare Begegnung mit dem Kranken. Buber sprach von Begegnungen ohne Mittel. Das Mittel (das mitgebrachte Konzept oder der vorgegebene Zweck) ist für ihn „nur Hindernis“. Wir müssen den Kranken zuallererst frei von Vorkonzepten, Zielvereinbarungen, bedingenden Begrifflichkeiten oder mitgebrachten Antworten begegnen. Im Talmud werden sehr konkrete Anleitungen zur Vermeidung jedes Übergriffigen schon in Vorgaben für die nonverbale Kommunikation beim Krankenbesuch gegeben. Damit sind diese Anweisungen viel viel mehr, als bloß „Anstandsregeln“. Die verbindlichen Empfehlungen, dass jeder, der einen Kranken besucht, sich einhülle und mit dem Kranken auf Augenhöhe sitzen müsse, aber ausdrücklich nicht auf dessen Bett, einem hohen Stuhl oder sonst erhöht sitzen oder stehen dürfe, haben viel bildhaft-spirituelles. Das Einhüllen (seiner eigenen mitgebrachten Ansichten und Empfehlungen) sowie die Begegnung auf Augenhöhe bilden sehr das richtige Setting für eine Zuwendung, in der es zunächst darum geht, zuzuhören und den Kranken zu verstehen. Es ist aber nicht bloß Setting, sondern es teilt selbst schon vieles mit und man begreift, was damit gemeint ist, wenn nonverbale Kommunikation die Sprache der Seele genannt wird. (…)

MAN MUSS NICHT RELIGIÖS SEIN, UM SPIRITUELLE BEDÜRFNISSE ZU HABEN

Versteht man unter Spiritualität etwas, wie die individuelle Beziehung eines Menschen zu dem tragenden Grund seines Lebens, die „Essenz“ seiner Persönlichkeit oder das, was seinen ganz eigenen Lebensentwurf prägt, seinem Leben Sinn verleiht und vielleicht sogar eine Verbindung zur Unendlichkeit herstellen kann, wird deutlich, dass viele Menschen spirituell sind, ohne unbedingt religiös sein zu müssen. Fragen wie „Wozu bin ich eigentlich auf dieser Welt?“, „Was ist meine Aufgabe in meinem Leben gewesen?“ oder „Was kommt nach dem Tod?“ kommen am Lebensende (wieder) auf und weisen als spirituelle Fragen gewissermaßen über die eigene Person hinaus. Chassidische Geschichten erzählen uns viel von der Spiritualität in den kleinen Dingen und Gesten des Alltags, die zu etwas ganz intensivem werden können, erkennt man erst die in ihnen liegende spirituelle Dimension.

Die spirituelle Begleitung von Kranken ist ein ganz wichtiger (aber für den Kranken nicht zwangsläufig religiöser) Aspekt von Bikkur Cholim. Betreuende müssen genau wissen, was die spirituellen Bedürfnisse des Kranken sind und wie sie diese erkennen. Spirituelle Bedürfnisse zu entdecken und Kranke spirituell zu begleiten, baut Beziehungen auf, in denen sich Menschen geborgen und aufgehoben fühlen. Oftmals öffnet sich den Kranken, regelmäßig aber auch den Besuchern, eine Tür zu sehr intensiven Erfahrungen. Auch in der Begleitung Demenzkranker spielt die spirituelle Begleitung eine große und zunehmend erkannte Rolle. Wichtig ist in jedem Fall, dass sich die spirituelle Begleitung am Kranken und seinen Konzepten orientiert. Voraussetzung dafür ist, dass der Betreuende seine eigene Spiritualität entdeckt. Er muss sie von den spirituellen Bedürfnissen des Kranken unterscheiden und wenn nötig, trennen können. Das heißt, er muss sich klar darüber werden, mit welcher Grundhaltung er Kranke und Angehörige begleitet und wie er für sich selbst das bevorstehende Sterben des Kranken, aber auch die Endlichkeit des eigenen Lebens anerkennen kann. Schließlich hilft so die eigene Spiritualität den Mitgliedern der Bikkur Cholim Gruppe dabei, die Grenzen des Machbaren zu akzeptieren und mit Krankheit, Sterben und Tod „Frieden zu schließen“. Durch die sie tragende Grundhaltung stellt Spiritualität also eine wertvolle Ressource für Vertrauen, Kommunikation und Selfcare dar. Damit schafft lebendige Spiritualität lebendige Beziehungen oder anders formuliert: Spiritualität füllt die Beziehung zwischen Krankem und Betreuenden mit Leben.

Die spirituelle Begleitung wird vor allem durch die persönliche Begegnung und persönliche Beziehung getragen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die unter halachischen Autoritäten diskutierte Frage, ob ein Telefonat oder ein Kontakt über Skype, FaceTime, WhatsApp und andere technische Möglichkeiten unserer Zeit, den persönlichen Besuch beim Bikkur Cholim gleichwertig ersetzen können. Eine sehr sympathische und zugleich sehr spirituelle Antwort gibt Rabbiner Mordechai Breisch auf diese Frage. Für ihn erfüllt nur der persönliche Besuch beim Kranken die Mizwa, denn die שכינה (Schechina = Präsenz des Göttlichen), die über dem Kopf des Kranken wacht, kann nur in der unmittelbaren Anwesenheit beim Kranken erfahren werden. Auch Rabbi Moshe Feinstein und Rabbi Ovadiah Yosef betonten die spirituelle Kraft der persönlichen Anwesenheit beim Kranken.

WER SOLL BESTIMMEN, WAS GESCHIEHT ?

Die Erfüllung der Mizwa des Bikkur Cholim beinhaltet also das Sorgen für den Kranken und die Sorge um seine physischen, psychosozialen und spirituellen Nöte. Ausdrücklich wird in der Sorge um die spirituellen Nöte oder Bedürfnisse traditionell auch nahegelegt, den Kranken zur תשובה (Teschuwa = Umkehr) und inneren Einsicht zu lenken oder zu „inspirieren“. Im jüdischen Pragmatismus ging dies stets über das rein Spirituelle hinaus und es wurde immer auch zum Regeln der weltlichen Dinge angehalten. Das Thema „Advance Care Planning“ ist also ebenfalls ein Thema, das in der jüdischen Tradition schon seit jeher einen festen Platz hat und das sich ganz logisch und oft „von alleine“  aus der würdestabilisierenden und spirituellen Zuwendung im Bikkur Cholim ergibt. Oftmals werden aktuelle Lebenssituation und Wertmaßstäbe in der Begleitung so deutlich, dass die Kranken in sich das Bedürfnis entdecken, die Dinge zu regeln, die am Lebensende zu regeln sind. Aus Sorge, anderen ausgeliefert zu sein, die ihre Wertmaßstäbe gar nicht kennen, möchten viele Kranke und Alte  vorausschauend regeln, wer entscheiden und wie in bestimmten Situationen vorgegangen werden soll, wenn sie selbst durch krankheitsbedingte Einschränkungen oder Bewusstseinsverluste nicht mehr bestimmen können. In den USA ist schon vor längerem erkannt worden, dass es bei der Erstellung von Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten einer dialogischen Begleitung bedarf und es viel antizipierende Kommunikation braucht, wenn Patientenverfügungen und Bevollmächtigungen das einhalten sollen, was von ihnen erwartet wird. Es ist wichtig, dass die Kranken in einem längeren und gut begleiteten Entscheidungsprozess Wünsche und Ansichten formulieren können, die ihnen und ihrem Umfeld letztlich die Frage beantworten, wie und wo sie sterben möchten. Oft besteht die Sorge, dass es dem Kranken Hoffnung nehmen und schädlich sein könnte, wenn ihn seine Begleiter in dieses Themenfeld führen. Tatsächlich muss dies behutsam und mit dem schon erwähnten Fingerspitzengefühl geschehen. Dann kann es aber ein sehr wertvolles Nachdenken in Gang setzen und viel inneren und äußeren Frieden mit sich bringen. Die Begleiter aus Bikkur Cholim Gruppen können den Patienten in ihrer Funktion als Vertrauenspersonen eine große Stütze sein, wenn diese zusammen mit ihren Zugehörigen und Ärzten über Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachen nachdenken. Natürlich setzt dies unbedingt voraus, dass die Bikkur Cholim Begleiter auch auf dieses Thema mit all seinen möglichen Konfliktfeldern gut vorbereitet und geschult wurden.

Rabbiner Avraham Danzig (1748-1820) schrieb ganz in diesem Sinne in seiner bis heute bedeutsamen halachischen Schrift Chochmat Adam darüber, wie man beim „Inspirieren zum Advance Care Planning“ achtsam vorgeht, also ohne dem Kranken damit Hoffnung zu nehmen oder ihn in ein fatalistisches Aufgeben zu stürzen. Er stellte fest, dass es in vielen Gemeinden, vor allem aber in der jüdischen Gemeinde Berlin üblich sei, dass immer am dritten Tag nach Bekanntwerden eines Krankheitsfalles ein Vertreter der Bikkur Cholim Gruppe den Kranken erstmals besuche. Dieser leite die Krankenbesuche stets mit der Begrüßungsformel ein, dass man dem im Talmud überlieferten Auftrag nachkomme und jeden Kranken am dritten Tag seiner Krankheit besuche. Dies mache man ausdrücklich bei jedem Kranken so und deshalb sei der Besuch kein Zeichen dafür, dass es besonders kritisch um den Kranken stünde. Auch halte man bei den Besuchen ausdrücklich jeden dazu an, seine Dinge zu regeln und das וידוי (Widduj = Sündenbekenntnis) zu sagen, ohne dass dies sogleich bedeuten müsse, dass man mit dessen unmittelbar bevorstehendem Tode rechne.  

Wenn aber wirklich mit dem baldigen Versterben zu rechnen sei, empfiehlt Rabbi Danzig, dass sich die Besucher um den Kranken versammeln und ihm klar machen, dass es nun dringend notwendig sei, das Widduj zu sagen. Man müsse dabei jedoch darauf gefasst sein, dass dies den Kranken beängstigen könne. Um dem Kranken also nicht zu schaden, sollen sie ihn immer daran erinnern, dass schon viele das Widduj gesagt haben und trotzdem nicht gestorben sind. Aber es seien umgekehrt schon viele gestorben, ohne das Widduj gesagt zu haben, was sicher ein Übel sei. Man hoffe in jedem Fall, dass das Widduj-Sagen dem singulären Kranken mit Gesundung vergolten werde.

Je abstrakter und entfernter der Tod zu sein scheint, desto unbefangener lässt sich über Vorstellungen und Wünsche vom eigenen Tod sprechen. Für viele ist es in der allerletzten Lebensphase tatsächlich zu spät und kann unter Umständen wirklich mehr schaden als helfen. Aus Rabbi Danzigs Ausführungen im Chomat Adam dürfen wir den Auftrag ableiten, dass man sich früh mit der eigenen Endlichkeit und der notwendigen Vorsorge befassen soll und dass an den Themen Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht nichts anstößig ist.

Stephan M. Probst (Hg.), Die Begleitung Kranker und Sterbender im Judentum. Bikkur Cholim, jüdische Seelsorge und das jüdische Verständnis von Medizin und Pflege, Hentrich & Hentrich Verlag 2017, 272 S., Euro 19,90, Bestellen?