„Nächstes Jahr in Jerusalem“

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Auf der Überfahrt nach Erez Israel feierten Shoa-Überlebende 1947 an Bord der „Providence“ den Sederabend…

Von Jim G. Tobias
Zuerst erschienen in: tachles – das jüdische Wochenmagazin, 7. April 2017

„Hier riecht es nach Leichen, nach Gaskammern und Folterzellen“, schrieb 1946 der Journalist Robert Weltsch in der jüdischen Emigrantenzeitung „Mitteilungsblatt – MB“ „Wir können nicht annehmen, dass es Juden gibt, die sich nach Deutschland hingezogen fühlen.“ Und doch lebten in der unmittelbaren Nachkriegszeit rund 200.000 zumeist polnische Juden in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Sie waren Befreite aus den NS-Lagern, hatten im Untergrund, bei den Partisanen oder im sowjetischen Exil überlebt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren sie in ihre polnische Heimat zurückgekehrt, wo ihnen Ablehnung und dumpfer Hass entgegenschlugen. Es kam zu einer panischen Flucht in das besetzte Deutschland. Gleichwohl war es für die meisten Shoa-Überlebenden undenkbar im Land der Mörder zu bleiben. Viele wollten nach Palästina, um dort den jüdischen Staat aufzubauen. Aber die englische Mandatsmacht verhinderte eine Masseneinwanderung ins Gelobte Land – sie gewährte nur eine Jahresquote von 1.500 Personen. Daher waren die Juden gezwungen, einige Jahre in den zahlreichen Auffanglagern, den sogenannten Displaced Persons (DP) Camps, auszuharren, wie sie etwa in Belsen, Föhrenwald, Landsberg oder Frankfurt-Zeilsheim nachweisbar sind.

Das größte jüdische DP-Lager entstand in Nachbarschaft des vormaligen KZ Bergen-Belsen, in dem zeitweise über 10.000 Juden lebten. Immer wieder forderten die Bewohner vehement die freie Einreise nach Erez Israel und protestierten gegen die restriktive Einwanderungspolitik der britischen Regierung. Zahlreiche Juden machten sich auch ohne Erlaubnis auf den Weg übers Mittelmeer. Doch nur Wenige schafften es, die meisten ihrer Schiffe wurden abgefangen und die Passagiere auf der Insel Zypern interniert.

Um den politischen Druck etwas zu mindern, gestatteten die Briten ab Ende 1946 einigen unbegleiteten Kindern die Übersiedlung nach Palästina, später wurde das Programm, das unter dem Namen „Operation Grand National“ in die Geschichtsbücher einging, auf Erwachsene ausgeweitet. Von den 1.500 monatlichen Einwanderungszertifikaten wurden nun 375 für jüdische DPs aus der britischen Besatzungszone reserviert. Im Camp Belsen wurde die Nachricht mit Freude aufgenommen: „Heute noch in Deutschland, morgen in der erez-israelischen goldenen Sonnenglut, die über Dörfer und Städte erstrahlt“, textete poetisch ein Journalist der DP-Zeitung „Undzer Sztime“.

Auschwitz-Überlebende im DP-Camp Bocholt, Foto: © Sammlung Hans Berben, LVR-Zentrum für Medien und Bildung

Die wenigen Glücklichen, die ein Zertifikat erhielten, wurden mit dem Zug nach Bocholt gebracht. Dort, gleich an der deutsch-niederländischen Grenze, befand sich in einem ehemaligen NS-Lager ein Camp für baltische DPs. Aufgrund seiner verkehrsgünstigen Lage errichtete die Militärregierung auf einem Teil des Geländes das „Palestine Transit Camp“. Drei Barackenblöcke, in denen bis zu 600 Menschen untergebracht werden konnten, und ein großer Speisesaal standen für die zukünftigen Palästinasiedler bereit. Ein viertes Gebäude beherbergte die koschere Küche und das Vorratslager. Anfänglich waren insbesondere die Massenunterkünfte in einem sehr schlechten Zustand. Um ein bisschen Privatheit zu ermöglichen, hängte man Decken als Raumteiler auf. Nur Familien mit Kleinkindern erhielten eine bessere Unterbringung; Zimmer, wo die Mütter auch die Möglichkeit hatten, das Essen für ihre Kinder aufzuwärmen. Die Versorgung und Betreuung erfolgte durch die UN-Hilfsorganisation UNRRA, Vertreter der englischen Jewish Relief Unit, den US-amerikanischen Joint und der Jewish Agency. Aber auch Vertreter der neugegründeten Jüdischen Gemeinden, wie etwa Karl Marx aus Düsseldorf, standen mit Rat und Tat den Auswanderern zur Seite. In Zusammenarbeit mit den internationalen Hilfsorganisationen und den britischen Behörden wurden die nötigen Papiere ausgestellt, wie Identitätsdokumente, Einreisegenehmigungen und die Transitvisa für die Weiterfahrt nach Marseille.

Stolz posieren die jüdischen Mütter im DP-Camp Bocholt mit ihren Kindern, Foto: © Sammlung Hans Berben, LVR-Zentrum für Medien und Bildung

Die erste Gruppe aus dem DP-Camp Belsen erreichte Bocholt am 13. März 1947, eine weitere kam eine Woche später. Insgesamt zählte dieser Transport 396 Männer, Frauen und Kinder. Die meisten von ihnen waren Mitglieder verschiedener Kibbuzim, Jugendliche und junge Erwachsene, die es kaum erwarten konnten, endlich das Land ihrer Träume zu betreten. Sie verkürzten sich die Wartezeit mit dem Studium ihrer neuen Muttersprache, sangen hebräische Lieder und informierten sich über Geografie, Kultur und Politik in Erez Israel. In der Nacht vom 31. März auf den 1. April konnte fast niemand vor Aufregung ein Auge zutun. Denn am nächsten Tag sollte die Reise losgehen. Als der Zug am frühen Morgen die Bahnstation in Richtung Frankreich verließ, sangen die Menschen voller Inbrunst die Hatikwa, das Lied der zionistischen Bewegung, das später die Nationalhymne des Staates Israel werden sollte.

In Marseille wartete die „Providence“ auf den, im Rahmen der „Operation Grand National“ durchgeführten, ersten legalen Transport nach Erez Israel. Am Vorabend des Pessachfestes 5707, dem 4. April 1947, bestiegen die Menschen voller Vorfreude das Schiff – endlich hatten sie die letzte Etappe ihrer Reise erreicht. Als die Nacht einbrach und das Schiff den Anker lichtete, feierten die Shoa-Überlebenden den traditionellen Sederabend. Unter der Flagge mit dem Davidstern tanzten die Passagiere Hora, das Schiffsdeck war mit den Fahnen der verschiedenen zionistischen Organisationen geschmückt – von Betar bis Haschomer Hazair. Dann versammelten sich alle zum Sedermahl, lasen die Haggada, aßen die vorgeschriebenen Speisen und erinnerten sich damit an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Diese Zeremonie wurde unterschiedlich durchgeführt, einmal in der strikt religiös-traditionellen Form und ein weiteres Mal in der von den Kibbuzniks favorisierten modernen Ausgestaltung. Zum Ende der Feier wünschten sich jedoch alle Anwesenden ein vielstimmiges „Leschana haba’ah be Jeruschalaim“ – Nächstes Jahr in Jerusalem, und dieser Wunsch sollte bald in Erfüllung gehen.

Rund vier Wochen später verließ der nächste Transport mit 260 Personen das „Palestine Transit Camp“ in Bocholt. Erneut waren es DPs aus dem Lager Belsen. Von der dritten Reisegruppe, die sich am 21. Mai 1947 mit 298 Juden aus den Camps in Neustadt, Lübeck und dem Kinderzentrum in Hamburg-Blankenese auf den Weg machte, ist ein Augenzeugenbericht überliefert. Darin schildert eine Frau eindrücklich ihre Gefühle, als der Dampfer im Hafen von Marseille die Anker lichtet. „Es ist immer ein bewegender Anblick, wenn ein Schiff den Hafen verlässt, umso mehr, wenn es sich um unsere Leute handelt, die zu einem neuen Leben aufbrechen“, schreibt sie. „Die Freude darüber, endlich den Staub Deutschlands von ihren Füßen abzuschütteln, ist deutlich auf ihren Gesichtern abzulesen.“

Nach Gründung des Staates Israel im Mai 1948 stellten die Briten „Operation Grand National“ ein. Tausenden wurde durch dieses Programm die legale Einreise nach Palästina ermöglicht.

Die Fotosammlung von Hans Berben lag jahrzehntelang unbeachtet im Archiv. Darunter auch die verwendeten Abbildungen und andere Fotos, z. B. aus dem DP-Camp Belsen, über die Internierung der Exodus-Passagiere und den Neubeginn der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Letztes Jahr wurden diese einzigartigen Fotos erstmals in einer Ausstellung gezeigt.

Ein großformatiger, mit Hintergrundtexten ergänzter Bildband ist im Droste Verlag erschienen: Hildegard Jakobs/Peter Henkel (Hg.), Neues Land. Hans Berben, Fotografien 1946-1951, Düsseldorf 2016, 192 Seiten, 29,80 €.

Bild oben: Eingang zum DP-Camp Bocholt, Foto: © Sammlung Hans Berben, LVR-Zentrum für Medien und Bildung